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# taz.de -- Die Wahrheit: National befreite Lätzchen
> Mit Rechten reden. Im niedersächsischen Fallingbostel fordern aufgehetzte
> Kindergartenkinder die ratlose Gesellschaft heraus.
Bild: Von Rechten aufgeputschte brutale Gewalttäter im Vorschulalter maskieren…
Es ist ein Tag, der Fallingbostel wie kaum einer zuvor in Atem gehalten
hat: Die Revolte in der Kindertagesstätte „Sonnenschein“ beginnt gegen
zwölf Uhr in der „Igelgruppe“. Statt sich zur Mittagsentspannung in den
Ruheraum zurückzuziehen, überwältigen die Kinder völlig überraschend die
Leiterin der Einrichtung, Stefanie Seyfarth. Nachdem sie diese mithilfe von
Gummiseilen und Bettlaken gefesselt und geknebelt haben, überfallen sie die
übrigen Erzieherinnen und befreien die Kinder der anderen Gruppen.
Auf Leiterwagen schaffen sie die Frauen vom Gelände des Kindergartens und
legen sie am Straßenrand ab. Dann verbarrikadieren die Kinder sich im
Gebäude und warten auf die Polizei. Aus einem Fenster hängen sie ein Laken,
auf das sie mit Fingerfarben die Parole „Diese Kita ist national befreit!“
geschrieben haben. Aus einem anderen Fenster hängen sie eine
Reichskriegsflagge. „Die hat mir mein Opa geschenkt“, wird eine der jungen
Täterinnen später gegenüber der Presse erklären.
Der Einsatzleiter des aus Hannover eilig angerückten Sondereinsatzkommandos
der Polizei fordert die Besetzer zunächst über Lautsprecher auf, das
Gebäude widerstandslos zu räumen und sich zu ergeben. Doch der Anführer der
Kinder, Leon Leitloff, nach Aussage der Erzieherin Seyfarth „ein ganz
naseweiser kleiner Bengel“, kommt allein aus dem Gebäude und fordert
Verhandlungen. Sie werden ihm bewilligt.
„Ich hab mir das lang genug im Fernsehen angeschaut!“, ruft der frühreife
Rebell. „Jeder, der sagt: Entweder ich bekomme, was ich will, oder ich
wähle die Nazis – der bekommt, was er will. Die Ossis bekommen ganz viel
Geld und schnelleres Internet, die Bauern bekommen ganz viel Geld und neue
Trecker, ihr Polizisten bekommt ganz viel Geld und größere Pistolen. Jetzt
sind wir dran! Wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, dann werden wir
alle rechts! Ätsch! Und übrigens: Özlem und Akono haben wir im Keller
eingesperrt. Ihr wollt doch nicht, dass denen was passiert, oder?“
## Überforderter Einsatzleiter
Von der Lage sichtlich überfordert telefoniert der Einsatzleiter zunächst
mit der Familienministerin Franziska Giffey in Berlin, um sich Anweisungen
zu holen, wie mit den aufsässigen Kindern umzugehen sei. Giffey rät dazu,
sich die Forderungen anzuhören, denn auch auf unbequeme Menschen müsse man
zugehen. Daraufhin erbittet die Polizei von Leon eine Wunschliste, er
diktiert sie am Klettergerüst einer unbewaffneten Polizistin: „1. Kein
Händewaschen mehr vor dem Essen. 2. Jeden Tag ein Schokopudding zum
Frühstück. 3. Handys dürfen den ganzen Tag an sein, auch laut und mit
YouTube. 4. Wir müssen nie mehr laufen, sondern werden überallhin mit dem
Auto gefahren. 5. Wir dürfen Karneval feiern mit Schminke und
Indianerkostümen. 6. Doch lieber drei Schokopuddings zum Frühstück. 7. Und
alles ohne Lätzchen.“
Bei der inzwischen alarmierten Elternschaft stoßen die Forderungen auf
Ablehnung. Geradezu verzweifelt zeigt sich die Mutter von Leon: „Wir haben
ihm doch immer jeden Wunsch von den Augen abgelesen! Wie konnte nur so ein
rücksichtsloser Egoist aus ihm werden?“
Während bei der Polizei Ratlosigkeit herrscht, landet plötzlich ein
Hubschrauber der Bundeswehr auf dem benachbarten Supermarktparkplatz. Ihm
entsteigt ein rundlicher Mann mit wallendem Haar. „Lassen Sie mich durch,
ich bin Argumentationslogiker!“, ruft Daniel-Pascal Zorn und drängt sich
durch die Menge. Erleichtert atmen die Menschen auf. Wer könnte mit dieser
verfahrenen Situation besser umgehen als der Autor des berühmten
Bestsellers „Mit Rechten reden“?
## Lautes Gelächter im Inneren
Ohne Zögern schreitet Zorn zum Eingang des Kindergartens, tritt ein und
schließt die Tür hinter sich. Nach einiger Stille bricht im Inneren des
Gebäudes lautes Gelächter aus, das fast eine halbe Stunde lang nicht mehr
verstummen will. Dann kehrt Zorn aus dem Kindergarten zurück. Sein Sakko
ist mit Matsch beschmiert, in sein Gesicht sind mit rotem Filzstift Penisse
gemalt, Kaugummis kleben in seinen Haaren.
„Ich habe einen klaren argumentativen Sieg errungen“, verkündet Zorn
ungerührt. „Außer Argumenten ad hominem hatten meine Kontrahenten nichts
anzubieten. Meine Aufgabe ist erfüllt.“ Der Hubschrauber hebt wieder ab.
Die Dunkelheit ist schon hereingebrochen, als endlich Angela Merkel in
ihrem Dienstwagen eintrifft. Nach vertraulichen Unterredungen mit den
besorgten Eltern und den unnachgiebigen Kindern verkündet die
Bundeskanzlerin in die Kameras der inzwischen herbeigeeilten Fernsehteams
aus aller Welt: „Wir müssen die verhängnisvolle Spaltung in unserem Land
überwinden. Dazu sind auch schmerzhafte Kompromisse nötig. Ich habe
gemeinsam mit den Eltern entschieden, dass alle Forderungen der Kinder
erfüllt werden. Im Gegenzug haben sich die Kinder bereit erklärt, sich mit
nur zwei Schokopuddingen zufriedenzugeben. Ich denke, das ist eine
vernünftige Lösung, mit der wir alle leben können.“
Spontaner Applaus brandet auf bei den Polizisten, Eltern, Journalisten und
örtlichen Neonazis, die sich rund um die Kindertagesstätte versammelt
haben. Wenig später schließen die Erwachsenen ihre Sprösslinge weinend
wieder in ihre Arme. Die meisten Kinder schlafen prompt ein, ihre Eltern
tragen die Mädchen und Jungen auf die Rücksitze ihrer SUVs und fahren
glücklich mit ihnen nach Hause.
Und so kehrt endlich wieder Stille ein in Fallingbostel. Nur ein leises,
unverständliches Rufen, das aus irgendeinem Keller zu dringen scheint,
stört noch eine Weile die Idylle.
5 Feb 2020
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Rechte
Kinder
Kindergarten
Amazon
Björn Höcke
Identität
Opfer
Journalismus
Katholische Kirche
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