# taz.de -- Proteste gegen Hartz IV im Sommer 2004: Der verlorene Kampf gegen H… | |
> Vor 20 Jahren gingen im Osten Tausende Menschen auf die Straße. 20 Jahre | |
> später heißt das Gesetz Bürgergeld – doch die Kritikpunkte bleiben | |
> aktuell. | |
Bild: Der Initiator der Leipziger Montagsdemo, Winfried Helbig, spricht am 16. … | |
Berlin taz | Der Vorwurf, auf Kosten der Allgemeinheit nicht arbeiten zu | |
wollen, hat sich auch nach 20 Jahren kaum abgenutzt: 2023 wurde Hartz IV | |
durch das Bürgergeld ersetzt, die populistischen Debatten aber sind | |
geblieben. | |
Die Bundesregierung [1][will die Sanktionsmöglichkeiten verschärfen], die | |
Union stichelt weiter. Am Montag erklärte [2][Sachsens Ministerpräsident | |
Michael Kretschmer (CDU) in der Welt], „Tausende“ könnten zwar arbeiten, | |
bekämen aber Geld vom Staat, „für das die Steuerzahler hart arbeiten“. Vor | |
20 Jahren gingen in Ostdeutschland Tausende gegen solche Vorwürfe auf die | |
Straße. | |
„Schluss mit Hartz IV – denn heute wir, morgen ihr“. Diese Parole hatte d… | |
arbeitslose Kaufmann Andreas Ehrholdt mit Filzstift auf Pappschilder | |
gemalt, als er Ende Juli 2004 in Magdeburg zu Protesten aufrief. Am 1. | |
Januar 2005 sollte das Hartz-IV-Gesetz in Kraft treten. Der Kern der nach | |
dem VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannten Reformpakets: fördern und | |
fordern. | |
Die Menschen sollten bei der Jobsuche unterstützt, also gefördert werden. | |
Doch sollten [3][über Sanktionen jene Menschen diszipliniert werden, die | |
sich angeblich zu wenig um einen Job bemühten]. Viele Menschen fühlten sich | |
zu Almosenempfänger*innen des Staates degradiert. | |
## 200.000 Menschen auf der Straße | |
Am 26. Juli waren es noch wenige hundert Menschen, die Ehrholdts Aufruf | |
folgten und in Magdeburg auf die Straße gingen. Doch das sollte sich | |
schnell ändern. Im Laufe des Augusts beteiligten sich in immer mehr | |
ostdeutschen Städten Menschen an den immer Montags stattfindenden | |
Demonstrationen, oft in vierstelliger Zahl. Auf dem Höhepunkt der | |
Anti-Hartz-Proteste am 30. August waren in über 200 Städten bundesweit, vor | |
allem aber im Osten mindestens 200.000 Menschen auf der Straße. | |
Die Zahl der Protestierenden hielt sich über mehrere Wochen und ging erst | |
im Oktober zurück. Inzwischen aber beschäftigten sich alle großen Medien | |
der Republik mit der Frage, was die Menschen in Ostdeutschland immer | |
Montags auf die Straße trieb. Mit Staunen beobachteten auch linke Gruppen, | |
dass ganz ohne ihr Zutun in Ostdeutschland Menschen protestieren, die | |
bisher nie demonstriert hatten. | |
Lutz Neuber von der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) war als | |
einer der wenigen organisierten Linken am 26. Juli 2004 in Magdeburg auf | |
der Straße. „Als unser Häufchen von sieben bis acht Leuten mit unseren | |
Transparenten und den Parolen gegen Nazis, Staat und Kapital zur vielleicht | |
300 Teilnehmer*innen zählenden Demo stieß, wurde es freudig begrüßt“, | |
erinnert sich Neuber nach 20 Jahren an die euphorische Stimmung. „Unsere | |
Sprechchöre gegen Niedriglöhne und Zwangsarbeit wurden beklatscht. Wir | |
dachten, jetzt geht es los.“ | |
Doch schon auf der zweiten Montagsdemonstration in Magdeburg folgte die | |
Ernüchterung: Mit über 6.000 Versammelten habe sich die Menge vervielfacht, | |
erzählt Neuber. „Doch diesmal hatten sich Gruppen der extremen Rechten an | |
die Spitze gestellt und auch sie wurden von der Masse verteidigt. Man | |
wollte niemanden ausschließen.“ | |
## Der Funke sprang nicht über | |
In vielen Städten hingegen weigerten sich die Demonstrant*innen, mit | |
Neonazis auf die Straße zu gehen. „Abgrenzung von Faschist*innen war | |
einer der beschlossenen Grundsätze der Montagsdemonstrationen“, sagt der | |
Sozialwissenschaftler Harald Rein, der seit Jahrzehnten in der unabhängigen | |
Erwerbslosenbewegung aktiv ist. | |
Dass Hartz IV nicht verhindert werden konnte, habe auch daran gelegen, dass | |
der Funke nicht nach Westdeutschland übergesprungen sei. Dort initiierten | |
linke Gruppen in verschiedenen Städten Proteste gegen Hartz IV, die aber | |
überschaubar blieben. „Einzig die Montagsdemonstrationen 2004 im Osten | |
Deutschlands können als spontaner Massenprotest gegen Hartz IV bezeichnet | |
werden“, so Rein. | |
Dabei gab es durchaus Potenzial: Am 1. November 2003 beteiligten sich über | |
100.000 Menschen an einer bundesweiten Demonstration gegen Hartz IV in | |
Berlin, die von wenigen Aktivist*innen auf die Beine gestellt worden | |
war. Mitten in der sommerlichen Nachrichtenflaute gingen dann in | |
Ostdeutschland spontan zahlreiche Menschen gegen Hartz IV auf die Straße. | |
Zwar versuchten linke Gruppen für den Herbst 2004 weitere Proteste auch im | |
Westen zu organisieren. Doch nur selten konnten sie mehr als die linke | |
Szene mobilisieren – eine Ausnahme bildete eine Demonstration vor der | |
Bundeszentrale der Agentur für Arbeit in Nürnberg mit rund 10.000 Personen | |
im November. | |
## „Welche Arbeit ist zumutbar für welchen Lohn“ | |
Einen weiteren Grund dafür, dass die Proteste ihr Ziel nicht erreichten, | |
sieht die Soziologin Mag Wompel im unklaren Gerechtigkeitsbegriff vieler | |
Montagsdemonstrant*innen. Viele hätten sich darüber empört, behandelt | |
zu werden wie Sozialhilfeempfänger*innen – und damit die Spaltung | |
zementiert. | |
„Die breit verankerte Ideologie der Leistungsgerechtigkeit hat durch die | |
latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das | |
Genick gebrochen“, urteilt Wompel, die vor 20 Jahren als Redakteurin der | |
Onlineplattform Labournet an zahlreichen Protesten beteiligt war. | |
Die Einführung von Hartz IV sei ein massiver Einschnitt gewesen, sagt die | |
Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), seit mehr als 40 Jahren in der | |
Erwerbslosenbewegung aktiv. „Welche Arbeit zumutbar ist für welchen Lohn, | |
wie weit der Schutz der Privatsphäre gewährleistet wird, welche Wohnungen | |
angemessen sind, wie Betroffene und ihre Kinder versorgt werden, mit wie | |
viel Angst und der Erwartung von Demütigungen sie in Jobcenter und | |
Sozialämter gehen müssen – das hat Maßstäbe gesetzt nicht nur für die | |
Betroffenen selbst, sondern für das gesamte Zusammenleben in dieser | |
Gesellschaft“, resümiert die Selbsthilfe-Gruppe. In einem solchen Klima | |
hätten die meisten Menschen wenig Kraft und Zeit gehabt, sich an | |
Protestdemonstrationen zu beteiligen. | |
Doch es gab solidarische Aktionen. So entstanden in vielen Städten | |
Initiativen, die Erwerbslose bei ihren Terminen im Jobcenter begleiteten, | |
damit sie nicht allein dem bürokratischen Prozedere ausgeliefert waren. | |
Auch die Klagen [4][gegen verhängte Sanktionen] nahmen rapide zu und waren | |
oft erfolgreich. Für die im letzten Jahr verstorbene Erwerbslosenaktivistin | |
Anne Allex war das auch eine Spätfolge der Proteste vom Sommer 2004: „Viele | |
Menschen haben damals gelernt, sich zu wehren.“ | |
5 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Verschaerfte-Sanktionen-im-Buergergeld/!6022897 | |
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article252820568/Michael-Kretschmer… | |
[3] /Verschaerfungen-beim-Buergergeld/!6019410 | |
[4] /Vor-der-Einfuehrung-des-Buergergeldes/!5900367 | |
## AUTOREN | |
Peter Nowak | |
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