# taz.de -- Tolkien-Ausstellung in Rom: Das Nichts, das sind die anderen | |
> Die Leidenschaft der italienischen Rechten für den „Herrn der | |
> Ringe“-Autor hat Tradition. Die Ministerpräsidentin ist begeistert von | |
> einer Ausstellung. | |
Bild: Rechte Politiker als Gemeinschaft des Ringes? Junger Meloni-Anhänger im … | |
Giorgia Meloni hat normalerweise andere Aufgaben, als Ausstellungen zu | |
besuchen, aber vor Kurzem machte sie eine Ausnahme. Nicht nur, weil die | |
Ausstellung, um die es gerade geht, vom italienischen Kulturministerium | |
gewünscht und gefördert wurde, sondern auch, weil sie einem Schriftsteller | |
gewidmet ist, für den die italienische Ministerpräsidentin ein Faible hat: | |
den vor fünfzig Jahren gestorbenen [1][J. R. R. Tolkien]. | |
Über das Leben des britischen Autors und Professors ist bis zum 11. Februar | |
in der römischen Nationalgalerie für moderne Kunst eine Schau zu sehen, sie | |
gilt als die größte, die in Italien je organisiert wurde. Meloni besuchte | |
sie gleich zur Eröffnung und zeigte sich begeistert. | |
Die Liebe der rechtsgerichteten Ministerpräsidentin zu Tolkiens Werk ist | |
kein Geheimnis. In ihren öffentlichen Auftritten kommt der britische Autor | |
immer wieder vor, mal mit Zitaten, mal in Form von Andeutungen an seine | |
imaginäre Welt. In ihrer Autobiografie, die zugleich ein politisches | |
Manifest ist, erzählt Meloni, wie sie sich einst als Hobbit verkleidete und | |
den [2][„Herr der Ringe“] las, besser: wie der Roman für sie zum „Mythos… | |
wurde, noch bevor das Kino daraus ein Medienphänomen machte. | |
## Giorgia, Sam und Frodo | |
Ihr Lieblingshobbit sei schon immer Sam Gamgee gewesen, so Meloni in ihrer | |
Autobiografie. Sam sei nicht stark, schnell oder königlich wie andere | |
Protagonisten, sondern er sei nur ein Hobbit. Aber ohne ihn, das heißt ohne | |
die Hilfe der einfachen Menschen, hätte Frodo seine Mission nicht vollenden | |
können. | |
Auf den ersten Blick scheint Melonis Leidenschaft für Tolkiens Werk nichts | |
Besonderes zu sein: „Der Herr der Ringe“ gehört international zu den | |
meistgelesenen Werken des 20. Jahrhunderts, die zwischen 2001 und 2003 | |
erschienene Filmtrilogie erreichte Millionen von Zuschauern und gewann am | |
Ende 17 Oscars. Auch die 46-jährige italienische Ministerpräsidentin, | |
könnte man meinen, wurde als Jugendliche von Tolkiens Fantasiewelt und den | |
Hobbits, den Elben und den anderen fiktiven Kreaturen in den Bann gezogen. | |
Doch so einfach ist es nicht. | |
Denn in der italienischen rechtsextremen Szene ist J. R. R. Tolkien | |
unglaublich populär. Diese Verehrung reicht bis in die frühen | |
Siebzigerjahre zurück, als das Buch – zwischen 1937 und 1949 geschrieben – | |
ins Italienische übersetzt wurde. | |
## Faszination der Rechten für Mythologie | |
Ein umstrittenes Vorwort des Intellektuellen Elémire Zolla, das sich auf | |
die Symbolik und die Dichotomie von Tradition und Moderne konzentrierte, | |
zusammen mit der Faszination der Rechten für die nordische Mythologie und | |
die Nostalgie für das Mittelalter und allgemein für die Vergangenheit | |
führten zu einer durchaus diskutablen Interpretation des Fantasy-Romans: | |
der des „Herrn der Ringe“ als antimodernes, antikapitalistisches und | |
nationalistisches Werk, in dem eine hierarchische, homogene und durchaus | |
männerdominierte Welt zelebriert wird. | |
In dieser Welt herrscht eine absolute Trennung zwischen Gut und Böse, wer | |
nicht zum eigenen Lager gehört, der wird gehasst. In dieser Welt werden | |
traditionelle Werte wie die Opferbereitschaft, die Vaterlandsliebe und der | |
Gehorsam hochgeachtet. | |
Um zu verstehen, wie es zu dieser engen Auslegung kam, sollte man beim | |
historischen Kontext beginnen. Es waren die turbulenten Jahre der | |
Studenten- und Frauenbewegung, Italien war in einem gesellschaftlichen | |
Aufruhr. Die [3][französische Bewegung der Nouvelle Droite (Neue Rechte)] | |
mit ihrem autoritären, elitären und rassistischen Gedankengut breitete sich | |
über die Landesgrenzen aus und setzte auch in Italien ihren Kulturkampf | |
fort – denn ohne kulturelle Macht, so das Credo des Theoretikers Alain de | |
Benoist, könne es auch keine politische Revolution geben. | |
Unter den neuen Rechten in Italien war zudem der faschistische Ideologe und | |
Kulturphilosoph Julius Evola mit seinen antimodernen Positionen, seinen | |
esoterischen Weltanschauungen sowie dem mythischen Denken hoch im Kurs. | |
## „Herr der Ringe“ ist nicht ideologisch | |
Und Tolkien? Für die Akademiker Paolo Pecere und Lucio del Corso, die über | |
die Mystifizierung und Instrumentalisierung von Tolkien ein Buch | |
geschrieben haben, ist der „Herr der Ringe“ ideologisch ein neutraler Text, | |
Tolkien selbst war zwar konservativ, aber kein Faschist. Für die Rechten, | |
insbesondere für die jüngere Generation unter ihnen, spielte das aber keine | |
Rolle. | |
Während Julius Evolas Werk als ideologische Grundlage diente, lieferte die | |
von Tolkien erdachte Fantasiewelt jene Bilder, Metaphern und durchaus auch | |
popkulturellen Motive, die sie brauchten, um eine neue, modernere | |
Mythologie zu schaffen – eine Mythologie, die die alten Symbole und Rituale | |
von Mussolinis Faschismus wie zum Beispiel das Liktorenbündel hätte | |
ersetzen sollen. So wurde der „Herr der Ringe“, der in den Sechzigerjahren | |
bei den US-amerikanischen Hippies angesagt war, zur Pflichtlektüre der | |
italienischen rechtsextremen Szene. Und so wurde Tolkien | |
identitätsstiftend. | |
1977 veranstaltete die Jugendorganisation des neofaschistischen Movimento | |
sociale italiano (MSI), Nachfolgepartei von Mussolinis Partito fascista, | |
den ersten „Campo Hobbit“, eine Art Sommerfestival mit Zelten, Musik und | |
Diskussionen über gesellschaftliche Themen. Die neofaschistischen Bands, | |
die dort auftraten, hießen etwa La Compagnia dell’Anello | |
(„Ringgemeinschaft“) oder Amici del vento („Freunde des Windes“), | |
vielerorts auf dem Festival war das von den neofaschistischen Gruppierungen | |
geliebte Keltenkreuz zu sehen. | |
## Hobbit-Lager in Italien | |
Obwohl Giorgia Meloni selbst laut Medienberichten nur an einem dieser | |
Hobbit-Lager teilnahm, weil sie damals noch zu jung war, ist sie als | |
MSI-Aktivistin in diesem Dunstkreis sozialisiert worden. Bis in die | |
Neunzigerjahre wurden mehrere Editionen der Hobbit-Lager organisiert, | |
später wurde die Verbindung zwischen Tolkien und dem italienischen | |
Rechtsextremismus schwächer, aber erloschen ist sie bei Weitem nicht. | |
Ohnehin besteht weiter die Tendenz, sich bei Fantasy-Literatur zu bedienen. | |
Das jährliche Parteifest von Melonis Fratelli d’Italia heißt nicht zufällig | |
„Atreju“, wie der Krieger in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“. | |
Atréju ist ein treuer und mutiger Junge, der damit beauftragt wird, das | |
Land vor dem bedrohlichen Nichts zu retten. Für die Organisatoren der | |
Veranstaltung, zu denen auch Meloni selbst gehört, die 1998 die erste | |
Edition des Festes initiierte, ist klar: Das Nichts ist aus philosophischer | |
und moralischer Sicht zu interpretieren. Das Nichts, das sind die anderen. | |
Angesichts dessen überrascht es nicht, dass die Eröffnung der | |
Tolkien-Ausstellung große mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht – oder | |
zumindest nicht nur – wegen der Kosten, von 250.000 Euro ist die Rede, oder | |
wegen der Qualität, die bisher viele Kunstexperten nicht überzeugt hat. | |
Sondern wegen des Versuchs der rechten Regierung, ein wichtiges | |
literarisches Werk und allgemein die Kunst für ihre ideologischen Zwecke zu | |
nutzen. | |
Denn Tolkien, so die Argumentation vieler Kritiker, sei kein rechter | |
Schriftsteller, wie in Italien seit vielen Jahren suggeriert wird, sondern | |
er sei für alle da. Und das Kabinett Meloni sei keine Ringgemeinschaft, die | |
gegen die internationalen Invasoren kämpft, um das schöne, gute Italien von | |
gestern wiederherzustellen. Auch wenn die Rechten sich gerne so | |
präsentieren. | |
2 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Francesca Polistina | |
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