| # taz.de -- Umgang mit NS-Zeit in Polen: Wahlfahrtsort | |
| > Die Seligsprechung einer polnischen Familie, die jüdischen Nachbarn half | |
| > und ermordet wurde, wird von der Regierungspartei vereinnahmt. | |
| Markowa taz | Unter sengender Sonne verfolgen rund 35.000 Menschen die | |
| Seligsprechungsmesse der Familie Ulma im polnischen Dorf Markowa. Allein 80 | |
| Bischöfe und über 1.000 Priester erweisen den „Glaubens-Märtyrern“, die | |
| [1][Papst Franziskus] im Dezember 2022 anerkannte, ihre Ehre. Sie tragen | |
| zumeist weiße Soutanen. Manche auch große weiße Schirme gegen die Sonne. Da | |
| im Sportstadion des Dorfes, in dem ein riesiger Altar für die Freiluftmesse | |
| aufgebaut wurde, nicht genug Platz ist für die Menschenmenge, hängen | |
| überall im Dorf große Bildschirme und Lautsprecher. „Gloria“ und „Allel… | |
| schallt es durch die Straßen, Feldwege und über die abgeernteten Felder | |
| hinweg. | |
| Die lateinischen Worte der Seligsprechungspredigt, die Kardinal Semeraro | |
| aus dem Vatikan zelebriert, dürften die wenigsten verstehen. Zwar nicken | |
| Staatspräsident [2][Andrzej Duda] und zahlreiche Politiker der | |
| nationalpopulistischen Regierungspartei von Zeit zu Zeit, doch dies mag | |
| auch Ausdruck der Zufriedenheit sein. So perfekt haben Staat und | |
| katholische Kirche in Polen selten zusammengearbeitet. | |
| In Markowa, einem idyllisch gelegenen Dorf in den Vorkarpaten, hängt kein | |
| einziges Wahlplakat. Dabei finden schon in vier Wochen Parlamentswahlen in | |
| Polen statt. Dafür ist die Seligsprechung der Familie Ulma als Thema | |
| allgegenwärtig. An allen Anschlagbrettern wird darüber informiert. Auf | |
| einer Hauswand prangt sogar ein überdimensionales buntes Heiligenbildchen | |
| der ganzen Familie. Das Originalfoto in Schwarz-Weiß kennt in Polen jedes | |
| Kind: In den letzten Jahren wurde es zum kollektiven Selbstporträt der | |
| polnischen Nation. | |
| Das Ehepaar Józef und Wiktoria Ulma hatte im Zweiten Weltkrieg versucht, | |
| fünf jüdische Freunde aus der rund zehn Kilometer entfernten Stadt Lancut | |
| vor der Nazi-Verfolgung zu retten – den 60-jährigen Saul Goldman und seine | |
| vier Söhne Baruch, Mechel, Joachim und Mojzesz im Alter von 20 bis 30 | |
| Jahren, außerdem zwei Töchter und eine Enkelin des Nachbarn Chaim Goldman | |
| aus Markowa – Golda Grünfeld und Lea Didner mit ihrer kleinen Tochter | |
| Reszla. Doch die Familie scheiterte. | |
| Denn der Pole und Nazi-Kollaborateur Włodzimierz Leś aus Lancut verriet | |
| das abgelegene Versteck am Dorfende von Markowa. Wenig später – am 24. März | |
| 1944 – ermordeten deutsche Feldgendarmen und polnische Polizisten alle | |
| Bewohner des Hauses Ulma, auch die Kinder, plünderten den Bauernhof und | |
| fuhren mit sechs vollbeladenen Fuhrwerken zurück nach Lancut. Von den 126 | |
| Juden, die bei Kriegsbeginn am 1. September 1939 in Markowa lebten, kamen | |
| in der Schoah 105 ums Leben, 21 wurden von katholischen Polen gerettet, | |
| emigrierten aber nach 1945 zumeist in die USA. | |
| Dem Naziterror der deutschen Besatzung fielen von insgesamt 4.500 | |
| Einwohnern Markowas auch 20 katholische Polen zum Opfer, darunter Józef | |
| Ulma, seine hochschwangere Frau Wiktoria, bei der während der Exekution die | |
| Geburt des siebten Kindes einsetzte, und ihre sechs Kinder Stasia (7), | |
| Basia (6), Władek (5), Franek (4), Antoś (3) und Marysia (1,5). | |
| Dass nun aber Polens katholische Geistliche ausgerechnet den 10. September | |
| zum Termin für die Seligsprechung der Ulmas bestimmten, nährt einen | |
| unschönen Verdacht. Das linksliberale Nachrichtenmagazin Polityka fragt in | |
| seiner neuesten Ausgabe denn auch ganz offen: „Handelt es sich mitten im | |
| Wahlkampf um ein Geschenk der Kirche an die Regierungspartei Recht und | |
| Gerechtigkeit (PiS)?“ | |
| Denn die [3][PiS] hat die Familie Ulma und das Dorf Markowa in Südostpolen | |
| an der Grenze zur Ukraine über Jahre hinweg und gemeinsam mit der | |
| katholischen Kirche Polens zu einem Gegenpol des Dorfs Jedwabne in | |
| Nordostpolen an der Grenze zu Belarus aufgebaut. Dort hatten katholische | |
| Polen im Juli 1941 – nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die bis | |
| dahin verbündete Sowjetunion und die sowjetisch besetzten Gebiete Polens – | |
| ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune bei lebendigem Leib verbrannt und | |
| deren Eigentum unter sich aufgeteilt. Zwar hatten deutsche SS-Männer | |
| entlang der ehemaligen deutsch-sowjetischen Demarkationslinie dutzende | |
| antijüdische Pogrome angestiftet, waren aber am Tag des Verbrechens nicht | |
| vor Ort. | |
| Mit seinem Buch „Nachbarn“ hatte der in den USA lehrende polnisch-jüdische | |
| Professor [4][Jan Tomasz Gross] im Jahr 2000 eine intensive | |
| Geschichtsdebatte angestoßen, die das Geschichtsbild der Polen als „ewige | |
| Helden und Opfer der Geschichte“ als Mythos entlarvte. Die bittere | |
| Erkenntnis, dass Polen in der Vergangenheit auch Täter gewesen waren, sich | |
| nicht immer edelmütig verhalten und teilweise mit den Feinden kollaboriert | |
| hatten, weckte bei vielen das Bedürfnis nach einem neuen Mythos, der die | |
| alte Identität als Helden- und Opfer wiederherstellen sollte. | |
| Mit genau diesem Versprechen gewann die nationalpopulistische PiS 2005 zum | |
| ersten Mal und dann erneut 2015 und 2019 die Wahlen in ganz Ostpolen. Auch | |
| das heute knapp 7.000 Einwohner zählende Dorf Markowa stimmte mehrheitlich | |
| für die PiS. | |
| „Kinder!“, ruft eine Lehrerin ihre Klasse zum großen Denkmal für die Ulmas | |
| mit den acht symbolischen Urnen. „Lasst uns hier ein Gruppenbild machen.“ | |
| Sie deutet auf den großen Kranz mit weißen und roten Anthurien in Polens | |
| Nationalfarben und einer Schleife, auf der steht: „Premierminister | |
| Mateusz Morawiecki“. Dort sollen die Zwölfjährigen eine Lücke lassen, so | |
| dass der Kranz mit aufs Bild kommt. „Das ist eine große historische Lehre | |
| für uns“, erklärt sie den Kindern. „Wir Polen haben uns im Krieg anständ… | |
| benommen und Juden gerettet. Viele von uns haben dafür mit dem Leben | |
| bezahlt, so wie die Ulmas und ihre Kinder. Die kleine Stasia ging in die | |
| erste Klasse. Die anderen waren noch kleiner.“ | |
| Wie in ihren Wahlkampagnen versprochen baute die PiS die Geschichtspolitik | |
| zu einem der wichtigsten Politikfelder aus, gründete dutzende Museen und | |
| Institute, ließ neue Geschichtsbücher schreiben und verabschiedete sogar | |
| ein [5][„Holocaust-Gesetz“], das es bei einer Gefängnisstrafe von bis zu | |
| drei Jahren verbot, über polnische Nazi-Kollaborateure zu schreiben und so | |
| den „guten Ruf Polens“ zu beschädigen. Das Gesetz musste nach scharfer | |
| Kritik aus Israel und den USA abgemildert werden, ist aber nach wie vor in | |
| Kraft. | |
| 2016 eröffnete Präsident Andrzej Duda mitten im Ort – zwischen katholischer | |
| Kirche, Rathaus und Kulturzentrum – das „Museum für die Polen, die während | |
| des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben, benannt nach der Familie Ulma | |
| in Markowa“. Das rostrote Gebäude soll zwar dem nicht mehr existierenden | |
| Haus der Ulmas am Ortsende ähneln, doch es wirkt eher wie die Scheune von | |
| Jedwabne, nur dass diejenige in Markowa an kein Pogrom erinnern soll, | |
| sondern an eine versuchte Judenrettung, bei der die Retter selbst ums Leben | |
| kamen. | |
| Eine besondere Vitrine im Museum zeigt alle Orden, die das Ehepaar Ulma | |
| posthum erhalten hat: 1995 die Medaille der „Gerechten unter den Völkern“ | |
| von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, 2010 das | |
| Kommandeurs-Kreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens durch den damaligen | |
| Präsidenten Lech Kaczyński. 2018 erklärte Präsident Duda den Todestag der | |
| Ulmas zu einem staatlichen Feiertag, an dem aller polnischen Judenretter | |
| gedacht werden soll. Im Dezember 2022 anerkannte Papst Franziskus den | |
| „Märtyrertod der Ulmas für den christlichen Glauben“, dem nun die | |
| Seligsprechung der ganzen Familie folgt. | |
| Zu Lebzeiten hatten die Ulmas immer wieder heftigen Streit mit dem Klerus. | |
| So drohte der Dorfpfarrer Wiktoria sogar mit der Hölle, wenn diese | |
| weiterhin an der Volkshochschule im Nachbarort Gac Fortbildungskurse | |
| besuchen und sogar Theater spielen wolle. Die junge Frau war einem | |
| Nervenzusammenbruch nahe, wie das liberalkatholische Magazin Tygodnik | |
| Powszechny schreibt. | |
| Doch Józef, der Wiktoria wohl in der Volkshochschule kennengelernt hatte, | |
| hielt zu ihr und spielte fortan gemeinsam mit ihr Theater. Doch auch er | |
| bekam die Wut des Dorfpfarrers und sogar des damaligen Primas der | |
| katholischen Kirche zu spüren. Denn Józef gehörte nicht nur einem | |
| katholischen Männerverein an, sondern auch dem Verband der Landjugend der | |
| Republik Polen „Wici“. | |
| Die politische Bauernbewegung war im Zwischenkriegspolen sogar mit einer | |
| eigenen Partei im Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, vertreten. Die | |
| Wici forderten eine radikale Landreform, die Enteignung der | |
| Großgrundbesitzer und auch die Parzellierung des Kirchenbesitzes zugunsten | |
| der Kleinbauern. 1936 empörte sich Polens Primas, Kardinal August Hlond: | |
| „Die Volkshochschulen erziehen Fanatiker eines gottlosen Dorfes und sorgen | |
| für einen großen Seelen- und Ehrverlust auf dem Land.“ Aus dieser | |
| „gottlosen“ Bewegung stammen nun also die neuen Seligen der katholischen | |
| Kirche Polens. | |
| Doch davon erfahren die Besucher des Ulma-Museums nichts. Auch nicht, dass | |
| andere Einwohner von Markowa vor diesem brutalen Nazi-Mord an den Ulmas und | |
| den beiden Goldman-Familien selbst auf „Judenjagd“ gegangen waren. Die | |
| jüdischen Gefangenen übergaben sie den Deutschen, die sie an Ort und | |
| Stelle, dem Tierfriedhof von Markowa, erschossen. Eines der Fenster des | |
| Ulma-Gehöfts ging auf den Friedhof hinaus, und so wurde Józef Zeuge dieser | |
| Hinrichtung. Doch er glaubte wohl, dass sich ein solches Massaker nicht | |
| wiederholen könne. | |
| So wurden er, seine Frau Wiktoria und die Goldmans unvorsichtig. Wiktoria | |
| kaufte im Dorf auffällig viel Lebensmittel ein. Józef, der eigentlich Obst- | |
| und Gemüsebauer war, auch Bienen hielt und Seidenraupen züchtete, verkaufte | |
| plötzlich frisch gegerbtes Leder in Lancut. Das war die Arbeit der | |
| Goldmans, die versuchten, möglichst viel zum Lebensunterhalt von allen im | |
| Hause Ulma beizutragen. Sie versteckten sich auch gar nicht, sondern | |
| arbeiteten offen auf dem Feld, hackten Holz oder schälten Kartoffeln. | |
| Doch die Ulmas und auch die beiden Goldman-Familien waren beliebt im Dorf. | |
| Niemand verriet sie. Die Bauern mochten Józef auch, weil er ein | |
| begeisterter Fotograf war, der sich nur selten von seiner Kamera trennte | |
| und oft auch Bilder von den anderen Dorfbewohnern machte. Das Alltagsleben | |
| in Markowa hat er so auf rund 800 Bildern dokumentiert. Viele von ihnen | |
| sind im Museum zu sehen. | |
| Warum Saul Goldman erst dem Polizisten Włodzimierz Leś in Lancut sein | |
| Vertrauen schenkte, bevor er Józef Ulma um Hilfe bat, ist unklar. Leś | |
| versteckte die fünf Goldmans erst gegen Bezahlung, riss sich dann deren | |
| Eigentum unter den Nagel und setzte sie schließlich auf die Straße. Als | |
| Vater Goldman sein Eigentum zurückforderte, denunzierte der Pole ihn und | |
| die Ulmas bei der deutschen Feldgendarmerie in Lancut und schloss sich dem | |
| Mordkommando an, um sicherzugehen, dass auch keiner der Goldmans mit dem | |
| Leben davonkam. Ein Gericht des polnischen Untergrundstaates verurteilte | |
| Leś noch vor Kriegsende zum Tode und ließ ihn hinrichten. | |
| Der Kommandant der Feldgendarmerie in Lancut hingegen, Eilert Dieken, der | |
| den Befehl gegeben hatte, auch die sechs Kleinkinder der Ulmas zu | |
| erschießen, wurde nach Kriegsende in der Bundesrepublik „entnazifiziert“ | |
| und konnte seine Polizei-Karriere nahtlos fortsetzen. Sein Stellvertreter | |
| Josef Kokott, der drei der Kinder ermordet hatte, wurde von der damaligen | |
| Tschechoslowakei an Polen ausgeliefert. Er starb nach langer Haftstrafe in | |
| einem polnischen Gefängnis. Alle anderen am Mordkommando Beteiligten kamen | |
| straflos davon. | |
| Wenn es nach der PiS und ihrer gewünschten Heldenerzählung geht, könnte | |
| schon in wenigen Jahren der Heiligsprechungsprozess beginnen. Dazu müssen | |
| nur ein oder zwei Gläubige von ihren Krankheiten genesen, nachdem sie im | |
| Gebet die Seligen Ulma um Fürsorge gebeten hatten. Der Vatikan müsste diese | |
| Genesungen dann als Wunder anerkennen. Markowa würde dann zu einem | |
| Wallfahrtsort. | |
| 11 Sep 2023 | |
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