Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Shopping als Stahlbad
> „Amazon Fresh“ kommt – und mit dem neuen Supersupermarkt auch die totale
> Einheit von Kunden, Verkäufern und Produzenten.
Das Aufsehen war groß, als der Internetgigant Amazon jüngst in London
seinen ersten Supermarkt in Europa eröffnete. Der Clou: Der Verkauf
geschieht ganz ohne Kassiererinnen und Kassierer, stattdessen registrieren
Kameras, Sensoren und Scanner, welche Produkte die Kunden aus dem Laden
tragen. Die Bezahlung erfolgt automatisch per App.
Der Konzern spart Löhne für nicht mehr nötige Angestellte, die Kunden
merken kaum, wieviel Geld sie eigentlich ausgeben – ein klassisches
Win-Win-Geschäft. Doch bringt uns dieser atemberaubende technische
Fortschritt zugleich auch der Verwirklichung einer uralten Utopie näher:
Einer Welt, in der sich jeder Kontakt mit anderen Menschen vermeiden lässt.
Eine Vision, die vielen Menschen in Zeiten einer weltweiten Pandemie
verlockend scheint, manchen aber auch ohnedies.
Die Pläne von „Amazon Fresh“ reichen aber längst noch viel weiter.
Recherchen ergeben: Am Stadtrand von Hannover wird bereits ein
Supermarkttyp erprobt, der das Londoner Modell noch weit übertrifft. Der
sonst so geheimniskrämerische Konzern lädt uns nach einer erstaunlich
schnell bearbeiteten Anfrage ein, den Ort der Zukunft in Begleitung des
Projektmanagers Sebastian Kaiz zu besichtigen.
„Unsere Grundidee ist einfach“, erläutert der junge
Wirtschaftsinformatiker, als wir uns auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt
treffen. „Wir möchten die traditionelle Mauer zwischen Produzenten und
Konsumenten einreißen. Ich verstehe unseren Markt als progressives Projekt.
Bei uns tauschen die Kunden nicht bloß Geld gegen Produkte. Das ist boring,
das ist von gestern. Bei uns wird der Einkauf zur Selbstverwirklichung!“
Während wir den Markt betreten, irritiert mich ein Mann in schwarzer Kluft,
der eine Maschinenpistole vor der Brust hält. „Das ist Abdul“, erläutert
Sebastian. „Ganz ohne professionelle Kräfte geht es noch nicht, das gebe
ich zu. Natürlich können wir nicht erlauben, dass uns die Leute den
unbeaufsichtigten Laden plündern. So weit geht die Emanzipation dann doch
nicht, haha! Abdul achtet aber auch darauf, dass die Flaschen richtig in
den Pfandautomaten eingeführt werden.“
## Alarm! Tomaten sind aus
Das Innere des Gebäudes wirkt auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich.
Regale mit den üblichen Waren stehen in den üblichen Reihen. Ich spreche
eine junge Kundin namens Mara an, die sich eben drei Dosen mit passierten
Tomaten in den Einkaufswagen stellt, als plötzlich ein Alarmsignal ertönt.
„Die Waage, die im Regal verbaut ist, hat erkannt, dass nicht mehr genug
Dosen vorhanden sind“, erklärt Sebastian. „Dann flitze ich besser mal
schnell ins Lager“, lacht Mara. „Sonst ärgern sich noch andere Kunden.“
Während Sebastian mich weiter durch den Markt führt, fällt mir auf, dass
viele Kunden nicht nur Produkte aus den Regalen holen, sondern auch selbst
welche hineinstellen. Sie ziehen die Waren aus großen, würfelförmigen
Rucksäcken mit der Aufschrift „Amazon fresh – ich bin dabei!“.
„Unser Markt ist keine Einbahnstraße“, erklärt Sebastian lächelnd. „Be…
nehmen die Kunden nicht nur, sie geben auch. Hier arbeiten alle mit, wir
sind im Grunde eine Shopping-Familie. Vorm Einkauf holen die Kunden als
Mikrolieferanten Waren aus dem Zentrallager ab, selbstverständlich
umweltschonend mit dem eigenen Fahrrad. Auf diese Weise sparen wir uns
unzählige Transporte mit herkömmlichen, schmutzigen Lastwagen!“
Ich bin verblüfft und frage einen der Aktivisten, ob ihm der zusätzliche
Weg nicht lästig ist. „Überhaupt nicht!“ Der junge Mann namens Leo wirkt
ehrlich überzeugt. „Wenn sich auf diese Weise etwas gegen den Klimawandel
erreichen lässt, ist das doch das Mindeste, was ich für Amazon tun kann.
So, jetzt muss ich aber schnell noch mal los, ich habe bei der ersten Fahrt
leider sechs Flaschen Olivenöl vergessen.“ Sebastian droht dem säumigen Leo
schelmisch mit dem hoch erhobenen Zeigefinger.
In einem Gang kommt uns ein älterer Mann auf einem Reinigungsfahrzeug
entgegen. „Ich finde die Sache eigentlich ziemlich fair“, meint Werner.
„Durch einen Zufallsalgorithmus wird alle zwei Stunden ein Kunde
ausgewählt, der erst einmal feucht putzen muss, bevor er mit Einkäufen das
Gebäude verlassen darf. Für manche ist das vielleicht zeitlich ein bisschen
schwierig, aber ich bin Rentner, mir macht das nichts aus.“
Als wir zur Fleischabteilung kommen, bemerken wir einen jungen Mann mit
blondem Dutt, der hinter der Theke eine Schweineschulter durch einen
Fleischwolf dreht. „Genau deswegen komme ich hierher“, sagt Sören. „Ich
möchte wissen, was ich esse. Und wie könnte ich das besser erfahren, als
indem ich hier selbst schlachte? Außerdem ist es eine Ehre, bei so einem
Zukunftsprojekt ehrenamtlich mitmachen zu dürfen.“
Am Ausgang sitzt tatsächlich niemand mehr an einer Kasse. Wir durchqueren
die Lichtschranke, mein Telefon piepst. „Das ist die App, die ich dir
vorhin zur Verfügung gestellt habe“, sagt Sebastian. „Von deinem Konto wird
jetzt der Preis für alle Waren abgebucht – auch die, die du dir heimlich in
deine Jackentasche gesteckt hast.“ Sebastian zwinkert verschmitzt, und wir
lachen.
## Keine Dosen, keine Tomaten
Da kommt plötzlich Mara mit ihren Einkäufen. „Die Dosen im Lager waren
alle, ich musste erst noch hinten ins Gewächshaus Tomaten pflücken gehen,
verarbeiten und abfüllen. Aber frisch schmeckt ja sowieso am besten! Und
die Bewegung tut mir gut!“
Nur eine Kleinigkeit stört das prächtige Bild, das dieses Experiment
bietet: Als wir den Markt wieder verlassen, liegt links neben dem Eingang
eine Obdachlose in ihrem Schlafsack. Vor ihr steht ein Kaffeebecher aus
Pappe, völlig leer – womöglich nicht die beste Idee, vor einem bargeldlosen
Supermarkt auf Münzen zu hoffen.
„Ich dachte, ich lege mich mal hierin, weil mich vielleicht Leute
wiedererkennen und Mitleid bekommen“, sagt die verwahrloste Frau mittleren
Alters, die sich als Helga vorstellt. „Ich habe ja hier früher als
Kassiererin gearbeitet, bis wir alle überflüssig wurden. Ich würde auch
gerne mal im neuen Markt einkaufen, aber ich verdiene leider kein Geld
mehr, mit dem ich das machen könnte.“
So ist er, der gute, alte Fortschritt: Nicht alle können Schritt halten.
Bald aber wird es technische Lösungen auch für Zurückgebliebene wie die
arme Helga geben. Die App, mit der man ohne Bargeld Armen auf der Straße
etwas spenden kann, gibt es bisher allerdings leider erst in Schweden.
13 Mar 2021
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Amazon
Shopping
Kunden
Kolumne Die Wahrheit
Die Wahrheit
Hans-Georg Maaßen
Björn Höcke
Identität
Rechte
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Sowas von handgemacht
Mitunter entstehen Situationen im Leben, auf die ist man aufgrund von
Malaisen und Hunger schlicht und einfach nicht vorbereitet.
Die Wahrheit: Swingen in Sachsen
In der Kreisstadt Wurzen will man weiblicher Abwanderung mit
maßgeschneiderten Angeboten entgegenwirken.
Die Wahrheit: Futter für Fabelwesen
Der Parteitroll verbreitet Angst und Scham unter seinen Parteifreunden und
genießt es, nach dem Vorbild Thilo Sarrazins den Dissidenten zu geben.
Die Wahrheit: Schnitzel in den Grenzen von 1937
Braune Soße am Volksgerichtshof: Björn Höcke will Attila Hildmann als
Nationalkoch der Deutschen beerben. Ein Besuch in Bornhagen.
Die Wahrheit: Von der Rolle
Schluss mit Einzigartigkeit: Bis zum völligen Triumph der Identität ist es
noch ein sehr weiter und sehr beschwerlicher Weg für uns alle.
Die Wahrheit: National befreite Lätzchen
Mit Rechten reden. Im niedersächsischen Fallingbostel fordern aufgehetzte
Kindergartenkinder die ratlose Gesellschaft heraus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.