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# taz.de -- Rechte Regierungspartei in Polen: Wahlkampf mit Pseudoreferendum
> Parallel zur Parlamentswahl am 15. Oktober wird ein Volksentscheid in
> Polen stattfinden. Die vier Fragen wurden am Donnerstag im Parlament
> debattiert.
Bild: Er sagt „Nein“: Polens Premierminister Mateusz Morawiecki
Warschau taz | Auf Polens Bürgerinnen und Bürger wartet ein seltsamer
Wahltag: Am Sonntag, dem 15. Oktober, sollen sie nicht nur über die
Zusammensetzung von Sejm und Senat, die beiden Kammern des polnischen
Parlaments, entscheiden, sondern sich auch noch zu vier Fragen eines
Referendums äußern. Die Fragen haben sich Politiker der
nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS)
ausgedacht.
Das Seltsame aber ist, dass es in Polen keine Debatte gibt und daher auch
keine Argumente pro und contra. Denn die von der PiS im Fernsehen
suggerierten „Nein“-Antworten – ein rot blinkendes Kreuz bei allen vier
Fragen – würden die meisten Polen auch so geben. In der Sejmdebatte am
Donnerstag warfen die Oppositionellen der PiS-Regierung vor, das Geld für
die Referendumskampagne skrupellos in die PiS-Wahlkampfkasse zu werfen und
den Wahlkampf der Partei mit Steuergeldern aller Polen mitzufinanzieren.
Um es möglichst spannend wirken zu lassen, gaben PiS-Politiker an vier
aufeinander folgenden Tagen des vergangenen Wochenendes jeweils eine Frage
bekannt. Die erste: „Bist du für den Ausverkauf des polnischen
Staatsvermögens?“ Die meisten Polen werden gar nicht wissen, dass es in
Polen nur noch 18 Staatsunternehmen in sogenannten strategischen
Wirtschaftszweigen gibt, von denen noch dazu vier kurz vor der Pleite
stehen. Es gibt keine einzige Partei, die den „Ausverkauf“ dieser letzten
Staatsfirmen fordern würde. Selbst die mögliche Privatisierung der
Pleitekandidaten ist kein Thema.
## EU-Migration und Asylpolitik steht im Mittelpunkt
Anders war dies noch vor zwanzig oder auch zehn Jahren, als die heutige
Opposition an der Macht war. Damals gab es noch Hunderte aus der Zeit des
Kommunismus stammende Unternehmen und landwirtschaftliche
Produktionsgesellschaften in Staatsbesitz. Die meisten arbeiteten
unwirtschaftlich, belasteten den Staatshaushalt und wurden privatisiert.
Der Fehler der damals Regierenden war, sich nicht genug um die Verlierer
der Transformation gekümmert zu haben.
Die zweite Frage lautet: „Bist du dafür, dass das Renteneintrittsalter
angehoben wird?“ Auch hier suggeriert die PiS die Antwort „Nein“,
allerdings ist die Frage schon seit Jahren gelöst. Frauen gehen mit 60 und
Männer mit 65 Jahren in Rente, Wer will, kann schon heute länger arbeiten
und damit die spätere Rente erhöhen oder aber sich die Rente auszahlen
lassen, trotzdem weiterarbeiten und sich zur Rente noch etwas
dazuverdienen. Niemand in Polen fordert derzeit eine Heraufsetzung des
Renteneintrittsalters.
Die dritte Frage soll die Wähler gegen die EU aufstacheln. „Bist du für die
Aufnahme Tausender illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und aus
Afrika, [1][so wie es der Zwangsmechanismus der Umverteilung vorsieht], den
uns die EU-Bürokratie aufzwingen will?“
## Polen hat Millionen Kriegsflüchtlinge aufgenommen
Diese Frage ist besonders perfide, weil Polen von der Solidaritätsklausel
des EU-Asylkompromisses nicht betroffen ist. Polen muss weder aus
Griechenland und Italien Asylbewerber bei sich aufnehmen noch für jeden
nicht aufgenommenen Geflüchteten eine Ausgleichszahlung von 22.000 Euro
leisten.
Denn Polen hat seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine am 24.
Februar 2022 [2][Millionen ukrainischer Kriegsflüchtlinge aufgenommen].
Zurzeit leben noch immer rund eine Million Geflüchtete aus dem Nachbarland
in Polen. Ein einfacher Brief der PiS-Regierung an Brüssel würde genügen,
um diese Ausnahmeregel in Kraft zu setzen. Doch das sagt die PiS dem
Wahlvolk nicht.
Die vierte und letzte Frage soll die immer wieder von der PiS
heraufbeschworene Kriegsgefahr an Polens Ostgrenze thematisieren. „Bist du
dafür, die Grenzanlage zwischen Polen und Belarus zu liquidieren?“
## Der Zaun hält Geflüchtete nicht ab
Dabei würde zurzeit kaum jemand in Polen den Abriss des gerade erst
fertiggestellten [3][Stahlzauns an der polnisch-belarussischen Grenze
fordern]. Zwar wurde die Grenzanlage nicht wegen der russischen
Wagner-Söldner errichtet, sondern wegen Geflüchteter aus Asien und Afrika.
Die hatte der belarussische Machthaber Lukaschenko nach Minsk einfliegen
lassen, um sie dann von seinen Sicherheitskräften über die Grenzen in die
EU-Nachbarländer Polen und Litauen treiben zu lassen. Der Zaun hält zwar
kaum Geflüchtete davon ab, den Weg nach Westen zu suchen. Dennoch will ihn
heute angesichts der russischen und vielleicht auch belarussischen
Kriegsgefahr niemand abreißen.
„Dieses Referendum ist ungültig“, urteilte am Mittwoch der frühere Premier
und heute wichtigste Oppositionspolitiker Polens, Donald Tusk. „Die PiS
macht mit staatlichen Geldern Wahlkampf für sich selbst.“
17 Aug 2023
## LINKS
[1] /Asylrecht-in-der-EU/!5946395
[2] /Fluechtlinge-zweiter-Klasse-in-Polen/!5919072
[3] /Polnisch-belarussische-Grenze/!5948007
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Polen
PiS
Asyl
Migration
Referendum
Polen
Polen
Kolumne Fernsicht
Lettland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Polen
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