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# taz.de -- „Flaniermeile“ Friedrichstraße: Bonjour Tristesse
> Vor einem Jahr wurde die Friedrichstraße wieder für Autos geöffnet –
> bevor sie erneut gesperrt und dann abermals geöffnet wurde. Ein
> Ortsbesuch.
Bild: Das schwarz-rote Credo: Der Verkehr muss fließen – auch in der Fried…
Berlin taz | Verlässt man die Lebensmittelabteilung der Galeries Lafayette
und betritt das Untergeschoss des „Quartier 206“, umgibt einen fast
meditative Stille. Nicht dass das französische Luxuskaufhaus sehr belebt
wäre, im Gegenteil. Aber immerhin ein paar KundInnen sieht man dann doch an
den Regalen mit Gänsefettleber und der Macarons-Theke vorbeischleichen.
Anders in der unterirdischen Passage. Hier sind die wenigen Läden, die noch
zwischen geschlossenen Verkaufsflächen überleben, wie leergefegt. In dem
schwarz-weiß gefliesten Gang verlangt ein einsames Schild per Piktogramm,
vom Fotografieren Abstand zu nehmen. Auf der leise quietschenden Rolltreppe
geht es hoch ins Erdgeschoss, wo ein großes Poster verkündet: „Q206 Fashion
Week, 14.–16.1.2019“.
Die Friedrichstraße sollte einmal als gehobene Einkaufsmeile dem Ku’damm
Konkurrenz machen. Geschafft hat sie das nie, aber heute braucht es schon
Stimmungsaufheller, um den Mangel an Lebendigkeit zu ertragen, der rund um
den U-Bahnhof Stadtmitte herrscht. Leerstand links, Leerstand rechts,
dazwischen halten sich ein paar hochpreisige Geschäfte für gusseisernes
Kochgeschirr oder Mode aus dem Haus eines weißhaarigen Designers, der kurz
nach der Fashion Week 2019 in Paris gestorben ist.
## Die sogenannte Magistrale
Dabei hatte der schwarz-rote Senat mit Blick auf die „Nord-Süd-Magistrale“
versprochen, dass hier bald wieder alles in geordneten Bahnen verlaufen
werde. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen verkündete
CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner [1][vor einem halben Jahr] das Ende
der von den Grünen „erfundenen“ autofreien „Flaniermeile“ zwischen
Leipziger und Französischer Straße. Seit dem 1. Juli dieses Jahres rollen
die Autos wieder.
Es war das vorläufige Ende eines Auf-und-zu-und-auf-Reigens: Schreiners
Vorvorgängerin Regine Günther (Grüne) hatte im Sommer 2020 den
[2][Verkehrsversuch „Flaniermeile“] gestartet – und coronabedingt
ausgedehnt. Ihre Nachfolgerin Bettina Jarasch (ebenfalls Grüne) beschloss
die Verstetigung der Fußgängerzone und verlängerte bis zu deren rechtlicher
Vollendung einfach das Provisorium – bis das Verwaltungsgericht dies auf
Klagen von Gewerbetreibenden hin unterband.
Am 22. November 2022, also vor genau einem Jahr, [3][durften die Autos also
schon einmal zurück], dann aber [4][ordnete das Bezirksamt Mitte die
„Teileinziehung“ der Friedrichstraße] an, und Jarasch ließ sie im Januar,
kurz vor der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus, neu möblieren. Diesmal
etwas poppiger und ohne die mittige Fahrradspur, die selbst bei den
BefürworterInnen des Versuchs nicht so gut angekommen war. Der zweite
Aufguss hielt kein halbes Jahr.
## Nichts ist besser geworden
Hat das Auto, wenn schon nicht Leben, dann zumindest Umsätze zurück in die
Straße gebracht? Zahlen gibt es dazu nicht, nur Meinungen, wobei auch die
bisweilen ungern geäußert werden. Die Verkäuferin im WMF-Laden etwa winkt
ab: Die Geschäftsführung möchte nicht, dass sie und ihre KollegInnen mit
der Presse reden.
Der freundliche Herr hinter dem Tresen von „Läderach“ zuckt mit den
Schultern: Er habe in den vergangenen Jahren so viele Wechsel miterlebt,
„unterm Strich war das Geschäft eigentlich immer gleich“. Was vielleicht
daran liegt, dass der Schweizer Chocolatier nur zwei Standorte in Berlin
unterhält und die Fans der Marke mit oder ohne Flaniermeile kommen.
„Mit dem Autoverkehr jetzt ist es jedenfalls nicht besser geworden“, sagt
eine Angestellte in einem anderen Geschäft, dessen Name nicht in der
Zeitung genannt werden soll. Die Flaniermeile sei aber auch nichts Halbes
und nichts Ganzes gewesen. „Geärgert hat mich vor allem, dass das unser
Steuergeld war und wir am Ende selbst die Pflanzenkübel bewässern mussten,
die sie uns vor den Laden gestellt haben.“
Dass es der Friedrichstraße weiterhin nicht gut geht, darin stimmen auch
BeobachterInnen überein, deren Ansichten sonst eher konträr sind. „Es ist
wie vorher, nur dass jetzt deutlich mehr Läden leer stehen“, sagt etwa
Stefan Lehmkühler vom Verein Changing Cities, der zusammen mit anderen die
grüne Senatsverkehrsverwaltung auf die Flaniermeilen-Idee brachte. Und Nils
Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des [5][Handelsverbands
Berlin-Brandenburg], kann „noch keine großen Erholungseffekte“ erkennen –
was vermutlich diplomatisch ausgedrückt ist.
## Schlechtes Konsumklima
Man sei eben zuletzt „von einer Krise in die nächste gerutscht“, so
Busch-Petersen, das erzeuge ein schlechtes Konsumklima. Die Kaufleute seien
aber jetzt „deutlich optimistischer als vorher“. Busch-Petersen ist ein
scharfer Kritiker der grünen Verkehrspolitik: „Was da versemmelt wurde,
kann man nicht so schnell reparieren.“ Schon die langwierigen Bauarbeiten
am Kreuzungsbahnhof der U5 hätten das Umfeld belastet. „Die anderthalb
Jahre des Experiments waren dann schlicht rechtswidrig und die letzten
Tropfen im Fass.“
Mit dem Experiment, wie der Handelsverbands-Chef den Verkehrsversuch nennt,
hatte auch Stefan Lehmkühler seine Probleme – allerdings, weil es ihm zu
verzagt war. „Der eigentliche Umbau war unter Bettina Jarasch erst für
2026/27 vorgesehen“, sagt er. „Es so lange als Provisorium zu belassen, war
ein Flop und ein echter Fehler der Grünen“, findet Lehmkühler, der 2021 und
2023 selbst für die Grünen im betreffenden Wahlkreis Mitte 2 antrat.
Mit dem Gendarmenmarkt, der aktuell grundsaniert wird, habe nun die
Gastronomie in der Umgebung eine wichtige Außenfläche verloren. Die
autofreie Friedrichstraße hätte ein Ausweichort sein können – zu spät. Das
Problem sieht Nils Busch-Petersen auch, er macht für die beklagenswerte
Situation rund um das Schauspielhaus aber auch die „unsägliche
Fahrradstraßen-Lösung“ [6][auf der Charlottenstraße] verantwortlich: Die
erzeuge nur Chaos und Parksuchverkehr.
Senatorin Schreiner hatte anlässlich des Auto-Revivals versprochen, mit dem
Haus von Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD) ein
„städtebauliches und verkehrliches Gesamtkonzept“ für Friedrichstadt,
Dorotheenstadt und Friedrichswerder zu erarbeitet. Ein „breiter
Beteiligungsprozess“ dafür solle „im Herbst“ starten. Auf Nachfrage teilt
die Verkehrsverwaltung mit, für die Entwicklung eines Verkehrskonzepts
bereite man gerade eine Ausschreibung vor, parallel dazu starte „noch Ende
des Jahres“ eine Online-Beteiligung auf der Plattform für
BürgerInnenbeteiligung des Landes Berlin.
## Kein Geld für die ZLB im Lafayette
Was die Zukunft der Friedrichstraße bringt, hängt aber von vielen Faktoren
ab, auch zum Beispiel dem von Kultursenator Joe Chialo (CDU) favorisierten
[7][Ankauf des „Quartier 207“ für die Zentral- und Landesbibliothek (ZLB)].
Bei der ZLB selbst ist man restlos begeistert von der Idee, anstelle der
Galeries Lafayette, die Ende 2024 Berlin verlassen, hinter die gläsernen
Fassade zu ziehen. Ob Schwarz-Rot dem Investor Tishman Speyer die Immobilie
tatsächlich mit rund 600 Millionen Euro vergolden wird, bleibt abzuwarten.
Erst am Montag schloss CDU-Fraktionschef Dirk Stettner nach den
Haushaltsverhandlungen auf Spitzenebene mit dem Koalitionspartner SPD aus,
dass hierfür im Doppelhaushalt 2024/2025 irgendwelche Mittel zur Verfügung
gestellt werden. Die SPD-Fraktion stand der Kaufhausidee ohnehin von Anfang
an [8][mehr als skeptisch] gegenüber.
Stefan Lehmkühler glaubt, früher oder später sei der Leidensdruck durch
immer heißere Sommer so groß, dass Bäume auf der heute völlig kahlen Straße
unumgänglich würden. Aber hieß es nicht immer, wegen der unter der Straße
verlaufenden U6 könne man höchstens ein paar Kübel aufstellen? Ach was,
kontert der studierte Raumplaner, die Diskussion sei „nicht unbedingt von
Sachkenntnis geprägt“ gewesen.
Kleine Bäume bräuchten zwölf Kubikmeter Wurzelraum, das sei kein Problem,
weil die U6 in sechs Metern Tiefe unter der U2 durchtauche. Am besten
pflanze man die Bäume in versenkbaren Stahlcontainern, die sich bei
Umbauten wieder aus dem Boden holen ließen. „Einfach mal in die geltenden
Richtlinien gucken“, sagt Lehmkühler.
22 Nov 2023
## LINKS
[1] /Kampfzone-Friedrichstrasse/!5933378
[2] /Verkehrsversuch-auf-der-Friedrichstrasse/!5706412
[3] /Autofreie-Berliner-Friedrichstrasse/!5890668
[4] /Autofreie-Friedrichstrasse-in-Berlin/!5911611
[5] /Arbeitskampf-im-Einzelhandel/!5968055
[6] /Fahrradstrassen-in-Berlins-Bezirken/!5965296
[7] /Bibliotheken-in-Berlin/!5953201
[8] /Zentral--und-Landesbibliothek/!5956864
## AUTOREN
Claudius Prößer
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