# taz.de -- Die Wahrheit: Von der Rolle | |
> Schluss mit Einzigartigkeit: Bis zum völligen Triumph der Identität ist | |
> es noch ein sehr weiter und sehr beschwerlicher Weg für uns alle. | |
Bild: Schluss mit Blusenrollen! Kommt jetzt auch Billy Wilder mit „Some Like … | |
Es ist unbegreiflich, wie wir Menschen über Jahrhunderte so verblendet sein | |
konnten, unsere Individualität völlig falsch zu verstehen. Wir Verblendeten | |
glaubten, sie bestünde in Einzigartigkeit. Dabei lautet die korrekte | |
Antwort: Identität. Inzwischen aber entdecken immer mehr Leute, dass der | |
wahre Charakter erst zutage tritt, wenn die Seele passend uniformiert wird. | |
Die Lust daran, identisch zu sein, hat besonders die akademische Jugend | |
beinahe restlos erweckt. Dass jede*r nur für Ihres*Seinesgleichen sprechen | |
darf, ist zur festen Überzeugung geworden. So entsteht erfreulicherweise | |
auch die Chance, unsere tief gespaltete Gesellschaft wieder zu versöhnen. | |
Gibt es doch inzwischen Linke wie Rechte, für die Identität gleichermaßen | |
über alles geht. Identitäten müssen säuberlich getrennt bleiben, sollen sie | |
nicht zum schmutzigen Brei zusammenlaufen. | |
Bis zum völligen Triumph der Identität liegt aber noch ein weiter Weg vor | |
uns. Längst ist die Umkehr noch nicht vollzogen, die Zerknirschung noch | |
nicht total. Eine Gruppe von Querulanten hält besonders eigensinnig am | |
Privileg ihrer Besonderheit fest: die Künstler*innen. Obwohl sich seit | |
Jahren ein wohlverdienter Scheißesturm nach dem anderen über ihnen entlädt, | |
halten immer noch einige an dem Irrglauben fest, sie hätten das Privileg, | |
Grenzen zu überschreiten. | |
Sie schreiben über Leiden, die sie gar nicht selbst erlebt haben, berichten | |
aus Zeiten, in denen sie noch nicht einmal geboren waren, und tun so, als | |
könnten sie in die Köpfe wildfremder Leute schauen! Das Ausmaß von | |
Verstocktheit ist erschreckend: Weiße drehen noch immer Filme über das | |
Schicksal von Sklaven, Iraner gründen Punkbands, Afrikaner inszenieren | |
Brecht. | |
Am schlimmsten trieben es lange die Schauspieler*innen. Vermutlich, weil | |
sie berufsbedingt der längst überholten soziologischen Rollentheorie | |
anhingen, einer Irrlehre, die behauptet, es gäbe gar keine festen | |
Identitäten, sondern bloß wechselnde Masken. Doch langsam setzt auch in | |
Hollywood endlich ein Umdenkprozess ein, sanft beschleunigt durch | |
Boykottaufrufe und öffentliche Massenbeschämung. | |
So bat gerade Halle Berry für ihre empörende Absicht um Entschuldigung, in | |
einem Film einen Trans*mann zu spielen. Die Bitte um Verzeihung war mehr | |
als nötig. Von welcher Arroganz zeugt der Glaube, man könne sich in das | |
Schicksal eines völlig andersartigen Wesens einfühlen! Es gar | |
stellvertretend darstellen! Wer sich in solchem Wahn befindet, glaubt | |
womöglich auch, Shakespeare wäre mit seinem Theater erfolgreich gewesen, | |
wenn Männer die Frauenrollen gespielt hätten. | |
So erfreulich es ist, wenn sich in der Filmbranche die Einsicht durchsetzt, | |
dass niemand in die Rolle eines anderen Menschen schlüpfen kann, so sehr | |
mangelt es noch an einer konsequenten Durchsetzung. Es gibt unendlich viele | |
Gruppen, die auf den Bühnen und Leinwänden bislang völlig falsch | |
repräsentiert und dadurch kulturell bestohlen werden. Man blicke nur auf | |
das einfache Beispiel des Kriminalfilms: Mit welchem Recht tun Axel Milberg | |
oder Ulrich Tukur im Tatort so, als wären sie Kommissare? Könnten sie nicht | |
von Toto und Harry ersetzt werden? | |
## Ben Becker gibt sich Mühe | |
Bildet „Achtung, Kontrolle!“ die Wahrheit nicht viel genauer ab als eine | |
Schwindelserie wie „The Wire“? Noch massiver ist die Missachtung, die reale | |
Täter und Opfer durch Kriminalfilme erleiden. Vielfach werden Verbrecher | |
von Männern dargestellt, die noch nie im Gefängnis gesessen haben. Ben | |
Becker gibt sich immerhin Mühe, aber das reicht nicht. Und mancher im Film | |
Ermordete ist gar nicht tot. Wenn man genau hinschaut, blinzelt die Leiche. | |
Zum regelrechten Skandal wird der schauspielerische Trug im Bereich des | |
Sozialdramas. Millionäre haben in Hollywood das Privileg, zumeist auch | |
wirklich von Millionären verkörpert zu werden. Manche Akteure werden auch | |
durch die Verkörperung erst zu dem Millionär, den sie spielen – immerhin | |
eine gelungene Form der Identifizierung. Die Subalternen hingegen haben | |
dieses Glück nicht. Der Mann, der den Obdachlosen spielt, fährt abends heim | |
in seine Villa. Der vorgebliche Bettler bedient sich in den Drehpausen am | |
Buffet, der wirklich Hungernde darf das nicht. | |
Manchen Schauspielern gelingt es mit perfider Verschlagenheit trotzdem, | |
rührend echt zu wirken. Sie sind offenbar geborene Betrüger und werden | |
dafür auch noch mit Preisen ausgezeichnet. Ein positives Gegenbeispiel soll | |
nicht verschwiegen werden: Dem britischen Regisseur Ken Loach gelingt es | |
regelmäßig, Automechaniker und Bürokauffrauen für seine sozialkritischen | |
Filme zu gewinnen. Sie agieren so hölzern, dass an ihrer Authentizität kein | |
Zweifel aufkommt. | |
Dringender Reformbedarf besteht auch beim Liebesfilm. Allerdings stoßen wir | |
hier auf gewisse Schwierigkeiten, die nicht verschwiegen werden sollen. Wie | |
die traditionellen Geschlechterstereotype radikal dekonstruiert werden | |
können, ohne dabei die sexuellen Identitäten zu erschüttern, ist noch nicht | |
endgültig geklärt. Es gibt zwar keinen Unterschied der Geschlechter, | |
dennoch muss er gewahrt bleiben. | |
Jene scheußlichen Verwechslungskomödien, in denen in dunkler Vergangenheit | |
Männer in Frauenkleidern aufgetreten sind, darf es auf jeden Fall nie | |
wieder geben. Dass der Stern von Robin Williams auf dem Walk of Fame noch | |
nicht herausgebrochen wurde, ist mehr als peinlich. Bei der Lösung des | |
Geschlechterproblems stehen die Schauspielschulen in der Pflicht: Sie | |
müssen mehr genderfluide Absolvent*innen produzieren. | |
Fest steht jedenfalls eines: Sexualität darf prinzipiell vor der Kamera | |
nicht mehr simuliert werden. Vorgetäuschte Orgasmen gibt es in der | |
patriarchalischen Gesellschaft ohnehin schon mehr als genug. Satt haben wir | |
auch Schauspielerinnen, die sich erdreisten, Opfer von Gewalt zu spielen, | |
nur um tags darauf liebesglücklich vom Titel des Hochglanzmagazins zu | |
lächeln. | |
Es bleibt ein ernüchterndes Resümee: Die einzigen Filme, die bislang | |
unseren identitätspolitischen Anforderungen gerecht werden, sind | |
Snuff-Pornos. | |
10 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Michael Bittner | |
## TAGS | |
Identität | |
Rollenbilder | |
Künstler | |
Hans-Georg Maaßen | |
Amazon | |
Björn Höcke | |
Rechte | |
Opfer | |
Katholische Kirche | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Futter für Fabelwesen | |
Der Parteitroll verbreitet Angst und Scham unter seinen Parteifreunden und | |
genießt es, nach dem Vorbild Thilo Sarrazins den Dissidenten zu geben. | |
Die Wahrheit: Shopping als Stahlbad | |
„Amazon Fresh“ kommt – und mit dem neuen Supersupermarkt auch die totale | |
Einheit von Kunden, Verkäufern und Produzenten. | |
Die Wahrheit: Schnitzel in den Grenzen von 1937 | |
Braune Soße am Volksgerichtshof: Björn Höcke will Attila Hildmann als | |
Nationalkoch der Deutschen beerben. Ein Besuch in Bornhagen. | |
Die Wahrheit: National befreite Lätzchen | |
Mit Rechten reden. Im niedersächsischen Fallingbostel fordern aufgehetzte | |
Kindergartenkinder die ratlose Gesellschaft heraus. | |
Die Wahrheit: Heulen, bis die Augen brennen | |
Festspiele der Opfer: Im badischen Weinheim fand jetzt der Postmoderne | |
Fünfkampf im Rahmen der „1. Jammeriade“ statt | |
Die Wahrheit: Ein Streik wider Gott | |
Zur Himmelfahrt von Christi: eine Abrechnung mit der höchsten Stelle. | |
Hinaus aus dem weihrauchvernebelten Dunkel, hinaus an die frische Luft! |