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# taz.de -- Die Wahrheit: Wenn Flötentöne flöten gehen
> Arbeitskampf pervers: Jetzt streiken auch noch die Künstler der
> Subkultur. Mit schrecklichen Folgen für alle Beteiligten.
Bild: Die zarte Flötistin Jolanda Friedhelm ruft zum Streik auf
Hurra, der Klassenkampf ist zurück! Nicht nur in Frankreich zünden die
Leute die Städte an, um nicht bis ins hohe Alter arbeiten zu müssen. Sogar
im sonst so braven Deutschland streiken die Beschäftigten allerorten dafür,
dass die Inflation nur zu maßvollen Lohnverlusten führt. Doch eine Gruppe
von Menschen war bislang merkwürdig still: die Künstlerinnen und Künstler
der Subkultur. Das soll sich nicht nun ändern.
„Wir haben vor zwei Wochen, noch weitgehend unbemerkt von der
Öffentlichkeit, eine eigene Gewerkschaft gegründet“, erklärt der
Aktionskünstler Korbinian Seeger bei einer Pressekonferenz in den Räumen
der Eckkneipe „Zum goldenen Hahn“ in Berlin-Kreuzberg. „Ich habe als erst…
Vorsitzender den Gründungsnamen ‚SOS – Selbstorganisation Subkultur‘
gewählt, bin aber für Verbesserungsvorschläge offen. Wir wollen in jeder
Hinsicht dynamisch sein, eine Fluxus-Gewerkschaft so to say.“
Nach den Zielen der Vereinigung befragt, holt der hagere 23-Jährige, der
ganz in Schwarz gewandet ist, weit aus: „Wir als Gegenkultur sind der
Stachel im fetten Fleisch des Kapitalismus. Wir sind es, die kritische
Diskurse anstoßen und utopischen Gegenentwürfen ästhetische Gestalt
verleihen. Aber es wird immer schwieriger, unseren Widerstand
aufrechtzuerhalten – Coronakrise, Mietenwahnsinn und Bierpreisexplosion
machen KünstlerInnen das Leben zur Hölle. Ich glaube, dass die
Gesellschaft in der Pflicht ist, unsere scharfe Gesellschaftskritik
finanziell besser zu unterstützen. Deswegen haben wir unsere Tätigkeit
gleich mit einem ausgedehnten Streik begonnen. Eine Woche lang haben wir
die Pinsel niedergelegt, die Kugelschreiber und die Gitarren: keine
Hinterhofkonzerte, keine Galerielesungen, kein Ausdruckstanz mit
Freejazz-Begleitung im Foyer von Stadtmuseen. Unsere Stimmen aus dem
Untergrund waren verstummt.“
## Angst in der Komfortzone
Auf die Frage, wieso niemand etwas von diesem Streik mitbekommen hat,
verfällt Seeger in Schweigen. Fast eine Minute lang ist nur das Rülpsen der
Kneipengäste zu hören. Da ergreift seine Kollegin, die zarte
Experimentalflötistin Jolanda Friedhelm, das Wort: „Das Problem ist, dass
zu wenige Menschen in Deutschland offen für die alternative Kultur sind.
Viele scheinen Angst davor zu haben, ihre persönliche Komfortzone zu
verlassen und herausfordernde Erfahrungen zu machen! Deswegen bekommen
leider zu wenige Leute mit, was sie verpassen, wenn wir streiken. Wir haben
uns jetzt entschieden, unsere Strategie zu ändern: vom Streik zur
erzwungenen Konfrontation! Ich werde zum Beispiel in der kommenden Woche
die Menschen im öffentlichen Nahverkehr mit meiner improvisierten Musik
vertraut machen, die von Walgesängen inspiriert ist.“
Erst jetzt meldet sich auch der Dritte im provisorischen Vorstand der
Gewerkschaft: der Schriftsteller Rüdiger Kowalczyk, unter seinen Fans in
der Lesebühnenszene besser bekannt unter seinem Spitznamen „Klöte“. Wie d…
anderen beiden trägt er eine rote Warnweste, die an diesem Ort etwas
deplatziert wirkt. „Ick hätte letzte Woche eijentlich bei unsrer Lesebühne
‚Bierfurz‘ ne Jeschichte jelesen, wie ick anne Supermarktkasse steh und
meine Sachbearbeiterin vom Arbeitsamt treffe, obwohl ick ma krank jemeldet
habe. Aber ick hab jestreikt und die Jeschichte bloß den Kumpels am Tresen
erzählt. Na ja, warn am Ende jenauso viele Zuhörer. Nächste Woche aber jeh
ick raus auffen Kudamm und erzähl se den Passanten – ob se wollen oder
nich.“ Nach dieser Ankündigung erhebt der eher kugelige Klöte sein Glas zum
Gruß und sinkt anschließend unter den Tisch.
„Ich habe eine Performance konzipiert, die das Anliegen unserer
Gewerkschaft im Alltag für das Publikum physisch erfahrbar macht“, erklärt
Korbinian Seeger. „Ich nenne sie ‚Siamese Twins‘. Mit Sekundenkleber werde
ich mich selbst an völlig fremde Menschen heften, sie gleichsam dazu
zwingen, die Kunst als ständigen Begleiter zu akzeptieren und über die
Distanz zu reflektieren, die gewöhnlich zwischen ihnen und uns Kreativen
unüberwindlich scheint. Um mich wieder von sich zu entfernen, biete ich
ihnen Lösungsmittel gegen eine großzügige Spende an. Wer danach immer noch
nicht begreift, dass es unmöglich ist, sich der Kunst zu entziehen, dem ist
wirklich nicht mehr zu helfen.“
## Subvention der Subversiven
Aber welche Ziele möchte die Künstlergewerkschaft mit ihrer Aktion konkret
erreichen? Diesmal zögert der Vorsitzende nicht mit einer Antwort: „Wir
appellieren vor allem an den Staat. Er ist in der Pflicht, dafür zu sorgen,
dass wir Kreativen nicht länger um unsere materielle Existenz fürchten
müssen. Verschiedene Lösungsansätze sind denkbar: So könnte das Publikum
aus Haushaltsmitteln für den Besuch von Kulturveranstaltungen bezahlt
werden. Vielleicht muss auch über eine Besuchspflicht nachgedacht werden.
Eine direkte Subvention von allen subversiv tätigen KünstlerInnen durch
ein Grundeinkommen ist ohnehin unumgänglich. Wenn der Staat uns nicht
entgegenkommt, sind wir bereit, den Konflikt weiter zu eskalieren: atonale
Musik, hermetische Lyrik, Auto-Perforations-Artistik – wir haben noch viele
Waffen im Arsenal.“
Grenzt diese Strategie aber nicht an räuberische Erpressung? Könnten die
Aktionen die Strafverfolgungsbehörden alarmieren? Fragen wir uns und den
Streikführer. Korbinian Seeger entlockt dieser Vorwurf nur ein schallendes
Lachen: „Da mache ich mir gar keine Sorgen! Die Kunst ist nämlich frei –
aber umsonst ist sie darum noch lange nicht!“
Bei einer spontanen Umfrage unter dem Kneipengästen im „Goldenen Hahn“
zeigen nur wenige Lust, zukünftig die aufreibenden Gratis-Angebote der
Subkultur an allen Orten der Stadt wahrnehmen zu müssen.
Experimentalflötistin Jolanda Friedhelm weiß jedenfalls mit ihren
Klangpfunden zu wuchern: „Die Flötentöne müssen sich die Menschen
garantiert nicht selbst beibringen.“
19 Apr 2023
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Streik
Arbeitskampf
Künstler
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