# taz.de -- Immobilienkrise in China: Evergrande wird aufgelöst | |
> Der chinesische Immobilienriese wird per Gerichtsanordnung abgewickelt. | |
> Das bringt die Regierung in Peking massiv unter Druck. | |
Bild: Das weltweit am höchsten verschuldete Unternehmen: Evergrade-Baustelle i… | |
Peking taz | Es ist vorbei für Evergrande. Chinas krisengeplagter | |
Immobilienriese habe in den letzten anderthalb Jahren „keinen | |
Umstrukturierungsvorschlag, geschweige denn überhaupt einen tragfähigen | |
Vorschlag“ vorgelegt, entschied die Hongkonger Richterin Linda Chan am | |
Montag. Die Interessen der Gläubiger seien daher „besser geschützt“, wenn | |
das Bauunternehmen nun endgültig abgewickelt würde. | |
Evergrande wird also [1][per Gerichtsentscheidung] aufgelöst. Seit Jahren | |
bereits [2][schwelt im Reich der Mitte eine Immobilienkrise], die wie ein | |
Bremspedal das Wachstum der Volkswirtschaft lähmt. Denn in keinem anderen | |
Staat von vergleichbarer Größe spielt die Baubranche eine derart große | |
Bedeutung für das Bruttoinlandsprodukt, und nirgendwo ist der soziale | |
Frieden so mit ihr verknüpft. | |
Die Causa Evergrande stellt dabei weder die erste noch die letzte Pleite | |
eines Immobilienkonzerns dar, doch mit Sicherheit ist es die | |
spektakulärste: Über 300 Milliarden Dollar Schulden hat Evergrande über die | |
Jahre angehäuft, mehr als jeder andere Konzern weltweit. Zum Glück für das | |
internationale Finanzsystem sind die allermeisten der Verbindlichkeiten in | |
Festlandchina verortet. | |
Das letzte Wort hat jetzt die kommunistische Parteiführung in Peking. Diese | |
ist – zumindest theoretisch – nicht dazu verpflichtet, das Hongkonger | |
Urteil tatsächlich umzusetzen. Es gilt allerdings als unwahrscheinlich, | |
dass Staatschef Xi Jinping ein umfassendes Rettungspaket für den gefallenen | |
Bauriesenschüren wird. In seinen Reden hatte der 70-Jährige mehrfach | |
klargemacht, dass die Unternehmen auch die Verantwortung für ihr Handeln | |
übernehmen müssten. | |
## Warum Evergrande für ganz China wichtig ist | |
Denkbar wäre allerdings sehr wohl eine Art „chinesischer Sonderweg“, wie | |
Jacob Gunter von der Berliner Denkfabrik Merics argumentiert: Demnach würde | |
Peking zwar grundsätzlich mit der angeordneten Liquidierung von Evergrande | |
fortfahren, jedoch den Prozess etwas abfedern und verlangsamen. | |
Für die auf Stabilität bedachte Zentralregierung steht bei der | |
Immobilienkrise indirekt auch ihre Existenz auf dem Spiel: Allein durch die | |
Evergrande-Pleite dürften weit über eine Million chinesische Haushalte auf | |
Immobilien sitzenbleiben, die sie zwar bereits bezahlt haben, die jedoch | |
niemals fertig gebaut werden – wenn nicht der Staat einspringt. | |
Jeder einzelne Fall ist in den Augen Pekings eine tickende Zeitbombe. Wenig | |
fürchtet die Parteiführung mehr, als dass die urbane Mittelschicht gegen | |
den Machtanspruch der KP aufbegehrt. Deren Legitimation beruht schließlich | |
seit der wirtschaftlichen Öffnung in den 1980ern auf einem | |
unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag: Das Volk gibt seine politische | |
Mitbestimmung ab, erwartet aber von seiner Regierung, dass sie für stetig | |
wachsenden Wohlstand sorgt. | |
Mit der Pandemie ist das Wachstumsversprechen jedoch ins Stocken geraten, | |
woran die Immobilienkrise einen großen Anteil hat. Der jetzige | |
Scherbenhaufen kommt keineswegs überraschend, sondern ist vielmehr eine | |
Krise mit Ansage. Über etliche Jahre hat sich schließlich die | |
Immobilienblase in der Volksrepublik – trotz der Warnungen von Experten – | |
immer weiter aufgebläht. | |
Die riskanten Schneeball-Kredite gieriger Bauentwickler wie Evergrande | |
waren jedoch nur ein Teil des Problems. Denn auch der Staat profitierte als | |
Nutznießer dieses Systems: Da die Bürgerinnen und Bürger im kommunistischen | |
China per Verfassung kein Land besitzen dürfen, sondern dieses nur auf | |
maximal sieben Jahrzehnte gepachtet bekommen, stand den Lokalregierungen im | |
Immobiliensektor eine scheinbar unerschöpfliche Goldgrube zur Verfügung. | |
Wann immer die öffentliche Hand knapp bei Kasse war, konnte sie die | |
Nutzungsrechte für neues Bauland verkaufen – und dies bevorzugt zu | |
astronomischen Preisen. Die Privathaushalte haben große Teile ihres | |
Ersparten – manche Experten gehen von über 70 Prozent aus – im | |
Wohnungsmarkt geparkt. Aufgrund der strengen Kapitalkontrollen können sie | |
ihr Geld nicht ins Ausland bringen, und innerhalb Chinas stehen ihnen nur | |
begrenzte Anlagemöglichkeiten zur Verfügung. | |
Der heimische Aktienmarkt ist aufgrund des politisch disruptiven Systems | |
keine Alternative: Die Kurse befinden sich branchenübergreifend seit Jahren | |
auf einer regelrechten Talfahrt. Die Immobilienpreise stiegen hingegen | |
rasant an. Doch auf ewig konnte das Geschäft nicht gut gehen. Denn auch der | |
Leerstand wuchs mit atemberaubender Geschwindigkeit, überall säumen | |
mittlerweile riesige Bauruinen die chinesischen Vorstädte. | |
## Mehr leere Wohnungen als Chinesen | |
Wie massiv das Problem der Überkapazitäten ist, schilderte im letzten | |
Herbst der ehemalige Vize-Direktor des Statistikamts He Keng: Er geht davon | |
aus, dass wohl selbst die gesamte chinesische Bevölkerung von 1,4 | |
Milliarden nicht ausreichen würde, um alle leerstehenden Wohnungen zu | |
füllen. | |
Erst Ende 2020 zog die Regierung die Reißleine: Xi Jinping ordnete seinen | |
Banken an, Kredite für Immobilienfirmen an strengere Kriterien zu knüpfen. | |
Über Nacht begannen die Bauentwickler an zu taumeln – es dauerte nicht | |
lange, bis auch diejenigen pleitegingen, denen noch wenige Monate zuvor ein | |
gesundes Geschäftsmodell nachgesagt wurde. Evergrande war bereits [3][seit | |
anderthalb Jahren zahlungsunfähig], doch bekam immer wieder vom Staat | |
zeitlichen Aufschub. Genutzt hat es am Ende nichts. | |
Die Nachricht über die Evergrande-Pleite wurde im streng zensierten | |
chinesischen Internet geradezu stiefmütterlich behandelt, als ob es sich um | |
eine bloße Randnotiz handeln würde. Die englischsprachige Staatspropaganda | |
erwähnte das Thema selbst am späten Nachmittag mit keiner Silbe, die | |
chinesischsprachigen Medien platzierten die Nachricht wenig prominent auf | |
ihren Webseiten. | |
Wer aber gezielt auf der Onlineplattform [4][Weibo] sucht, der wird mit dem | |
geballten Frust der chinesischen Internetnutzer konfrontiert, die keine | |
Illusion darüber haben, wer am Ende die Last für die gestrauchelten | |
Immobilienriesen tragen muss. „Es ist eine Ehre, für unser Land zu zahlen“, | |
kommentiert etwa ein User zynisch. | |
Ein anderer meint: „Es ist wieder Zeit, das Lauch zu schneiden.“ Sein | |
Posting spielt auf eine gängige Metapher an, bei der sich der Volksmund mit | |
der schnell wachsenden Nutzpflanze vergleicht, die regelmäßig vom | |
übermächtigen Staat geerntet wird. | |
29 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://legalref.judiciary.hk/lrs/common/search/search_result_detail_frame.… | |
[2] /Gruende-fuer-Chinas-Wirtschaftsflaute/!5964312 | |
[3] /Immobilienriese-meldet-Konkurs-in-USA-an/!5954482 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Sina_Weibo | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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