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# taz.de -- Die Wahrheit: Schockierender Ausflug ins Blaue
> Nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen kommt der überaus
> überraschende Erfolg der AfD überraschend. Ein Besuch in der Hochburg
> Dödelingen.
Bild: Mit einem modernen Gefährt geht’s in die Einöde
Auf den ersten Blick wirkt Dödelingen unauffällig, ja idyllisch. Die Kirche
steht noch im Dorf, am schmucken Rathaus weht keine Hakenkreuzfahne, auf
dem gepflasterten Marktplatz glänzen Geländewagen in der Sonne. Leider sind
keine Einheimischen zu sehen, nur sechs Kamerateams und etwa zwei Dutzend
weitere Zeitungsreporter streifen durch die drei Straßen des Ortes. Wir
hatten nämlich dieselbe originelle Idee wie die Kollegen: Für eine
Reportage besuchen wir das hessische Dorf, in dem die AfD das beste
Ergebnis überhaupt erzielt hat: Dödelingen im Knüll hat nur knapp 200
Einwohner.
Die Republik ist schockiert: Einmal mehr wurden Medien und Politik bei
Landtagswahlen vom erwarteten Erfolg der AfD überrascht. 15 Prozent in
Bayern, sogar 18 Prozent in Hessen stimmten für die Rechtspopulisten. Wie
journalistisch mit dieser Tatsache umgehen? Nach Dödlingen gehen! Laut
amtlichem Endergebnis sollen im Wahllokal des Ortes 56 Prozent der
Wählerinnen und Wähler für die AfD gestimmt haben. Noch nie haben sich
Journalisten in diesen Ort verirrt, nach uns wird es auch gewiss nie wieder
geschehen. Wir aber wagen es, um herauszufinden, was die Menschen zu ihrer
Entscheidung gebracht hat. Ist es Verzweiflung, ist es Wut oder ist es gar
wütende Verzweiflung?
Wir entschließen uns, an den Haustüren zu klingeln. Nachdem drei Einwohner
nur ihre Hunde loslassen und einer auf uns mit seiner Schrotflinte schießt,
erklärt sich endlich der erste Dödelinger zum Gespräch bereit. Sein
hessischer Dialekt zerstört leider gleich die erste These, mit der im
Gepäck wir hierher gefahren sind: Offenkundig ist der Wahlerfolg der AfD
nicht darauf zurückzuführen, dass der Ort in den vergangenen Jahren
insgeheim von Ostdeutschen infiltriert wurde.
„Ich hab AfD gewählt, das sag ich Ihnen auch ganz offen“, sagt uns der Mann
ganz offen, der sich als Rainer vorstellt. „Können Sie uns vielleicht
sagen, warum?“ – „Wegen die Ausländer!“, schießt es aus dem Dödeling…
aus einer Pistole. „Haben Sie schon einmal schlechte Erfahrungen mit die
Ausländer gemacht?“, fragen wir vorsichtig weiter. „Ich persönlich jetzt
nicht direkt. Aber mein Cousin, der Dieter, der hat schon mal welche
gesehen. Der ist ja manchmal in der Stadt. Ganz seltsam sehen sie aus, von
der Farbe her, mein ich, nicht richtig normal.“
## Verständnisvolles Schulterklopfen
Wir danken Rainer für diese erste Auskunft und klopfen ihm verständnisvoll
auf die Schulter. Es ist eine klare Lektion für die Politik: Wer sich über
das Farbempfinden des kleinen Mannes hinwegsetzt, der muss sich nicht
wundern, wenn er an Vertrauen verliert.
Auf der Straße haben sich inzwischen einige Einwohner versammelt. Offenbar
hat sich im Dorf herumgesprochen, dass Berichterstatter hier sind, die
bereit sind, sich vorurteilsfrei Vorurteile anzuhören. „Hier, ich will
Ihnen mal was sagen!“, ruft uns eine Frau im mittleren Alter zu. „Ich wähle
die AfD, weil man nichts mehr sagen darf! So, und jetzt können Sie mich
ruhig verhaften und ins Gefängnis sperren!“ Unter den Umstehenden brandet
Applaus für die tapfere Wortführerin auf. Wir versichern ihr, dass ihre
Klage über den allgegenwärtigen Maulkorb auf der Titelseite landen wird.
„Ich hab auch AfD gewählt“, erklärt ein Mann, dessen Kleidung ihn als
Landwirt ausweist. „Wegen dem Lauterbach! Seit der die Genimpfstoffe ins
Trinkwasser mischt, geben meine Kühe saure Milch!“ Offenkundig sind es also
auch gesundheitspolitische Bedenken, die der AfD Zulauf bescheren. Aber
auch das Thema Frieden spielt eine Rolle. „Keine deutschen Waffen in die
Ukraine“, kreischt eine ältere Dame, die möglicherweise den Ersten
Weltkrieg noch selbst erlebt hat. „Die Waffen brauchen wir selber, damit
wir uns Schlesien zurückholen können!“
Doch es sind auch alltägliche Sorgen und Nöte, die den Dödelingern offenbar
keine andere Wahl lassen, als auf die Wiederkehr des Faschismus zu hoffen.
„Schauen Sie sich doch nur mal hier im Dorf um!“, ruft eine Frau, die eine
Kochschürze am Leib trägt. „Der einzige Laden ist seit Jahren geschlossen,
weil sich niemand findet, der ihn betreiben will. Es gibt für die Leute
keine Möglichkeit mehr, hier im Dorf einzukaufen! Aber wissen Sie, wovor
ich am meisten Angst habe? Dass hier vielleicht demnächst der erste
Ausländer nach Dödelingen kommt und den Laden übernimmt, sodass man dann
bei dem einkaufen müsste!“
## Anruf beim Ordnungsamt
Das Gefühl des Abgehängtseins ist omnipräsent. „Ich habe schon siebzehn Mal
beim Ordnungsamt angerufen, weil sonntags immer Hundescheiße bei mir vor
der Gartentür liegt, aber es passiert nichts! Deswegen wähl ich jetzt AfD!“
Das ist einer der weiteren Sätze, den wir hören. Ein anderer: „Meine
Tochter ist nach Berlin gezogen, studiert irgendwas mit Medien und lebt mit
so einem komischen Kerl zusammen, der sich die Fingernägel lackiert!
Deswegen wähl ich jetzt AfD!“
Ein Mann von beachtlichem Körperumfang drängt sich durch die Menge zu uns:
„Ich versuche seit vielen Jahren, eine Frau zu finden, die meiner Zuneigung
würdig ist und mir den Haushalt macht. Regelmäßig verschicke ich bei
Facebook meinen Lebenslauf, meine Gehaltsabrechnung und ein Penisfoto. Aber
meinen Sie, eine von den Schlampen meldet sich mal zurück? Die wollen doch
alle nur noch diese Südländer!“ – „So ist es! Endlich sagt’s mal eine…
rufen die umstehenden Männer und schütteln ihrem Bürgermeister dankbar die
feuchte Hand.
Pflichtschuldig machen wir uns am Ende unserer Recherche auch noch auf die
Suche nach einer Gegenstimme in Dödelingen. Wir klingeln an der Tür des
einzigen Hauses, auf dessen Dach eine Regenbogenfahne flattert. Eine junge
Frau öffnet uns die Tür. „Warum sind Sie nicht draußen bei der schweigenden
Mehrheit, die sich heute offen zur AfD bekennt?“ – „Ach wissen Sie, die
schweigende Mehrheit ist mir zu laut, die brüllen immer so“, versetzt die
Linksgrüne giftig. „Und ehrlich gesagt, sind das Leute, die ich schon
früher nicht leiden konnte: Meckerköpfe, Geizhälse, Wichtigtuer, Mitläufer,
Arschgeigen. Die wählen jetzt eben das, was zu ihnen passt. Denen ist nicht
zu helfen.“
Wir lassen die Außenseiterin allein zurück, die so gar kein Gespür für die
Bewegung hat, die gerade durch Deutschland braust. Als
Qualitätsjournalisten werden wir mit der Lage anders umgehen und unser
Mikrofon konsequent in die Richtung halten, aus der politisch neuerdings
der Wind weht.
11 Oct 2023
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Schwerpunkt AfD
Die Wahrheit
Wahlen
Provinz
Friedrich Merz
Erbschaftssteuer
Kolumne Die Wahrheit
Schwerpunkt #metoo
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