# taz.de -- Die Wahrheit: Pures Weiß. Reines Weiß | |
> Aus den Tiefen des Sommerlochs: In eine frisch gestrichene Wohnung | |
> einziehen, das hat ganz ohne Zweifel mit einem Verbrechen zu tun. | |
Bild: Weißraum, jede Menge Weißraum, brutal viel Weißraum: Dergestalt fühlt… | |
Ich stand zum ersten Mal in der leeren Wohnung, in die ich einziehen | |
wollte, und fühlte mich unheimlich. Sie war ja auch noch nicht mein Heim. | |
Probeweise unterhielt ich mich ein bisschen mit mir selbst. Meine Stimme | |
schallte wie in einer Höhle und klang fremd. Spuren der Vormieter waren in | |
der renovierten Wohnung keine mehr zu entdecken, aber trotzdem fühlte ich | |
mich nur wie ein Gast. | |
Diese makellosen, leuchtend weißen Wände rings um mich! Hatte ich denn | |
überhaupt ein Recht, diese unschuldigen Räume mit meiner Existenz zu | |
besudeln? Am liebsten hätte ich mich still wieder aus diesem Heiligtum | |
zurückgezogen und die Tür von außen sanft geschlossen. Aber das ging nicht. | |
Ich brauchte diese Wohnung, wollte ich nicht zukünftig unter Brücken | |
schlafen. | |
Also kehrte ich bald zurück, mit Möbeln, Geschirr, Kleidern und allem, was | |
man sonst noch so zum Leben braucht oder zu brauchen glaubt. Doch kam ich | |
mir erst einmal vor, als wäre ich verbotenerweise eingedrungen, als könnte | |
mich jederzeit irgendwer wieder aus diesen Zimmern werfen, erwiese ich mich | |
ihrer nicht würdig. Ich schlich vorsichtig über den Fußboden, so als könnte | |
ich sonst einbrechen. Ich machte keinen Lärm, um meine Wohnung nicht aus | |
ihrem Schlaf zu reißen. Sorgsam achtete ich darauf, die weißen Wände beim | |
Einräumen nicht zu beschmutzen. Aber das Unvermeidliche geschah doch. | |
## Trostlose Trauer | |
Nach ein paar Wochen wollte ich einmal schnell nach draußen eilen, warf mir | |
den Rucksack über die Schulter, öffnete hastig die Tür und – ratsch! In | |
trostloser Trauer starrte ich auf die schwarzen Schlieren, die ich an der | |
weißen Wand des Flurs hinterlassen hatte. Die Wohnung hatte ihre | |
Jungfräulichkeit verloren, meiner Unachtsamkeit wegen. Hässlich sahen sie | |
aus, die schwarzen Striche auf weißem Grund, die noch nicht einmal einen | |
Sinn ergaben. Allenfalls konnte man sie so lesen: Hier wohnt ein Trottel, | |
der sein eigenes Heim verunstaltet. | |
Sollte ich mich vielleicht mit einem Gleichnis trösten? War die weiße | |
Wohnung womöglich ein leeres Blatt Papier, das darauf wartete, mit meiner | |
Lebensgeschichte beschrieben zu werden? Hatte ich womöglich das Recht, hier | |
Zeichen meiner Anwesenheit zu hinterlassen, so wie die Menschen frühester | |
Zeit in ihren Höhlen? Vielleicht war dies so. Aber was ich jetzt | |
hinterlassen hatte, war leider kaum Ausdruck höchster Kunst. | |
Nur ein paar Tage später saß ich am Küchentisch und bestrich | |
gedankenverloren ein Brötchen. Da gelang es mir auf wundersame Weise, mein | |
Messer so zu handhaben, dass die halbe Schrippe vom Teller flutschte und an | |
die Küchenwand sprang, Murphys Gesetz gemäß natürlich mit der beschmierten | |
Seite voran. Ungläubig glotzte ich schon wieder auf ein Schreckenszeichen | |
an der Wand wie einst der übermütige Belsazar. | |
## Zäh an der Mauer | |
Nur würde mich weder Rembrandt malen noch Heine besingen. Eine ordentliche | |
Menge Tomaten-Mozzarella-Creme klebte zäh an der Mauer. Es dauerte eine | |
ganze Minute, bis ich mich aufraffen konnte, das Gröbste mit einem feuchten | |
Lappen zu entfernen. Aber der Naturzustand war nicht wiederherzustellen, | |
mein Versagen würde auch an dieser Stelle von nun an unübersehbar prangen. | |
Und es ging weiter, Niederlage knüpfte sich an Niederlage: Ich hinterließ | |
Wasserflecken auf der Platte des neuen Küchentisches. Ich kippte einen | |
Blumenkasten vom Fensterbrett und verteilte frische Pflanzerde über den | |
Fußboden. Ich entleerte ein Glas Apfelwein auf dem persischen Teppich, der | |
erfreulich fruchtig zu riechen begann, allerdings auch an den Füßen | |
haftete. Meine Wohnung verlor im Laufe weniger Wochen ihre Kindlichkeit, | |
sie alterte, ich verbrauchte sie. | |
Sollte ich besser wieder ausziehen, bevor ich meine Wohnung in die | |
Verzweiflung trieb? Sollte ich mir ein neues Domizil suchen, wo ich alles | |
besser machen würde? Ach, alles Illusion. Ich wusste: Nicht nur ich war zu | |
ungeschickt, um zu leben, ohne irgendwo anzustoßen. Der Mensch überhaupt | |
ist unfähig, auf Erden zu weilen, ohne Schaden anzurichten, der nicht | |
wieder gutgemacht werden kann. | |
## Lästige Pflicht | |
Irgendwann würde ich dennoch einmal ausziehen müssen. Doch davor graute es | |
mir auch. Denn dann hatte ich meine Wohnung zu streichen. Warum war es eine | |
so lästige Pflicht, beim Abschied aus einem Heim die Wände zu weißen? Es | |
ist eine anstrengende Arbeit, die gekonnt erledigt werden muss. Streicht | |
man beim ersten Versuch nicht gewissenhaft genug, muss man ein zweites und | |
drittes Mal pinseln. Frustrierend ist dabei auch das Wissen, dass man nicht | |
für sich selbst streicht, man wird in diesen Räumen ja nie wieder wohnen. | |
Man arbeitet für die Zukunft eines Fremden, den man nicht kennenlernen | |
wird. | |
Aber das ist nicht alles: Abgrundtief traurig ist es doch auch, dass wir | |
beim Streichen vorm Verlassen einer Wohnung unsere eigene Vergangenheit | |
auslöschen, die Spuren unseres Daseins tilgen müssen. Wir haben ein Stück | |
unserer Lebensgeschichte unkenntlich zu machen. Es sind dabei nicht nur die | |
Schandflecke, die wir verschwinden lassen, sondern auch die Rotweinspritzer | |
an der Wand, die uns an die gar glücklichsten Stunden erinnern. Es ist ein | |
kleiner Selbstmord, den wir da mit Pinsel und Farbeimer verüben. | |
Kein Wunder, dass es uns so unheimlich zumute wird, treten wir zum ersten | |
Mal in eine neue Wohnung, geblendet von den weißen Wänden. Wir befinden uns | |
am Schauplatz eines Verbrechens. | |
4 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Michael Bittner | |
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