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# taz.de -- Sanktionen gegen russische Oligarchen: Putins Lieferant
> Sergei Kolesnikow besitzt eine deutsche Fabrik. taz-Recherchen zeigen: Er
> verdient auch am Ukraine-Krieg. Aber warum wird er nicht sanktioniert?
Bild: Sergei Kolesnikow bei einem Biathlonwettbewerb im Dezember 2022
Im März 2022 schickt ein Großhändler für Dachdeckerbedarf einen Brief an
seine Kunden in Deutschland. [1][Wenige Wochen zuvor hat Russland die
Ukraine überfallen.] Die Folgen bekommt auch die Baubranche zu spüren. Der
Krieg treibe die Energie- und Rohstoffpreise in die Höhe und damit auch die
Preise für Baustoffe, schreibt der Großhändler. Er listet auf: Dachziegel
15 bis 20 Prozent teurer, Glaswolldämmung 15 Prozent teurer,
Bitumenabdichtungen 12 bis 16 Prozent teurer.
Der Großhändler hat Maßnahmen ergriffen, auch über die informiert er in
seinem Brief: Mehr Baustoffe würden nun gelagert, Preisangebote gälten für
eine kürzere Zeit. Und dann folgt ein ungewöhnlicher Satz: „Als unseren
Beitrag zu den bereits von den Regierungen verhängten Sanktionen gegen
Russland und Belarus haben wir die Geschäftsbeziehungen zur Firma Georg
Börner Chemisches Werk für Dach- und Bautenschutz GmbH & Co. KG vorerst
eingestellt.“
Die Firma Georg Börner sitzt in Bad Hersfeld, einer Kleinstadt in
Osthessen. Sie ist auf Dachabdeckungen spezialisiert, genauer auf
Bitumenabdichtungen. Das sind jene, die laut dem Schreiben des
Großhändlers so teuer geworden sind. Bitumen wird aus Erdöl gewonnen. Bei
großer Hitze ist es eine zähe Flüssigkeit. Erkaltet kann Bitumen zu Bahnen
gewickelt werden. Es wird vor allem im Straßenbau eingesetzt, die Firma
Börner produziert damit Dachabdeckungen. Vereinfacht gesagt: Dachpappe.
Seit knapp 150 Jahren werden mit Börners Materialien die Dächer von
Wohnanlagen, Fabrikhallen und Kurkliniken bestückt. Bis vor sechs Jahren
war das Unternehmen in der Hand der Nachfahren des Gründers Georg Börner –
ein Familienunternehmen in fünfter Generation. Im Jahr 2017 kaufte sich ein
russischer Unternehmer in die Firma ein.
Der Mann heißt Sergei Kolesnikow und ist einer von zwei Inhabern der
russischen Baustofffirma Technonicol. Er besitzt die Firma Georg Börner
heute zu 100 Prozent.
## Sanktionen? Nur in Polen
Technonicol sitzt in Moskau und gehört landesweit zu den größten
Herstellern von Bau- und Dämmstoffen. In den vergangenen 20 Jahren hat
Technonicol sich auch nach Europa ausgebreitet. Nicht nur in Deutschland
hat Technonicol eine Firma gekauft, auch in Italien, Schottland, Litauen.
Zeitweise war es nach eigenen Angaben der größte Hersteller von
Dachabdichtungsbahnen in Europa.
Aber Technonicol liefert nicht nur Material für zivile, unpolitische
Bauwerke. Nach Recherchen der taz macht die Firma auch Geschäfte in zwei
Bereichen, die für Russlands Krieg in der Ukraine bedeutend sind: beim Bau
von Rüstungsfabriken und beim Wiederaufbau der russisch besetzten Gebiete
im Osten der Ukraine.
Zwar stecken die Baustoffe von Technonicol nicht direkt in den russischen
Bomben, die auf die Ukraine fallen – dafür aber offenbar in den Fabriken
und Firmengebäuden der Unternehmen, die Kriegsgerät und militärische
Ausrüstung bauen. Und sie stecken in Schulen, Kindergärten und
Heizkraftwerken, die Russland in der Ostukraine derzeit errichtet.
Da beendet also ein Großhändler seine Geschäftsbeziehungen zu einer
deutschen Firma, weil tausend Kilometer weiter östlich Russland die Ukraine
überfallen hat. Und die Europäische Union, die politisch und juristisch die
Möglichkeit hätte, dem russischen Bauunternehmer Sergei Kolesnikow die
Geschäfte zu erschweren?
Die EU hat Sergei Kolesnikow bis heute nicht sanktioniert. Er darf in der
EU reisen, handeln, sein Geld verwalten – nur nicht in Polen. Auch dort war
Sergei Kolesnikow an zwei Unternehmen beteiligt. Polen hat Kolesnikow im
Sommer sanktioniert und seine polnischen Firmen unter Zwangsverwaltung
gestellt. Er kann dort nun kein Geld mehr verdienen. Polen hat das allein
entschieden. Das ist ungewöhnlich.
Die taz hat Dokumente ausgewertet, aus denen hervorgeht, wie Sergei
Kolesnikow und seine Firmen vom russischen Krieg profitieren. Wie kann es
sein, dass er eineinhalb Jahre nach dem Überfall auf die Ukraine in
Deutschland und Europa weiter Geschäfte machen kann?
Die EU hat auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine mit umfassenden
Sanktionen reagiert. [2][Elf Sanktionspakete] hat sie verabschiedet. Darin
gelistet sind auch rund 1.800 russische Privatpersonen – Politiker,
Militärangehörige, Geschäftsleute. Sie dürfen nicht nach Europa reisen,
ihr Vermögen in Europa wurde eingefroren. „Diejenigen, die Putins
Kriegsmaschinerie am Laufen halten“, sagte Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen kurz nach Kriegsausbruch, „sollten nicht länger ihrem
pompösen Lebensstil frönen können, während Bomben auf unschuldige Menschen
in der Ukraine fallen.“
Die Bomben, die heute auf die Ukraine fallen, entstehen auch in
Unternehmen, für die Sergei Kolesnikow und seine russische Firma
Technonicol Baustoffe geliefert hat. Im Auftrag des russischen Staats. Der
taz liegen Dokumente vor, die zeigen, dass Technonicol mindestens zwischen
2014 und 2017 russische Rüstungsunternehmen beliefert hat sowie
Unternehmen, die neben der zivilen Sparte auch für die Rüstungsindustrie
produzieren. In diesen Firmen werden unter anderem Kampfhubschrauber,
Atom-U-Boote, Kriegsschiffe und militärisches Elektrogerät entwickelt oder
gebaut. Die Dokumente stammen von dem Portal, auf dem Russland seine
öffentlichen Ausschreibungen bekannt gibt. Aus Deutschland sind sie nicht
einsehbar, man bekommt sie nur, wenn man aus dem russischen Netz auf sie
zugreift. Sie zeigen größere und kleinere Aufträge.
Dass Technonicol diese Aufträge ausgerechnet ab 2014 erhalten hat, ist
pikant. Anfang 2014 beginnt der Krieg im Donbass: Im März 2014 annektiert
Russland die ukrainische Halbinsel Krim, im Osten der Ukraine unterstützt
es mit Kriegsgerät und Soldaten die prorussischen Separatisten. Im Mai 2014
bekommt Technonicol den Auftrag, Baumaterialien im Wert von vier Millionen
Rubel an die Progress Arsenyev Aviation Company zu liefern, eine Firma
in Ostrussland. In dieser Firma wird unter anderem der Kampfhubschrauber
Kamow Ka-52 Alligator hergestellt. Er gilt als einer der modernsten
Angriffshubschrauber und kommt auch jetzt in der Ukraine zum Einsatz.
Ukrainische Medien nennen ihn „Putins Geier“.
Im August 2014 bekommt Technonicol den Auftrag, Dachmaterialien an die
Firma Basalt zu liefern. Basalt ist einer der wichtigsten Waffenhersteller
Russlands, er gehört zur staatlichen Rüstungsgesellschaft Rostec. In den
Fabriken von Basalt werden Bomben hergestellt, die auch über der Ukraine
abgeworfen werden. Die EU hat Basalt sanktioniert.
Die taz hat Sergei Kolesnikow gefragt, warum er diese Unternehmen beliefert
hat. Kolesnikow antwortete freundlich, in perfektem Englisch: Mit der Firma
Progress sei er keinen Vertrag eingegangen und habe an sie keine Produkte
geliefert.
Die Verträge mit den anderen Firmen bestreitet er nicht, schreibt aber, er
könne nicht bewerten, ob diese Firmen tatsächlich Rüstungsfirmen seien. Mit
der Rüstungsindustrie gehe er keine Geschäfte ein. Alle Aufträge, die seine
Firma ausgeführt habe, seien für zivile Zwecke gewesen, nie für
militärische oder Dual-Use-Güter. „Wir haben weder den russischen
Streitkräften noch anderen aktiven Gruppen im Ukrainekrieg je Produkte
verkauft.“
Sergei Kolesnikow stamme aus einer einfachen sowjetischen Familie, so
formuliert es eine russische Webseite. Er ist 1972 an der Wolga geboren. Im
Jahr 1992, da ist Kolesnikow 20 Jahre alt, gründet er zusammen mit seinem
Studienfreund Igor Rybakow Technonicol, eine Firma für Dachmaterialien.
Kolesnikow und Rybakow kaufen in Russland eine Fabrik nach der anderen,
Ende der 90er herrschte Goldgräberstimmung in Russlands Baubranche. Der
Boom macht Kolesnikow und Rybakow reich. Heute sind beide Milliardäre.
Forbes führt Kolesnikow mit einem Vermögen von 1,2 Milliarden Dollar auf
der Liste der reichsten Menschen der Welt.
Und wer reich ist, hat Einfluss. Sergei Kolesnikow ist Mitglied in
verschiedenen russischen Wirtschaftsverbänden. Er ist Teil des Präsidiums
der Wirtschaftsvereinigung Business Russia. Beim elften Jahresforum von
Business Russia, 2019, diskutierte Kolesnikow mit Russlands Präsidenten
Wladimir Putin öffentlich die Rolle der russischen Wirtschaft. Fotos zeigen
die beiden zusammen auf der Bühne.
Im Dezember 2015 bekommt Sergei Kolesnikow eine Ehrenurkunde für sein
Engagement überreicht. Unter dem russischen Staatswappen, dem goldenen
Doppeladler auf rotem Grund, steht dort: „Anerkennung für das aktive
Engagement von Sergei Anatoljewitsch Kolesnikow, Mitglied im Präsidium des
Generalkonsuls der öffentlichen Organisation Business Russia“. Die Urkunde
ist von Wladimir Putin persönlich unterschrieben: schwarze Tinte über einem
Stempel des Präsidenten der Russischen Föderation. Gegenüber der taz
bestreitet Kolesnikow, enge Verbindungen zu Putin zu haben.
## „Made in Germany“
Sergei Kolesnikow ist mittlerweile offiziell auch Europäer. Im Jahr 2019
hat er sich die maltesische Staatsbürgerschaft erkauft wie viele russische
Oligarchen in den vergangenen Jahren. Auf Zypern besitzt er ein
Investmentunternehmen. „Ich bin maltesischer Staatsangehöriger“, schrieb er
kürzlich auf Facebook. Bis heute besitzen Kolesnikow und Rybakow jeweils 50
Prozent von Technonicol. Zwei Geschäftsmänner, die grundverschieden sind.
Igor Rybakow schreibt Bücher, produziert protzige HipHop-Videos, sucht die
Öffentlichkeit. Kolesnikow tritt kaum öffentlich auf. Er hat eine
Facebook-Seite, auf der präsentiert er sich als moderner Unternehmer.
Er postet Fotos von sich im Sportoutfit auf einem Berggipfel, dazu
schreibt er: „Explore, Dream, Discover.“ Er schreibt, wie sein Unternehmen
Plastikmüll reduziert, und gibt Karrieretipps für junge Leute: „Was würde
ich meinem 30 Jahre jüngerem Ich heute empfehlen? Nichts Magisches.“ Er
rät, die IT-Sphäre zu entdecken, sich um seine Gesundheit zu kümmern und
Englisch zu lernen. Ein Profil wie von einer PR-Agentur angelegt.
Im November 2017 sitzt Sergei Kolesnikow an einem langen Tisch mit rotem
Banner mitten in Deutschland. Pressekonferenz in Bad Hersfeld, Hessen. Ein
lokales Medium veröffentlicht das Foto und einen Bericht. Kolesnikow ist
mit einem Kollegen aus Moskau eingeflogen, um vor der Lokal- und Fachpresse
seine Übernahme der Firma Börner zu bekunden. Eine PR-Agentur hat den
Termin vorbereitet, es gibt Snacks und Getränke.
„Kräfte bündeln – Visionen verwirklichen“, steht auf dem Banner, hinter…
Kolesnikow sitzt. Darüber die Logos von Börner und Technonicol. Neben
Kolesnikow sitzen sein russischer Kollege und Michael Börner, der
Firmenerbe aus Bad Hersfeld.
Sergei Kolesnikow, der weltgewandte Geschäftsmann, spricht russisch. Eine
Dolmetscherin übersetzt. Kolesnikow schwärmt vom Qualitätsbegriff „Made in
Germany“. Elf Millionen Euro wolle er in Bad Hersfeld investieren, eine
neue Produktlinie entwickeln, Arbeitsplätze schaffen, berichtet das
Lokalmedium.
Michael Börner, der Firmenerbe, freut sich über den neuen Inhaber. Aber er
sagt auch: „Wir sind ein deutsches Unternehmen, und das bleiben wir auch.
Wir werden unsere Kultur im Unternehmen nicht verlieren.“
Später wird Michael Börner in einem perfekt inszenierten Werbevideo von
Sergei Kolesnikow auftreten und sagen, es sei emotional nicht einfach
gewesen, die „Generationsfirmenanteile“ zu verkaufen, „weil man einen Teil
seiner Familiengeschichte weitergibt oder weggibt“.
Sergei Kolesnikow schmückt sich mit dieser Firmengeschichte, auch in
Russland. Im Jahr 2019 eröffnet er eine Börner-Fabrik in Jelabuga mitten
in Russland. „Die 130-jährige Geschichte der berühmten deutschen Marke“ s…
nun auch Teil des neuen russischen Börner-Werks, heißt es in einer
Pressemitteilung von Technonicol.
Bei der Eröffnung preist Kolesnikow die gute deutsche Qualität, die hohen
Standards der Firma Börner. Im russischen Börner-Werk wird Bauschaum
hergestellt – und zwar, so wird es 2019 angekündigt, sowohl unter dem Label
Börner als auch unter dem Label Technonicol.
Für ein persönliches Gespräch mit der taz hat Michael Börner in diesen
Wochen keine Zeit. Aber seine Assistentin beantwortet Fragen per Mail. Das
Unternehmen sei damals in einer schwierigen Lage gewesen. Mit der
Investition von Herrn Kolesnikow habe man wieder Stabilität erlangen,
Arbeitsplätze sichern, das Produktionsangebot ausweiten können.
Davon, dass Technonicol auch die russische Rüstungsindustrie beliefere,
wisse man nichts, schreibt Michael Börners Assistentin. Und sie stellt
klar: Börner stelle keine Produkte für Technonicol her, kaufe keine
Rohstoffe aus Russland und liefere auch selbst weder nach Russland noch in
die besetzten Gebiete in der Ostukraine. Russland hat einen großen Teil der
Ostukraine eingenommen. Orte wie Cherson und Bachmut sind zum Inbegriff der
russischen Zerstörung geworden.
Die Bomben der russischen Armee haben aus diesen Städten Trümmerwüsten
gemacht. Putin will sie wiederaufbauen, verspricht blühende Landschaften.
In Telegram-Gruppen wie „Neues Mariupol“ wird der Baufortschritt bejubelt.
Wer die Berichte in diesen Gruppen und der russischen Presse verfolgt, der
findet Spuren von Technonicol überall in den besetzten Gebieten. In
Mariupol, der Stadt, die Putins Armee in Grund und Boden gebombt hat,
sollen in diesem Jahr 90 neue Bildungseinrichtungen entstehen, berichtet
eine russische Nachrichtenseite. Ein Foto zeigt die Baustelle, ein
eingerüstetes Haus, davor liegen Pakete gelber Dämmwolle mit dem Aufdruck
„Technonicol“. Im vergangenen Herbst berichtet eine andere Webseite vom
Wiederaufbau des Heizkraftwerks in Mariupol. Auch hier zeigt ein Bild
Paletten voller Technonicol-Pakete vor der Baustelle.
Und auch wer in der Krimregion, in den russisch besetzten Gebieten Donezk
und Luhansk Technonicol-Produkte kaufen will, der kann das bei lokalen
Baustoffhändlern tun.
Russland baut in den annektierten Gebieten auf, was es kaputt gebombt hat –
und Sergei Kolesnikow liefert die Baustoffe. Das bringt gutes Geld ein. Im
ersten Quartal 2022, als der Krieg ausbricht, habe sich der Umsatz der
Onlineverkäufe verfünffacht, vermeldet Technonicol selbst.
Auf taz-Nachfrage bestreitet Sergei Kolesnikow nicht, dass mit
Technonicol-Produkten in der Ostukraine gebaut wird. Aber er stellt klar:
„Wir sind kein Bauunternehmen, sondern nur ein Hersteller spezifischer
Produkte.“
## „Antirussische Stimmung“? Nicht hier
Zurück zur EU und ihrem Versuch, dem russischen Krieg etwas
entgegenzusetzen. Diejenigen, „die Putins Kriegsmaschinerie am Laufen
halten“, so hatte es die Kommissionspräsidentin der EU, Ursula von der
Leyen, formuliert, sollten nicht weiter dem Luxus frönen können. Lässt sich
das Geschäft Technonicols als Teil von Putins Kriegsmaschinerie begreifen?
Sergei Kolesnikow bestreitet das vehement. Seine Firma produziere
Baumaterialien ausschließlich für zivile Zwecke, schreibt er.
Die Sanktionsbehörden zweier Länder sehen das anders: Polen und die Ukraine
haben Kolesnikow bereits sanktioniert. Im Alleingang. Für die Ukraine ist
das nicht ungewöhnlich, sie ist nicht gebunden an das Vorgehen der EU, der
USA oder anderer Staaten. Im Oktober 2022 setzte die zuständige ukrainische
Behörde Sergei Kolesnikow auf die Sanktionsliste. Kolesnikow übe
kommerzielle Tätigkeiten in Wirtschaftssektoren aus, die eine wichtige
Einnahmequelle für die russische Regierung darstellten, so begründet die
Behörde ihre Entscheidung.
Ein gutes halbes Jahr später zog Polen nach – als einziger Staat der EU.
Polen sanktionierte Sergei Kolesnikow sowie seinen Geschäftspartner Igor
Rybakow und stellte die beiden Börner-Gesellschaften in Polen unter
Zwangsverwaltung. Polen war ein wichtiger Markt für Technonicol. Die Firma
hatte dort mehr investiert als in Deutschland.
Kolesnikow reagierte wütend auf die Entscheidung Polens. Auf seiner
Facebook-Seite veröffentlichte er einen Brief an den damaligen polnischen
Wirtschaftsminister. Auch gegenüber der taz kritisiert er das aus seiner
Sicht unfaire Vorgehen Polens. Dass Polen die Sanktionen allein erlassen
hat, hält Kolesnikow für illegal. Er hat dagegen Klage eingereicht vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er glaubt, dass seine
polnischen Konkurrenten die Sanktionierung vorangetrieben haben, um ihm
wirtschaftlich zu schaden.
Aus Ländern, in denen es eine „starke antirussische Stimmung“ gebe, werde
er sich zurückziehen, kündigte er vor wenigen Wochen in einer russischen
Tageszeitung an. Deutschland stehe noch nicht an der Spitze der
antirussischen Rhetorik. „Bisher haben wir gesehen, dass wir dort arbeiten
dürfen, sodass wir uns in Westeuropa mehr oder weniger sicher fühlen“,
sagte er im Zeitungsinterview.
Dass Polen Kolesnikow und seinen Geschäftspartner Igor Rybakow ohne die
anderen EU-Staaten sanktioniert hat, verwundert selbst Sanktionsexperten.
Eigentlich trifft die EU Sanktionsentscheidungen gemeinsam, so sehen es
auch die europäischen Verträge vor. Auf taz-Nachfrage wiegelt eine
Sprecherin der EU-Kommission ab: Die EU-Sanktionen würden zwar auf
europäischer Ebene beschlossen, umsetzen und kontrollieren müssten sie
allerdings die Mitgliedstaaten. „Das bedeutet, dass ein Land auch nationale
Sanktionen verhängen kann“, schreibt die Sprecherin.
Wieso ist das aber in diesem Fall überhaupt nötig? Wollten die anderen
EU-Staaten Kolesnikow nicht sanktionieren? Konnten sie nicht? Reichten
ihnen die Belege nicht?
Wer versucht, darauf eine Antwort zu finden, stößt auf verschlossene Türen.
Bis der Name einer Person auf einer Sanktionsliste landet, braucht es viele
Beratungen und eindeutige Belege. Einzelpersonen kommen dann auf die Liste,
wenn ihnen ein Bezug zum Krieg nachgewiesen werden kann. Der Kriegsbezug
kann weit gefasst sein, was heikel ist. Vor den europäischen Gerichten
klagen derzeit mehrere russische Oligarchen – einige haben Erfolg. Die EU
muss sie wieder von den Sanktionslisten streichen.
Spricht man mit Politikern, die die Sanktionsverfahren gut kennen,
verweisen die vor allem auf die Rechtssicherheit. Jede Listung muss so gut
begründet sein, dass sie auch vor Gericht standhält. Die Mitgliedstaaten
verhandeln untereinander, wer auf die Sanktionslisten kommt. Der
Beschluss muss einstimmig fallen unter allen 27 Mitgliedstaaten.
War Sergei Kolesnikow in diesen Runden bereits Thema? Die Sprecherin der
EU-Kommission schreibt auf taz-Nachfrage, die Beratungen seien vertraulich.
Nachfrage also beim Auswärtigen Amt. Eine offizielle Antwort gibt die
Pressestelle nicht. Aus Kreisen des Amts heißt es aber, Sergei Kolesnikow
sei dem Auswärtigen Amt bekannt.
Die Ukraine fertigt jeden Monat Dossiers über russische Oligarchen an, die
in der EU noch nicht sanktioniert sind. Diese Dossiers schickt die dortige
Behörde an den diplomatischen Dienst der EU. Im September hat die Ukraine
das Dossier zu Kolesnikow angefertigt und verschickt. Es liegt der taz vor.
Darin führt die Sanktionsbehörde unter anderem auf, welche russischen
Rüstungsunternehmen von Technonicol nach 2014 beliefert wurden. Die
ukrainischen Beamten kommen zu dem Schluss: „Verträge mit
Rüstungsunternehmen und militärischen Gruppen Russlands, die in dieser Zeit
geschlossen wurden, sind ein direkter Beleg für die materielle
Unterstützung des Kriegs.“ Sergei Kolesnikow sei direkt verantwortlich für
das Material und die finanzielle Unterstützung des Kriegs in der Ukraine.
Fragt man nach beim diplomatischen Dienst der EU, was aus diesem Dossier
wurde, heißt es auch dort: Zu Einzelfällen äußere man sich nicht.
Zurück nach Bad Hersfeld, zur Dachpappenfabrik Georg Börner. Michael
Börner, der Geschäftsführer, hat nach Beginn des Kriegs viele Gespräche mit
verunsicherten Kunden geführt. Der Dachdeckergroßhändler vom Beginn des
Textes war vermutlich nicht der Einzige, der die Geschäftsbeziehungen zu
Börner beendet hat. Einige Unternehmen hätten ihn aufgrund der „veränderten
geopolitischen Lage“ kontaktiert, schreibt Michael Börner auf
taz-Nachfrage. Er habe sorgfältig erklärt, dass die Georg Börner GmbH ein
deutsches Unternehmen sei, nach deutschem Recht arbeite und nicht mit
russischen Rohstoffen produziere. Damit sei es ihm gelungen, die
„überwiegende Mehrheit“ der geschäftlichen und sozialen Beziehungen
aufrechtzuerhalten.
Mitarbeit: Anastasia Magazowa, Kateryna Reznikowa
5 Nov 2023
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## AUTOREN
Jean-Philipp Baeck
Anne Fromm
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