# taz.de -- Unerhörte Räumungsklage in Tegel: Kündigung nach 84 Jahren | |
> Seit 2010 wehren sich Mieter*innen der Siedlung Am Steinberg gegen | |
> Luxussanierungen. Nun soll ein 84-Jähriger aus seiner Mietwohnung raus. | |
Bild: Renditeerwartung lastet auf der kleinen Siedlung Am Steinberg | |
BERLIN taz | Schöne, alte Reihenhäuser sind es, die in der | |
[1][Steinbergsiedlung in Berlin-Tegel] stehen. Vor ein paar Wohnungen in | |
der Siedlung hängen jedoch Transparente, auf denen „Kapital verdrängt uns!�… | |
oder „Die Miete muss bezahlbar bleiben!“ steht. In einer von ihnen lebt | |
Manfred Moslehner, genannt „Manne“ – und das seit 84 Jahren. Im Oktober | |
wurde ihm das Mietverhältnis gekündigt. Er soll jetzt die Wohnung räumen, | |
in der er geboren wurde, und Platz für umfangreiche Modernisierungen | |
machen. | |
Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft GSW verkaufte die Siedlung 2010 an | |
die private Investorengruppe „Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft GmbH“, | |
die umfangreiche bauliche Maßnahmen in der Siedlung vorsah. „Nur so kann | |
der Fortbestand dieses einmaligen Baudenkmals für die nächsten 100 Jahre | |
gesichert werden“, heißt es auf der Website der Entwicklungsgesellschaft. | |
Ohne Frage seien die Häuser mittlerweile sanierungsbedürftig, sagt | |
Sebastian Bartels, Geschäftsführer beim Berliner Mieterverein, der seit | |
vielen Jahren die Mieter*innen am Steinberg unterstützt. | |
An den Wohnungen, die bereits saniert worden seien, könne man jedoch sehr | |
gut sehen, dass diese Sanierung schon fast eine Neuerrichtung bewirke: Es | |
wurde grobflächig entkernt, das Badezimmer verlegt, eine Fußbodenheizung | |
eingebaut. Mit Denkmalschutz habe das nicht mehr viel zu tun, sagt Bartels: | |
„Hier steht vor allem das Ziel des lukrativen Verkaufs mit hoher | |
Renditeerwartung im Vordergrund.“ | |
Eine vier- bis fünffache Mieterhöhung wurde manchen Mieter*innen nach | |
erfolgreicher Modernisierung ihrer Wohnungen in Aussicht gestellt. Laut | |
Mieterpartei hätten sich die Mieten in der Siedlung damit teilweise von | |
rund 400 auf bis zu 1.700 Euro erhöht. | |
## „Das ist natürlich sehr brutal“ | |
Manfred Moslehner erhielt im Juni 2015 die erste | |
Modernisierungsankündigung. Im Oktober dieses Jahres folgte die Kündigung, | |
weil der 84-Jährige seine Wohnung während der Modernisierungsarbeiten nicht | |
verlassen möchte. „Das ist natürlich sehr brutal und zeigt auch die | |
Perfidie“, sagt Bartels. | |
Die Mieter*innen seien in den vergangenen Jahren regelrecht schikaniert | |
worden: „Das kann ich auch juristisch belegen“, sagt er und spricht in | |
diesem Zusammenhang von falschen Betriebskostenabrechnungen, Abmahnungen | |
und Kündigungsandrohungen – Vorgehensweisen, die er letztlich als | |
„Zermürbung“ zusammenfasst. Von den 38 ursprünglichen Mieter*innen leben | |
jetzt noch 18 in der Steinbergsiedlung. | |
Um sich gegen diese Schikane zu wehren, gründeten die Mieter*innen 2010 | |
die „Initiative Am Steinberg“ und zogen vor Gericht. Und das immer wieder | |
mit Erfolg: 2017 entschied etwa der Bundesgerichtshof, dass geplante | |
Modernisierungen von Mieter*innen nicht geduldet werden müssen, wenn die | |
beabsichtigten Maßnahmen so weitreichend wären, dass sie den Charakter der | |
Wohnung „grundlegend verändern“ würden, wie es im Beschluss heißt. Das | |
bedeutet allerdings im Umkehrschluss, dass bestimmte | |
Modernisierungsankündigungen dennoch geduldet werden müssten. | |
Dabei wisse die „Entwicklungsgesellschaft Am Steinberg“ ganz genau, dass | |
Moslehner „das schwächste Glied“ in der Siedlung sei, meint Hartmut Lenz. | |
Er ist ebenfalls Anwohner der Steinbergsiedlung und Mitorganisator der | |
Proteste. Manfred Moslehner habe keine Angehörigen mehr, gerade so komme er | |
jeden Monat mit dem Geld hin. | |
## „Dass macht ihm sehr zu schaffen“ | |
Nach Fertigstellung der geplanten Modernisierungen würde sich Moslehners | |
Miete um rund 700 Euro erhöhen. Allein deshalb sei es ihm unmöglich | |
gewesen, die Maßnahmen zu akzeptieren. „Dass er die Wohnung nun mit seinen | |
84 Jahren räumen soll, macht ihm sehr zu schaffen“, sagt Lenz. Auch | |
Moslehners Anwalt spricht von einer „dramatischen Verschlechterung“ seines | |
Gesundheitszustandes seit der ersten Modernisierungsankündigung im Jahr | |
2015. Aus diesem Grund kam es auch zu keinem Gespräch des alten Mannes mit | |
der taz. | |
Bis zum 1. November sollte Moslehner seine Wohnung geräumt haben. Für | |
diesen Tag organisierte die Initiative Am Steinberg eine Protestaktion vor | |
der Wohnung des 84-Jährigen. Mit Unterstützung der Mieterpartei brachten | |
sie den Fall an die Öffentlichkeit, informierten Presse und Politik. | |
Canan Bayram, seit 2017 Bundestagsabgeordnete für die Grünen, verfasste | |
persönlich einen Brief an die Entwicklungsgesellschaft GmbH, in dem sie | |
darum bat, von der Räumung Abstand zu nehmen und Herrn Moslehner während | |
der Instandsetzung in seiner Wohnung zu lassen. Für den Mieter sei dies | |
„von existenzieller Bedeutung“, so Bayram, da ein solcher Wohnungswechsel | |
gerade für ältere Menschen eine hohe Belastung darstellen könne. | |
Darüber hinaus plädierte sie in dem Ende Oktober verschickten Brief dafür, | |
den Mieter im Winter in seiner Wohnung zu lassen. Oktober bis März seien | |
die Kältehilfemonate, in denen es lebensgefährlich werden könne, | |
wohnungslos zu sein. „Da wird doch jetzt nicht groß gebaut, da kann man den | |
Mann doch in Ruhe Weihnachten und den Jahreswechsel erleben lassen“, hieß | |
es. Die von Bayram gesetzte Frist mit Bitte um Antwort ließ die | |
Entwicklungsgesellschaft ohne Rückmeldung verstreichen. | |
## „Es ist schäbig, ihn da rauszukanten“ | |
Stattdessen erhielt Moslehner noch kurz vor Weihnachten die Räumungsklage | |
von der Entwicklungsgesellschaft. Und auch der Gerichtstermin steht | |
inzwischen fest: Die mündliche Verhandlung soll am 11. März stattfinden. | |
Gemeinsam mit seinem Anwalt wird Moslehner weiter anfechten, dass er die | |
Modernisierungen dulden muss und seine Kündigung rechtens ist. | |
Eine Anfrage der taz zum Fall Moslehner wurde bis Redaktionsschluss nicht | |
von der anwaltlichen Vertretung der Entwicklungsgesellschaft beantwortet. | |
„Es entsteht immer wieder der Eindruck, dass das Stichwort ‚Modernisierung�… | |
gerne genutzt wird, um eigene wirtschaftliche Interessen durchzusetzen“, | |
sagt Bayram. „Da müssen wir auch stadtpolitisch schauen, was wir für | |
Möglichkeiten haben, so etwas weniger attraktiv werden zu lassen.“ Dringend | |
müssten etwa der Räumungsschutz gestärkt und die Umsetzungsmöglichkeiten | |
erschwert werden. | |
Sebastian Bartels vom Mieterverein hält die Räumungsaufforderung durch die | |
Entwicklungsgesellschaft jedenfalls für rechtlich „wackelig“: Bevor dem | |
Mieter gekündigt wurde, hätten seiner Meinung nach andere Schritte wie die | |
Auferlegung eines Zwangsgeldes erfolgen müssen. Jetzt gelte es, Druck zu | |
machen, auch öffentlich, denn theoretisch könne der Vermieter die Kündigung | |
immer noch zurückziehen. „Es ist schäbig, ihn da jetzt rauszukanten“, so | |
Bartels. | |
Richtigstellung | |
Wir haben in dem Artikel ursprünglich geschrieben, dass „vor einigen Jahren | |
(…) erstmals einem Mieter der Steinbergsiedlung gekündigt (wurde), weil er | |
sich weigerte, die Modernisierungen zu akzeptieren“. Das war falsch. Die | |
Redaktion | |
10 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Clara Zink | |
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