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# taz.de -- Die Wahrheit: Swingen in Sachsen
> In der Kreisstadt Wurzen will man weiblicher Abwanderung mit
> maßgeschneiderten Angeboten entgegenwirken.
Bild: Wurzen: alle Sehenswürdigkeiten auf einen Blick
Viel ist die Rede über den Riss, der sich durch unsere Gesellschaft zieht
zwischen den jungen, agilen Großstädtern und den älteren, bodenständigen
Bewohnern ländlicher Gegenden. Verständnislosigkeit, Abneigung, ja schierer
Hass prägen diesen Kulturkampf, wenn man den Leitartikeln der großen
Zeitungen und den Romanen von Juli Zeh glauben darf. Doch eine brandneue
Idee könnte den Graben überbrücken und zu einem fruchtbaren Zusammenkommen
führen. Das glaubt zumindest die Sexualpädagogin Sabine Schleußig, die
derzeit in der sächsischen Kleinstadt Wurzen im Auftrag des
Bundesfamilienministeriums ein Pilotprojekt betreut.
Wir treffen sie im Kulturhaus der Kommune. „In den urbanen Zentren ist das
Konzept der Polyamorie längst Mainstream. Die monogame Beziehung gilt als
veraltet, die Liebe zu mehreren Partner*innen zugleich ist für viele
Menschen Normalität – und mehr als das: ein Weg zu Zufriedenheit und
erotischer Erfüllung. Warum soll das nicht auf dem Land ebenso
funktionieren?“
„Die Sache hat natürlich auch einen ernsten Hintergrund“, unterbricht der
Frauenbeauftragte der Stadt Wurzen, Bernd Drommel (NSDAP-AO), der als
Projektpartner fungiert. „Wir haben – wie viele andere mitteldeutsche
Städte auch – einen riesigen Mangel an Frauen. Es sind einfach unheimlich
viele abgehauen in den letzten Jahrzehnten, in den Westen oder sogar ins
Ausland. Gerade die mit Abitur. Glauben Sie mir, das schafft einfach Frust
hier bei uns Männern, die wir zurückgeblieben sind. Und dann kamen ja hier
noch einige von Merkels Südländern an, die auch noch Frauen abbekommen
wollen und leider oft gar nicht schlecht aussehen. Das ist ein Pulverfass!“
Die Stimme des Lokalpolitikers überschlägt sich. „Was haben wir nicht alles
investiert, um wieder junge Frauen hier nach Wurzen zu locken! Wir haben
ein neues Fußballstadion gebaut, richten jährlich ein Bockbierfest aus, das
erste Traktorenmuseum Mittelsachsens wurde hier gegründet. Meinen Sie, es
würde uns gedankt von den hysterischen Schlam… – von der Damenwelt?“
## Schleußig gar nicht schleißig
„Und da komme ich ins Spiel!“, ruft Sabine Schleußig und lacht ein wenig
gezwungen. „Statistisch gesehen kommt auf einen Mann in Wurzen nur noch
eine halbe Frau. Ist es da nicht naheliegend, stattdessen jeder Frau zwei
Männer zu gönnen? Die Polyamorie ist das ideale Beziehungsmodell für
ostdeutsche Regionen mit femininer Unterversorgung. Sie hilft zugleich beim
Aggressionsabbau. Die Männer müssen nicht länger verlassen mit Sternburg
Export in der Bushaltestelle hocken oder sich um die wenigen verfügbaren
Frauen prügeln, stattdessen herrscht gesellschaftlicher Frieden. Ich
spreche manchmal scherzhaft auch vom Bonobo-Prinzip.“ Wir fragen die
Sexualpädagogin, ob diese Vielmännerei denn bei der Wurzener Bevölkerung
auf Akzeptanz stoße. Schließlich sind die Sachsen nicht eben für ihre Liebe
zu Sozialexperimenten bekannt.
„Ich habe Ihnen den lebenden Beleg mitgebracht“, verkündet Schleußig nicht
ohne Stolz und holt eine Frau und zwei Männer mittleren Alters aus dem
Nebenraum. „Darf ich Ihnen das erste Testtrio unseres Projektes
‚Doppelherz‘ vorstellen? Das sind Angelika, Jochen und Jürgen. Die
Familiennamen darf ich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht nennen. Ich
kann jedoch versichern, dass sie nicht identisch sind.“ Ein wenig
verschüchtert nicken die drei Wurzener mit den Köpfen. Wenigstens ihre
Jogginghosen erinnern schon ein wenig an die Großstadthipster, die man
bislang mit der Lebensform der Polyamorie identifizierte. „Ja, also, ich
bin seit vier Jahren mit dem Jochen zusammen, eigentlich auch ganz
zufrieden gewesen. Dann hab ich davon gelesen, dass es bei diesem Projekt
hier 1.200 Euro monatlich …“ – „Lassen Sie uns nicht den finanziellen
Aspekt in den Vordergrund rücken!“, unterbricht Bernd Drommel energisch.
„Es geht hier schließlich um die Liebe!“
„Also, naja“, fährt Angelika fort, immer noch zögerlich, „dann hab ich …
auch noch in den Jürgen verliebt. Wie es eben so kommt. Er wohnt seit
vielen Jahren ganz allein nebenan und hat immer so attraktiv den Rasen
getrimmt. Da hat es bei mir einfach irgendwann Funken geschlagen.“ Wir
fragen neugierig, ob denn die Eifersucht der neuen Dreierbeziehung nicht
manchmal in die Quere komme. „Quatsch!“, ruft Jochen. „Warum soll ich
eifersüchtig sein auf den Jürgen, diesen Schlaffi?“
## Malle oder Elternabend
„Um einen Wettbewerb zwischen den Männern geht’s auch gar nicht“, fügt
Angelika hinzu. „Ich teile mit ihnen ja ganz unterschiedliche
Lebensbereiche. Mit Jochen sitze ich gerne in der Kneipe, mit ihm fliege
ich nach Mallorca, mit ihm gehe ich in den zwanglosen Klub hier am Ort. Mit
Jürgen mach ich andere Sachen. Mit ihm fahre ich zum Elternabend meiner
Tochter. Mit ihm besuche ich meine Eltern im Heim. Oder ich schaue ihm zu,
wie er den Abwasch erledigt und die Wohnung in Schuss hält. Und trotzdem
sind wir alle gleichermaßen glücklich!“
„Also, ich würd mir manche Sachen schon ein bisschen anders wünschen“,
meldet sich nun auch Jürgen einmal leise zu Wort. „Halt die Fresse!“,
korrigiert ihn seine Partnerin und strafft kurz die Leine, an der sie ihren
Zweitmann bei sich führt.
Hier scheint, so viel lässt sich schon nach diesen ersten Eindrücken sagen,
ein gesellschaftlicher Versuch vielversprechend zu beginnen. Vielleicht
werden sich in Wurzen sogar bald Land- und Stadtbewohner vereinigen?
Könnten nicht junge Menschen, die in den anonymen Metropolen vergeblich
nach Partnern mit ähnlich offenen Herzen und Hosen suchen, eines Tages nach
Wurzen ziehen? Und ihr Glück in der Provinz finden – ganz wie die Heldinnen
und Helden in den Erfolgsromanen von Juli Zeh?
Große Hoffnung hegt auch Sabine Schleußig: „In Wurzen gibt es so viel
Zärtlichkeit, die nur ein Ziel finden muss. Was ich mir allerdings noch
wünschen würde, wäre stärkere Unterstützung von den Gesetzgebenden. Noch
immer werden Menschen, die in einer Ehe zu dritt leben wollen, nicht nur
von manchen Zeitgenossen schief angesehen, sondern auch gesetzlich
gegenüber Zweierpaaren diskriminiert. Wir brauchen endlich eine
Legalisierung! Wenn im Wahlkampf ein Triell möglich ist, dann muss doch
auch die Trigamie erlaubt sein!“
„Aber nur für Deutsche!“, meldet sich ein letztes Mal Bernd Drommel laut zu
Wort. „Sonst kommen noch die Muselmanen und wollen das für ihre Harems
auch!“
20 Sep 2021
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Die Wahrheit
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SPD
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Björn Höcke
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