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# taz.de -- Weibliche Wut im Kunsthaus Hamburg: Ich wüte, also bin ich
> Rosanna Graf widmet sich in ihrer Video-und Soundinstallation „Ordinary
> Women – Carrier Bags of Friction“ der weiblichen Wut und ihrer
> Wirkungsmacht.
Bild: Muss raus: Die Darstellerinnen Cristina Negucioiu und Ella Fleck geben si…
Dumpfe Schreie tönen durchs Foyer des Kunsthauses Hamburg. Es folgt ein
Dröhnen, dann ein paar Sekunden Stille. Es lässt sich bereits erahnen:
Hinter dieser Tür ist jemand wütend. „Why are you not angry?“, fragt,
vorwurfsvoll, aber auch als Begrüßung, ein schnörkelig gesprayter
Schriftzug an der Wand.
Im Mittelpunkt von [1][Rosanna Grafs Video- und Sound-Installation] steht
die weibliche Wut, popkulturell als „female rage“ bekannt. Vier große
Screens sind in einem Karree mitten im loftartigen Ausstellungsraum
platziert. So wirken sie besonders raumgreifend. Auf den Screens verkörpern
Darstellerinnen historische Frauenfiguren, die im Laufe ihres Lebens
gewalttätig geworden sind. Ihre legitime Wut wurde in der deutschen
Öffentlichkeit meist als irrationale Hysterie verklärt. In Grafs Film trägt
jede Figur eine individuelle Handtasche.
So sehen wir ein [2][Abbild Monika Ertls] (1937–1973), Tochter des
Nazifilmers Hans Ertl. In Bolivien schloss sie sich der linksrevolutionären
Guerillaorganisation ELN an und rächte 1971 die Tode Che Guevaras und
seines Nachfolgers Inti Peredo, indem sie den ehemaligen bolivianischen
Geheimdienstchef erschoss.
Am Tag des Mordes trug Ertl eine blonde Perücke, eine Brille und eine
Handtasche, in der sich ihre Waffe befand: eine Colt Cobra 38. Aufnahmen
dieser Gegenstände füllten die Zeitungen des Landes. Wie, fragten sich
alle, war eine junge Frau zu so einer Tat fähig?
## Handtaschen als Waffe
In Grafs Film trägt Ertls Abbild eine ähnliche Perücke. Doch sie und die
anderen Darstellerinnen wirken anfangs teilnahmslos, als hätte man sie in
den Plot des Films hineingeschubst. Auch die anderen Frauenfiguren sind
prominenten Vorbildern nachempfunden: den RAF-Terroristinnen Susanne
Albrecht und Ulrike Meinhof sowie der Schauspielerin Ingrid van Bergen und
der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc.
Die Künstlerin selbst hat einen Auftritt als [3][Hexe], die sich aus einem
Wandschrank zwängt, in einem Anzug in Pink-Metallic, mit grünem
Bodypainting und Acrylmaniküre. Als Hexe versucht Rosanna Graf, die Frauen
in ihren Bann zu ziehen: Sie will sie mit einer Nuckelflasche stillen, um
sie von ihrer Wut zu reinigen. Doch die Stimmung kippt, die Frauen
beginnen, die Hexe zu jagen und mit ihren Handtaschen zu traktieren. Die
Bilder auf den Screens laufen ineinander über und bilden einen diffusen
Strom weiblicher Wut: ein Moment der Ermächtigung. Als wütendes Kollektiv
geben sich die Figuren endlich dem Gefühl hin, dass sie so lange
runterschlucken mussten.
„Ordinary Women – Carrier Bags of Friction“, hat Graf ihre Installation
genannt. Und die eben als Waffen eingesetzten Handtaschen finden sich auch
mal mehr, mal weniger offensichtlich im weitläufigen Ausstellungsraum
wieder. Ihre ausgeleerten Inhalte sind äußerst unterhaltsam: diverse
Lollies, ein lilaner Kubotan, eine Waffe für den Nahkampf, farblich passend
dazu ein plüschiger Schlüsselanhänger. Die Tasche der Hexe dagegen ist eine
braune Birkin Bag in Krokodillederoptik, Statussymbol und eingestaubtes
Lieblingsaccessoire von reichen Damen.
Mit dem Titel der Installation knüpft Graf an den 1986 erschienenen Essay
„The Carrier Bag Theory of Fiction“ an. Darin erklärt die Autorin
[4][Ursula Le Guin], dass einfache Behälter die ersten Gegenstände der
Zivilisation gewesen seien, nicht Speere oder Lanzen wie in den phallischen
Heldenerzählungen.
## Liberale Selbstoptimierung
Doch warum richtet sich die weibliche Wut in Grafs Film gegen eine andere
Frau und nicht gegen das Patriarchat, seine Gründungsväter und Profiteure,
alte weiße Männer? Immerhin, in den ersten Sequenzen wird ausgiebig das
satirische „Manifest der Gesellschaft zur Zerstückelung der Männer“
[5][(S.C.U.M. Manifesto)] von Valerie Solanas zitiert. Warum gilt also die
Hexe als Antagonistin?
Rosanna Graf, die an der HfbK Hamburg und am Goldsmiths, University of
London studierte, bildet durch diesen Dreh einen Konflikt innerhalb des
Feminismus ab, dessen radikale Vertreterinnen ihr Feindbild auch in
vermeintlich gleichgesinnten älteren Ikonen der Bewegung sehen, wofür die
Hexe stehen könnte.
Sie ist eine Figur der liberalen Selbstoptimierung in einer Welt, in der
weibliche Wut keine Berechtigung hat und bereinigt werden muss. Du bist
wütend, weil dein Partner keinerlei Care-Arbeit auf sich nimmt? Schreibe es
in dein Achtsamkeitsjournal. Du würdest am liebsten toben und schreien,
weil du schon wieder sexuelle Belästigung erfahren hast? Probier doch mal
Meditation aus.
In ihrer Installation schafft Graf so eine vielschichtige
Auseinandersetzung mit der Stigmatisierung von weiblicher Wut und Frauen,
die aus den ihnen zugedachten Rollenvorstellungen ausbrechen. Die
Künstlerin lässt ihre Figuren aus Literatur und vergangener
Berichterstattung zitieren, so auch aus Fragmenten der
pseudo-wissenschaftlichen Gesichtsanalyse Vera Brühnes, die in einem
Indizienprozess 1962 wegen Mordes verurteilt und später begnadigt wurde.
Schuldig machte sie vor Gericht auch ihr vorspringender Haaransatz, damals
ein Zeichen für „männliche Aktivität und Geltungssucht“. Beim Hinausgehen
hallen diese Worte aus dem Off noch im Ohr nach.
22 Dec 2023
## LINKS
[1] https://www.instagram.com/_rosannagraf_/?hl=de
[2] /Archiv-Suche/!5846098&s=monika+ertl&SuchRahmen=Print/
[3] /Schriftstellerin-ueber-Hexen/!5972180
[4] /Autorin-Ursula-Le-Guin/!5751085
[5] https://editions-ismael.com/wp-content/uploads/2019/05/1968-Valerie-Solanas…
## AUTOREN
Neele Fromm
## TAGS
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