| # taz.de -- Kommunen vor dem Flüchtlingsgipfel: Niedersächsischer Optimismus | |
| > In Hannover will man weiterhin sagen: Wir schaffen das. Die Stadt will | |
| > bis Ende des Jahres eine Bezahlkarte für Geflüchtete einführen. | |
| Bild: Soll sich nicht wiederholen in Hannover: Zelte in den Messehallen, hier i… | |
| Hannover taz | Wenn es eine Stadt gibt, die immer noch sagt „Wir schaffen | |
| das“, dann ist es Hannover. Als „Scheinlösungen“ bezeichnet der grüne | |
| Oberbürgermeister Belit Onay das, was derzeit bundesweit an Lösungen | |
| debattiert wird. Die Debatten über eine Obergrenze für Geflüchtete, über | |
| mehr Abschiebungen und eine Arbeitspflicht, wie sie zuletzt unter anderem | |
| der Deutsche Landkreistag forderte, gehen an der Realität in vielen | |
| Kommunen vorbei, kritisiert er. | |
| Was die Kommunen wirklich bräuchten, seien eine rasche und transparente | |
| Weitergabe finanzieller Mittel von Bund und Ländern, Bürokratieabbau – und | |
| endlich die versprochene Digitalisierung der Ausländerbehörden. Die war | |
| schon beim [1][Flüchtlingsgipfel mit Kanzler Olaf Scholz (SPD)] Anfang des | |
| Jahres ein großes Thema, passiert sei aber wenig. „Wir müssen aufpassen, | |
| dass wir den Streit um Finanzierungsfragen jetzt nicht auf dem Rücken der | |
| Betroffenen austragen“, sagt Onay. | |
| In Sachen Bürokratieabbau wird in Hannover seit längeren eine „Sozialkarte�… | |
| diskutiert. Das sei nicht zu verwechseln mit der Umstellung von | |
| Geldzahlungen, die Geflüchtete derzeit nach dem Asylbewerberleistungsgesetz | |
| bekommen, auf Sachleistungen, wie es vielfach gefordert werde, betont der | |
| Onay. Vielmehr will Hannover eine Debitkarte einführen, mit der | |
| Geflüchtete, aber auch andere Sozialleistungsempfänger ohne eigenes Konto, | |
| an der Supermarktkasse zahlen oder ihren Regelsatz am Geldautomaten abheben | |
| können. Hannover will diese Karte bereits bis Ende des Jahres einführen. | |
| „Das verschlankt und entbürokratisiert den Auszahlungsprozess erheblich und | |
| eröffnet neue Wege für soziale Teilhabe“, sagt Sozialdezernentin Sylvia | |
| Bruns (FDP). Bisher mussten diese Menschen jedes Mal am Anfang des Monats | |
| Schlange stehen, um den Auszahlungsschein der Behörde bei der Sparkasse | |
| einzulösen. Auch der Städte- und Gemeindebund hat sich inzwischen [2][vor | |
| dem Bund-Länder-Gipfel für eine bundweit einheitliche Bezahlkarte] – eine | |
| Art Giro- oder Debitkarte – ausgesprochen. | |
| Bei der Unterbringung der Geflüchteten will man nicht, wie im vergangenen | |
| Jahr, als viele Geflüchtete aus der Ukraine kamen, auf Zeltstädte in | |
| Messehallen zurückgreifen müssen. Stattdessen versucht die Stadt es mit | |
| einem mehrstufigen System aus großen Notunterkünften, zum Beispiel in | |
| leerstehenden Schulen oder in der alten Feuerwache. Von da sollen die | |
| Geflüchteten möglichst rasch umziehen in kleinere Gemeinschaftsunterkünfte | |
| im gesamten Stadtgebiet, dann in Wohnprojekte oder in eigene Wohnungen. | |
| Deshalb ist die Frage nach Kapazitäten oder Kapazitätsgrenzen aber auch | |
| nicht so leicht zu beantworten: Ständig werden neue Immobilien gesucht und | |
| hergerichtet oder sogar neu gebaut, alte dagegen abgestoßen. Vor allem | |
| provisorisch hergerichtete Gewerbeimmobilien sind kostenmäßig oft ein | |
| Albtraum, sagt ein Fachmann aus dem Bereich Unterbringung. Sie seien | |
| schlecht beheizbar und entsprächen oft nicht den Brandschutzbestimmungen, | |
| so dass mehr Sicherheitsleute eingesetzt werden müsse, um als Brandwache zu | |
| fungieren. Weil sie auch bei Leerstand hohe Kosten produzierten, versuche | |
| man sie schnell wieder loszuwerden. | |
| Aktuell sind die städtischen Unterkünfte zu 91 Prozent belegt, sagt die | |
| Sozialdezernentin. 6.068 geflüchtete Personen sind in städtischen | |
| Unterkünften untergebracht, nur 1.270 von ihnen sind Ukrainer*innen. Die | |
| erneute Landeszuweisung von 823 Geflüchteten in den nächsten sechs Monaten | |
| sei eine Herausforderung, aber zu bewältigen. Allerdings, räumt der | |
| Oberbürgermeister ein, gerate das System da ins Stocken, wo der angespannte | |
| Wohnungsmarkt dafür sorgt, dass die Menschen länger in den Unterkünften | |
| bleiben müssten, als eigentlich gewünscht. Eigentlich strebt man nämlich | |
| eine Verweildauer von maximal zwei bis drei Wochen an, das lässt sich aber | |
| nicht mehr überall halten. | |
| Deshalb plant man nun auch in Hannover eine große Notunterkunft aus | |
| Leichtbauhallen. Die haben aus der Sicht der Stadt den Vorteil, dass sie | |
| eher einer festen Behausung gleichen als Zelte – aber gleichzeitig | |
| flexibler belegt und je nach Bedarf erweitert oder eingelagert werden | |
| können. | |
| Aus der Sicht mancher Flüchtlingshelfer sind viele Probleme in den | |
| überlasteten Kommunen hausgemacht. Die jeweils zuständige Ausländerbehörde | |
| könne beispielsweise relativ leicht für Entlastung sorgen, in dem man | |
| Duldungen längerfristig gestalte und Arbeitsgenehmigungen großzügiger | |
| erteile – statt die Leute zu zwingen, alle paar Monate erneut | |
| vorzusprechen, glaubt Frank Steinlein vom Unterstützerkreis | |
| Flüchtlingsunterkünfte. | |
| Tatsächlich hat das Bundeskabinett vergangene Woche Regelungen beschlossen, | |
| die es Geflüchteten mit einer Duldung erleichtern soll, Arbeit zu finden. | |
| Bisher konnte jede Ausländerbehörde eigenmächtig darüber entscheiden, ob | |
| sie überhaupt eine Arbeitserlaubnis bekommen. Geduldete sind Geflüchtete, | |
| die zwar ausreisepflichtig sind, aber nicht abgeschoben werden können – | |
| etwa, weil sie krank sind oder keine Papiere haben. Asylbewerber im | |
| laufenden Verfahren sollen zudem schon nach sechs Monaten, statt wie bisher | |
| erst nach neun Monaten, auf Jobsuche gehen dürfen. | |
| Ein weiteres Problem sind aus Sicht der Flüchtlingshelfer allerdings die | |
| bürokratischen Wohnsitzauflagen, erzählt Steinleins Vorstandskollege Reiner | |
| Melzer: „Wir hatten hier schon Fälle, wo ein junger Mann gezwungen war, zu | |
| seiner Ausbildungsstelle im Harz zu pendeln, weil er nicht umziehen durfte. | |
| Ein anderer musste seinen unterschriebenen Mietvertrag zurückgeben, weil | |
| die Wohnung kurz hinter der Stadtgrenze lag.“ | |
| ## Salzgitter will gar nicht mehr aufnehmen | |
| Es gibt auch Kommunen, die überhaupt nicht mehr gewillt sind, Geflüchtete | |
| aufzunehmen. Salzgitter hat beispielsweise gerade wieder beim Land | |
| Niedersachsen eine Ausnahme von der Flüchtlingszuweisung erwirkt – als | |
| einzige Kommune in Niedersachsen. Denn Salzgitter hat viel günstigen | |
| Wohnraum und große ausländische Communities, die wiederum Nachzügler | |
| anziehen. Man befürchte deshalb die Entstehung von Parallelgesellschaften, | |
| sagt Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU). Die Geflüchteten treffen in | |
| Salzgitter auf Engstellen in einer kaputt gesparten und vom | |
| Fachkräftemangel gebeutelten Infrastruktur in Schulen, Kitas und sozialen | |
| Einrichtungen. | |
| Dazu kommt die strukturelle Unterfinanzierung der Haushalte: Auch Hannover | |
| ist erst im August von der Kommunalaufsicht aufgefordert worden, mehr | |
| einzusparen. Die Stadt steuert auf ein dreistelliges Millionendefizit zu. | |
| Von den Kürzungen betroffen sind die freiwilligen Leistungen: Sportvereine, | |
| Kultureinrichtungen, Jugendzentren. Einrichtungen, die wiederum viel von | |
| dringend benötigter Integrationsarbeit auch für Geflüchtete leisten. | |
| 6 Nov 2023 | |
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| Nadine Conti | |
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