# taz.de -- Gründe für Chinas Wirtschaftsflaute: Peking im Systemdilemma | |
> Chinas einstiges Erfolgsmodell gelangt an seine Grenzen. Fast alle | |
> Experten glauben, mehr „Kapitalismus“ könnte eine Lösung sein. | |
Bild: Das Hochgeschwindkeits-Bahnnetz ist bereits ausgebaut: Züge in einer War… | |
Peking taz | Nach der Panik folgt nun die Verschnaufpause: Es scheint, als | |
würde sich die chinesische Volkswirtschaft doch noch etwas erholen. Die | |
jüngsten, leicht verbesserten Zahlen für August wurden von der Staatspresse | |
regelrecht in den Himmel gelobt. Und auch der Internationale Währungsfonds | |
(IMF) geht zumindest davon aus, dass die Volksrepublik ihr Wachstumsziel | |
von 5 Prozent für 2023 erreichen wird. Angesichts [1][der niedrigen | |
Ausgangslage vom Lockdown-Vorjahr] vielleicht kein Grund zum Jubeln – aber | |
eine handfeste Krise sieht tatsächlich anders aus. Oder? | |
Über kaum eine Volkswirtschaft streiten sich die Geister derart wie bei | |
China. Das hat mit der geopolitischen Polarisierung zu tun, die extreme | |
Sichtweisen begünstigt – Untergangsapologeten auf der einen Seite, die | |
Vorstellung übermächtiger Fähigkeiten der Planer in Peking auf der anderen. | |
Führende Ökonomen rufen dazu auf, sich nicht mit dem Tagesgeschehen | |
aufzuhalten. Stattdessen solle man die chinesische Volkswirtschaft vor | |
allem systemisch betrachten, um die strukturellen Probleme des Landes zu | |
erkennen. Denn diese reichen weit tiefer als die zunehmend erratische | |
Wirtschaftspolitik Xi Jinpings und die nationalistische Stimmung im Land. | |
Einigkeit herrscht über den Status quo. Die Immobilienkrise verschärft sich | |
weiter, nachdem neben dem Bauentwickler Evergrande nun auch noch Country | |
Garden die Liquidierung droht. Die [2][Jugendarbeitslosigkeit befindet sich | |
sicherlich auf einem Rekordniveau], selbst wenn das Statistikamt seit | |
August keine Zahlen mehr veröffentlicht. Und auch der Konsum hat sich knapp | |
zehn Monate nach Ende der „Null Covid“-Maßnahmen nicht vollständig erholt. | |
## Welche Rolle spielt Xi Jinping? | |
Über die Interpretation der Daten herrscht jedoch Uneinigkeit. Viele | |
Experten machen vor allem Xi Jinping mit seiner teils | |
unternehmerfeindlichen Politik für die aktuelle Misere verantwortlich. Und | |
es lässt sich kaum abstreiten, dass der 70-Jährige das Wachstum des Landes | |
lähmt: Die [3][flächendeckende Bevorzugung der Staatsbetriebe] trübt die | |
Zuversicht der Privatwirtschaft, [4][die Überregulierung des Tech-Sektors] | |
hat zu einer regelrechten Entlassungswelle geführt und das jüngste | |
Anti-Spionage-Gesetz stößt insbesondere westliche Unternehmen vor den Kopf. | |
Doch Ökonomen wie Michael Pettis vom Carnegie Endowment Center | |
argumentieren, dass man den Einfluss der Person Xi nicht überschätzen | |
solle. Und in der Tat hat der US-Volkswirt mit Sitz in Peking bereits vor | |
zehn Jahren die heutigen Entwicklungen messerscharf prognostiziert. | |
Jahrzehntelang fußte das chinesische Wachstum vor allem auf drei Säulen – | |
Immobilien, Infrastrukturinvestitionen und Exporte. Seit der Pandemie haben | |
jedoch nur die Ausfuhren weiter gut funktioniert, wobei selbst diese | |
derzeit unter der global schwachen Nachfrage zu leiden haben. Die anderen | |
Wachstumspfeiler haben sich ausgeschöpft, allen voran die | |
Infrastrukturinvestitionen. China verfügt bereits über das | |
[5][flächendeckendste Hochgeschwindigkeits-Zugnetz], über unzählige Brücken | |
sowie hochmoderne Autobahnen bis in die hintersten Ecken des Landes. Die | |
Kapitalrenditen schrumpfen, der Bedarf ist schlicht nicht mehr da. Zudem | |
haben sich die Lokalregierungen immer tiefer verschuldet, Experten gehen | |
von über zehn Billionen Euro aus. | |
## Luft raus aus der Blase | |
Beim Immobiliensektor ist das Wachstumsmodell noch deutlich spektakulärer | |
geplatzt. Kernursache auch hier: politische Restriktionen. Die | |
kommunistische Verfassung sieht vor, dass Privatleute keinen Grund besitzen | |
dürfen, sondern den Lokalregierungen nur 70-jährige Nutzungsrechte abkaufen | |
können. Diese haben die Preise künstlich in die Höhe getrieben und die | |
Immobilienblase damit befeuert. | |
Dass die Bevölkerung dennoch bis zu drei Viertel ihrer Ersparnisse in den | |
Wohnungsmarkt geparkt hat, liegt am Mangel an Alternativen. Denn Chinesen | |
haben praktisch keinen Zugang zu internationalen Finanzmärkten. Ergebnis: | |
Laut einer Harvard-Studie standen bereits 2017 über 65 Millionen Wohnungen | |
leer. | |
Es besteht also kein Zweifel daran, dass China sein Wachstumsmodell | |
transformieren muss. Fast alle Experten schlagen das Gleiche vor. Es | |
brauche kurzfristig makroökonomische Unterstützung und langfristige | |
Reformen, sagte eine IWF-Sprecherin kürzlich. | |
[6][EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis] wurde während seines aktuellen | |
Peking-Besuchs konkreter: Die Regierung solle ein Stimulus-Paket schüren, | |
um den Konsum anzutreiben. Und langfristig müsse man ohnehin vom rein | |
investment- und exportgetriebenen Wachstum zum konsumgetriebenen Wachstum | |
gelangen. | |
## Konsum soll die Lösung sein | |
Die Zahlen lassen daran wenig Zweifel. In keiner anderen großen | |
Volkswirtschaft verfügt die Bevölkerung über weniger verfügbares Einkommen. | |
Gleichzeitig liegt die Sparquote, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, bei | |
derzeit 44 Prozent. Der Wert liegt in Deutschland bei unter 30 Prozent, in | |
den USA sogar unter 20 Prozent. | |
Laut Desmond Shum – ehemaliger Bauentwickler in Peking, mittlerweile | |
Regime-Kritiker im britischen Exil – habe die Regierung in Peking das | |
Problem zwar erkannt. Dennoch glaubt der 56-Jährige nicht an einen | |
Transformationsprozess: „Denn dies bedeutet unweigerlich eine Umverteilung | |
der Macht“, analysiert Shum auf X, ehemals Twitter. | |
Die Parteiführung ist bislang nicht gewillt, mehr Ressourcen an das Volk | |
und die Privatwirtschaft abzugeben. Privatunternehmer wie | |
[7][Alibaba-Gründer Jack Ma, die maßgeblich zum Wohlstand des Landes | |
beigetragen haben, wurden in den letzten Jahren immer wieder in die | |
Schranken verwiesen], sobald ihre Macht für die kommunistische Partei zu | |
bedrohlich wurde. | |
Insofern ist das wirtschaftliche Problem unmöglich vom politischen | |
Grunddilemma der Volksrepublik China zu trennen. Wer Rechtsstaatlichkeit | |
und freie Medien als „westliche Übel“ verteufelt, kann nicht gleichzeitig | |
die Vorzüge kapitalistischen Wohlstandswachstums erwarten. Irgendwann | |
schließen sich beide Konzepte gegenseitig aus. | |
„China muss sich entscheiden, [8][welche Art von Beziehung es mit | |
ausländischen Firmen haben möchte]“, sagte erst kürzlich Jens Eskelund, | |
Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Doch darüber hinaus | |
muss sich China auch ganz grundsätzlich entscheiden, welche Beziehung es | |
zur Marktwirtschaft haben möchte. Zumindest Xi Jinping scheint die Wahl | |
bereits getroffen zu haben. | |
2 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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