# taz.de -- Überlastete Sozialämter: „Das ist totaler Unsinn“ | |
> Berlins Sozialämter arbeiten überm Limit. Neuköllns Sozialstadtrat Hannes | |
> Rehfeldt erklärt, warum, was hilft – und was das mit Papierakten zu tun | |
> hat. | |
Bild: Im 21. Jahrhundert kaum zu blauben, aber die Papierakte gibt es immer noc… | |
taz: Herr Rehfeldt, Sie haben zusammen mit den anderen elf | |
Bezirksstadträten für Soziales einen „Brandbrief“ an den Senat geschriebe… | |
weil die Sozialämter so überlastet sind, dass manche Menschen Monate auf | |
ihre Leistungen warten müssen. Woran genau hapert es? | |
Hannes Rehfeldt: Es ist ein Mix aus vielen Dingen. Einmal die vielen neuen | |
Fälle aufgrund des Ukrainekrieges. Dann haben wir einen Anstieg der | |
Fallzahlen im Bereich der Grundsicherung und bei der Hilfe zur Pflege. Dazu | |
kommen die ganzen Asylthemen. Wir haben es auch insgesamt mit einer | |
komplexer werdenden Sachbearbeitung zu tun, mit sich immer wieder ändernden | |
rechtlichen Rahmenbedingungen. Dazu kommt eine hohe Personalfluktuation | |
aufgrund von Arbeitsbedingungen, die nicht optimal sind. | |
taz: Wie hoch ist bei Ihnen die Fallzahl pro Mitarbeiter? | |
Rehfeldt: Selbst wenn alle da wären, müsste bei uns jeder Mitarbeiter in | |
Vollzeit circa 270 Akten betreuen. In der Spitze, und das ist gar nicht mal | |
so selten, hat ein Sachbearbeiter auch mal über 500 Akten. Letztens hatten | |
wir einen Fall, da mussten zwei Mitarbeiter mit 1.800 Akten arbeiten. Was | |
sie natürlich nicht schaffen. | |
taz: Was bedeutet „in der Spitze“? | |
Rehfeldt: Wenn jemand Urlaub hat oder krank ist, müssen andere Mitarbeiter | |
die Akten übernehmen. In Neukölln gelingt es zwar meist, alle Stellen zu | |
besetzen, das ist nicht in allen Bezirken so. Aber die hohe Fluktuation, | |
verbunden mit langen Besetzungsverfahren, führt zu langen Lücken in der | |
Stellenbesetzung. Mit einem halben Jahr muss man rechnen, allein die | |
Beteiligung der Beschäftigtenvertretung dauert zwölf Wochen pro | |
Ausschreibung. | |
taz: Wie muss man sich das vorstellen, wenn zwei Leute 1.800 Akten zu | |
bearbeiten haben? | |
Rehfeldt: Sie sind für die Menschen hinter den Akten zuständig – für jede | |
Vorsprache, die kommt. Weil die Leistungsberechtigten zu Recht einen | |
Anspruch haben, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Die Mitarbeiter | |
müssen im Zweifel jede Akte anfassen, wenn die Leistungsberechtigten eine | |
Nebenkostenabrechnung einreichen oder die Versicherung teurer geworden ist | |
oder einfach nur eine Frage haben. Das geht schon bei 300 Akten nicht, bei | |
1.800 gleich gar nicht. | |
taz: Was ginge denn? | |
Rehfeldt: Die Sozialamtsleiter haben berechnet, dass ein Schlüssel von | |
1:188 in der Grundsicherung eine gute Sachbearbeitung ermöglicht. | |
taz: Dass also ein Sachbearbeiter 188 Fälle betreut? | |
Rehfeldt: Genau. Dann kann man auch Vertretungen regeln, und wenn mal | |
jemand ungeplant ausfällt, ist das steuerbar. Aber aktuell ist es so, dass | |
wir von einer hohen Basis ausgehen und Vertretungen noch oben drauf kommen. | |
Im Zweifel muss man nicht nur einen vertreten, sondern auch die Vertretung | |
der Vertretung. Als ich vor zwei Jahren das Amt übernahm, saßen mir | |
Kollegen gegenüber, die das seit vielen Jahren machen, sie sagten mit | |
Tränen in den Augen: „Ich kann nicht mehr.“ Das sagt schon viel. Die sind | |
nicht weinerlich, die machen auch unter schwierigen Rahmenbedingungen einen | |
guten Job. Aber es wird immer schwieriger für sie. Jeder kommt irgendwann | |
an seine Grenzen. Zudem gibt es inzwischen beinahe wöchentlich Übergriffe | |
gegen meine Kolleginnen und Kollegen. | |
taz: Von Kunden? | |
Rehfeldt: Von Kunden, die verzweifelt sind oder psychisch krank oder in | |
einer Ausnahmesituation. Das geht von Beleidigungen bis hin zu | |
Tätlichkeiten. Es geht um Sätze wie: „Ich weiß, wann du Feierabend hast. | |
Ich warte vor der Tür.“ Das ist natürlich belastend. Trotzdem machen sie | |
den Job, denn sie wollen den Menschen helfen. Und das Bezirksamt tut sein | |
Bestes, unsere Leute auch zu schützen. Nicht umsonst haben wir einen | |
Wachschutz im Amt für Soziales. | |
taz: Laut dem Brandbrief gibt es in manchen Bezirken – Pankow, Mitte und | |
Charlottenburg-Wilmersdorf – aber auch Bearbeitungszeiten von bis zu sechs | |
Monaten. Das heißt, Betroffene müssen ein halbes Jahr auf ihre Leistungen | |
warten. | |
Rehfeldt: Ja, das kommt vor. Besonders im Bereich Hilfe zur Pflege kann es | |
manchmal dauern – auch weil Unterlagen fehlen oder nicht rechtzeitig | |
abgegeben werden. Dann landet ein Fall wieder unten im Stapel. | |
taz: Wie viele Mitarbeiter hat denn das Neuköllner Sozialamt zurzeit? Und | |
wie viele bräuchten Sie? | |
Rehfeldt: Die Gesamtzahl bisher ist 151 über alle Bereiche des Amts für | |
Soziales, knapp 140 davon sind in der Sachbearbeitung. Wir bräuchten | |
zusätzlich ungefähr 52 Vollzeitäquivalente, um eine Fallrate zu erreichen, | |
die verträglich ist. Alle Amtsleiter haben ihren Bedarf jeweils nach | |
einheitlichem Muster ausgerechnet, übrigens nicht Pi mal Daumen, sondern | |
jeder hat geguckt, welche Arbeiten fallen an, was muss man abziehen wegen | |
Krankheit, Urlaub, Weiterbildung. Über alle Bezirke hinweg kommt so die | |
enorme Zahl von 673 Vollzeitstellen zusammen. | |
taz: Nichts für ungut, aber wo sollen die herkommen? | |
Rehfeldt: Dass wir die nicht bekommen, ist schon klar. Aber wir müssen uns | |
endlich in eine Richtung bewegen, die die enorme Belastung der Kolleginnen | |
und Kollegen in den Ämtern anerkennt. Wenn die zusammenbrechen, leiden die | |
Schwächsten unserer Stadt darunter. | |
taz: Was ist aus den zusätzlichen Stellen geworden, die den | |
Sozialstadträten 2024 vom Senat zugesagt wurden? | |
Rehfeldt: Die 155 Stellen, die seit der Fluchtbewegung aus der Ukraine zur | |
Verfügung gestellt wurden, sind nur befristet – sogenannte | |
Beschäftigungspositionen, kurz: BePos. Sie wurden in den vergangenen Jahren | |
immer wieder verlängert, mal um ein paar Monate, zuletzt bis Ende 2025. | |
Jetzt sind wir wieder in der Diskussion, was mit ihnen passiert. Das sind | |
keine tragfähigen Strukturen. | |
taz: Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie in Neukölln wenigstens einen Teil | |
der nötigen 52 Vollzeitstellen bekommen? | |
Rehfeldt: Es gibt zurzeit im Rahmen der gesamtstädtischen | |
Zielvereinbarungen zwischen Land und Bezirken nochmal eine | |
Personalbedarfsermittlung, um zu schauen, wie viele wir wirklich brauchen. | |
Das kann auch weniger sein als das, was die Amtsleiter ausgerechnet haben. | |
In jedem Fall ist es aber mehr als null. Die Zielvereinbarung soll Ende des | |
Jahres fertig sein. Das Problem ist nur: Das ist zu spät für den nächsten | |
Doppelhaushalt, der jetzt gerade verhandelt wird. Darum wollen wir, dass | |
Vorsorge getroffen wird. Unser zusätzlicher Bedarf muss jetzt schon im | |
Haushalt drinstehen, zumindest als Platzhalter. Als Minimum verlangen wir, | |
dass die BePos entfristet werden. | |
taz: Wie viele sind das? | |
Rehfeldt: In Neukölln hatten wir ursprünglich 10,5 Stellen seit 2022. Bei | |
der letzten Verlängerung der BePos, das war 2024 bis Ende 2025, wurden aber | |
nur die tatsächlich besetzten verlängert. Das sind sechs in meinem Amt. Die | |
anderen konnten wir nicht besetzen – eben weil sie befristet sind. Eine | |
Ausschreibung dauert ein halbes Jahr. Und die, die da sind, müssen sich | |
drei Monate, bevor der Vertrag ausläuft, beim Jobcenter wieder | |
arbeitssuchend melden. Wer will schon alle paar Monate um seinen Job | |
bangen? | |
taz: Aber der Senat wird sagen: Irgendwann ist der Ukrainekrieg vorbei, | |
dann gehen die meisten Flüchtlinge zurück, dann brauchen wir die Jobs nicht | |
mehr. | |
Rehfeldt: Ich würde mich auch freuen, wenn der Krieg vorbei ist und die | |
Menschen in ihre Heimat zurück können. Allerdings hat sich damit der Bedarf | |
in den Sozialämtern nicht erledigt. Die Gefahr, dass wir bald zu viele | |
Mitarbeiter haben, besteht nicht. Die geburtenstarken Jahrgänge kommen | |
jetzt ins Rentenalter, also auch ins Alter der Grundsicherung und in | |
pflegebedürftiges Alter. Daher erwarten wir einen Fallzahlenanstieg. Das | |
sagt auch die Senatsfinanzverwaltung und gibt uns mehr Mittel für | |
Geldleistungen an Betroffene. Nur zieht sie daraus bisher keine | |
Konsequenzen in der Personalausstattung. Wir bekommen also mehr Geld, aber | |
kein Personal, das es auszahlen kann. | |
taz: Gerade wurde bekannt, dass die Digitalisierung der Sozialämter | |
gescheitert ist. Überrascht? | |
Rehfeldt: Wir warten händeringend auf die Digitalisierung. Aber dieses | |
Sozialhilfeportal, das jetzt wegen technischer Probleme nach sechs Jahren | |
und über sechs Millionen Euro Kosten aufgegeben wurde, war in dieser Form | |
ungeeignet. Was wir brauchen, ist eine umfassende digitale | |
Bearbeitungsmöglichkeit, kurz: die digitale Akte. Was in der Praxis vom | |
Sozialhilfeportal in den Bezirken angekommen ist, bietet die Möglichkeit, | |
Anträge online zu stellen. Das ist schön für die Bürgerinnen und Bürger. | |
Nur brauchen wir darüber hinaus auch einen Effizienzgewinn – und den haben | |
wir nicht. | |
taz: Wieso nicht? | |
Rehfeldt: Weil für den kleinen Teil, der digital beantragt werden kann, | |
keine Schnittstelle ins Fachverfahren ermöglicht wurde. Also werden die | |
Anträge, die digital eingehen, von uns ausgedruckt und händisch bearbeitet. | |
Das ist totaler Unsinn und maximal frustrierend. | |
taz: Wie sähe eine Digitalisierung aus, die Ihnen hilft? | |
Rehfeldt: Vor allem muss sie eine digitale Sachbearbeitung von Anfang bis | |
Ende ermöglichen. | |
taz: Dieser Schritt kann doch eigentlich nicht so schwierig sein. | |
Rehfeldt: Berlin hat die Eigenart, immer alles selber entwickeln zu wollen, | |
damit es 100 Prozent zu dem passt, was man möchte. Anstatt bestehende | |
digitale Lösungen zu übernehmen und vielleicht ein paar Abstriche zu | |
machen. Dann kommen während der Entwicklung immer noch neue Anforderungen | |
dazu, so war es auch beim Sozialhilfeportal. Wenn wir dagegen in die | |
Jobcenter gucken, die sind komplett durchdigitalisiert, da funktioniert das | |
gut. Die bedienen sich an dem, was die Bundesverwaltung bietet. Und da ist | |
es eben bundesweit einheitlich, während in Berlin sogar zwischen den | |
Bezirken ganz unterschiedliche IT-Strukturen bestehen. | |
Das zu vereinheitlichen, ist ein weiter Weg, den der Senat aber | |
eingeschlagen hat. | |
9 Jul 2025 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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