# taz.de -- Handel mit Schengen-Visa in Polen: Erklärungsnot – kurz vor der … | |
> Polens Regierung steht wegen einer Visa-Schmiergeldaffäre unter Druck. | |
> Aber sie sorgt dafür, dass die Bevölkerung davon kaum etwas erfährt. | |
Bild: Ein Soldat läuft am Grenzzaun auf der polnischen Grenze zu Belarus entla… | |
Warschau taz | Die offiziellen Zahlen der [1][Visa-Korruptionsaffäre] waren | |
nur kurz online auf der Website des polnischen Außenministeriums abrufbar. | |
Wöchentlich veröffentlicht das Rechercheportal Demagog | |
Factchecking-Berichte, und dort ist die „Ghost Site“ noch im Internetarchiv | |
zu finden. | |
Und Polens Gesellschaft hat Probleme, die Affäre richtig einzuordnen. Zwar | |
ist einer repräsentativen Umfrage des Instituts IBRIS zufolge knapp die | |
Hälfte der Polen überzeugt, dass „die ganze Regierung“ an der | |
Visa-Korruptionsaffäre schuld sei, aber über 30 Prozent versteht gar nicht, | |
worum es überhaupt geht oder hat noch nie von der Affäre gehört. | |
Das liegt auch daran, dass der Staatssender TVP und die anderen PiS-nahen | |
Medien sehr wenig über die Affäre berichten, und wenn, dann im Ton der | |
Anklage gegen die Opposition. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verlangt | |
von Polen umfassende Aufklärung über die Visavergaben in polnischen | |
Konsulaten in Asien und Afrika. | |
Auch in der belarussischen Hauptstadt Minsk soll es möglich gewesen sein, | |
polnische Visa gegen Schmiergeld zu erhalten. Polens Außenministerium soll | |
der Europäischen Kommission bis zum 3. Oktober elf Fragen zur Visa-Affäre | |
beantworten, also bis zwölf Tage vor den Wahlen in Polen. Welche | |
Konsequenzen drohen, sollte Warschau die Frist verstreichen lassen, ist | |
nicht bekannt. | |
## Migranten werden jeden Abend als Kriminelle präsentiert | |
Junge schwarze Männer, die Messer schwingen und Steine schmeißen, | |
kilometerlange Karawanen „Illegaler“, die nach Europa ziehen, wieder | |
Schwarze, die wutentbrannt die Straßen von Paris anzünden, Autos | |
zertrümmern und Läden plündern. Diese Bilder zeigt Polens Staats- und | |
Propagandafernsehen TVP fast jeden Abend in den Hauptnachrichten. Dann ein | |
Schnitt und Bilder vom fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun mit der | |
Stacheldrahtrolle obendrauf und Grenzsoldaten, die entlang dieser sicheren | |
polnisch-belarussischen Grenze patrouillieren. | |
Das Problem: die Bilder haben nicht viel mit der Realität zu tun. Unter der | |
nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist | |
[2][Polen zum neuen Tor für irregulär Geflüchtete] in die Europäische Union | |
(EU) geworden. Viele Migranten kommen dabei mit einem polnischen | |
Arbeitsvisum in die EU, das sie bei korrupten Vermittlern und polnischen | |
Konsulatsangestellten in Asien und Afrika gekauft haben. | |
Als Bundeskanzler Olaf Scholz gegen die nur schleppend anlaufenden | |
Ermittlungen in Polen protestierte, reagierte der polnische Außenminister | |
Zbigniew Rau beleidigt: „Die Kanzlerkompetenz erstreckt sich nicht auf ein | |
in Polen laufendes Verfahren.“ Scholz solle sich nicht in die inneren | |
Angelegenheiten Polens und den dort laufenden Wahlkampf einmischen, schrieb | |
Rau auf der Social-Media-Plattform X. | |
Auch Justizminister Zbigniew Ziobro fühlte sich düpiert: „Das ist eine | |
außergewöhnliche Frechheit!“. Kulturminister Piotr Glinski beschwerte sich: | |
„Deutschland will in Europa regieren und alle belehren. Das können wir | |
nicht zulassen!“ Dann rief auch noch Premier Morawiecki in einer | |
Wahlveranstaltung dem weit entfernten Amtskollegen zu: „Olaf! Misch Dich | |
nicht in unsere Angelegenheiten ein!“ | |
Dabei hatte Scholz lediglich gesagt: „Ich möchte nicht, dass aus Polen | |
einfach durchgewinkt wird und wir dann hinterher die Diskussion führen, | |
über unsere Asylpolitik.“ Vielmehr müsse es so sein, „dass, wer in Polen | |
ankommt, dort registriert wird und dort ein Asylverfahren macht“ – und | |
nicht Visa, die irgendwie für Geld verteilt worden seien, das Problem noch | |
vergrößerten. | |
## Um 156 Prozent ist Einwanderung gegenüber 2022 gestiegen | |
Hintergrund seiner Kritik sind die über 18.000 Migranten, die seit | |
Jahresbeginn aus Polen kommend in Deutschland um Asyl gebeten haben. Das | |
ist gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von 156 Prozent. Warum | |
Deutschland die meisten dieser Asylbewerber nicht nach Polen als sicherem | |
Erstaufnahmestaat zurückweist, ist unklar. | |
Für Polens demokratische Opposition, sei dies nun die liberalkonservative | |
Bürgerplattform (PO), das Mitte-Rechts-Parteienbündnis Dritter Weg (Trzecia | |
Droga) oder Die Linke (Lewica), kommt die Affäre wie gerufen. [3][Am 15. | |
Oktober stehen Parlamentswahlen an]. „Dies ist die größte Affäre Polens in | |
diesem Jahrhundert“, ruft Donald Tusk von der PO auf allen | |
Wahlkampfveranstaltungen. Da verkünde die PiS großartig als Wahlkampfmotto, | |
„Eine sichere Zukunft der Polen“, bringe dann aber mit ihrer | |
Migrationspolitik nicht nur Polen, sondern gleich ganz Europa in große | |
Gefahr. | |
Szymon Holownia vom Dritten Weg ist überzeugt: „Das ist keine Korruptions-, | |
sondern eine Schleuser-Affäre. Wir alle erinnern uns an die brutalen | |
Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze. Und heute wissen wir, dass | |
diese Leute einfach Pech hatten und ihre Eintrittskarte in die Europäische | |
Union beim falschen Schleuser gekauft hatten.“ Dass eine polnische | |
Regierung selbst als Schleuser tätig würde, sei bis vor Kurzem noch | |
unvorstellbar gewesen. | |
Włodzimierz Czarzasty von der Linken warf dem PiS-Parteichef Jarosław | |
Kaczyński vor: „Dein Bruder hat uns in den Schengen-Raum geführt, und Du | |
führst uns wieder hinaus!“ | |
## Schmiergeldzahlungen für Visa | |
In den letzten zweieinhalb Jahren hat Polen laut Außenministerium fast zwei | |
Millionen Visa ausgestellt, davon 1,5 Millionen an Ukrainer und Belarussen. | |
Knapp 375.000 Visa erhielten Bürger anderer Staaten. Dabei stammen die drei | |
größten Gruppen aus der Türkei (51.000), Russland (knapp 45.000) und Indien | |
(44.000). Danach folgen Bürger aus Kasachstan, Usbekistan, Georgien, den | |
Philippinen, China, Moldawien, Aserbaidschan und Armenien. | |
Die Vorwürfe in der [4][Visa-Korruptionsaffäre] beziehen sich allein auf | |
polnische Konsulate in Asien und Afrika. Dort wurden in den letzten 30 | |
Monaten 250.000 Visa ausgestellt. Die Zahl irregulär aufgrund von | |
Schmiergeldzahlungen ausgestellten polnischen Visa kennt zurzeit niemand. | |
Die Papiere erlauben einen zeitlich befristeten Aufenthalt in Polen und das | |
Reisen in alle Schengen-Staaten. Mehrfach-Visa Polens ermöglichen die | |
Einreise nach Mexiko, von wo aus etliche Migranten illegal in die USA | |
eingereist seien. Washington habe sich darüber in Warschau beschwert, heißt | |
es in unabhängigen Medien Polens. | |
Viele der mit polnischen Arbeitsvisa ausgestatteten Migranten aus Asien und | |
Afrika traten in Polen nie Jobs an. Da tausende Antragssteller offenbar | |
kaum oder gar nicht überprüft wurden, ist unklar, ob sie eine potenzielle | |
Gefahr darstellen. Niemand weiß, wo die Menschen sich aktuell aufhalten. | |
Polen hat inzwischen den meisten Visa-Agenturen gekündigt, gibt offiziell | |
aber den Schwarzen Peter an die Slowakei weiter. Die neue Balkanfluchtroute | |
verlaufe durch das Nachbarland. An der polnisch-slowakischen Grenze sollen | |
nun Busse, Transporter und Lkws verstärkt kontrolliert werden. | |
28 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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