# taz.de -- Die Wahrheit: Futter für Fabelwesen | |
> Der Parteitroll verbreitet Angst und Scham unter seinen Parteifreunden | |
> und genießt es, nach dem Vorbild Thilo Sarrazins den Dissidenten zu | |
> geben. | |
Bild: Der perfekte Troll: Hans-Georg Maaßen | |
Ein sonderbares Wesen zieht immer öfter die Aufmerksamkeit der Menschen auf | |
sich: der Parteitroll. Es ist ein Geschöpf, das für Begeisterung bei | |
Journalistinnen und Journalisten sorgt, für Qual, Ärger und Verzweiflung | |
hingegen bei den Parteifreunden, die mit dem Troll in ihren Reihen leben | |
müssen. | |
Für politische Parteien ist der Parteitroll ungefähr das, was für Familien | |
der durchgeknallte Onkel ist. Er blamiert mit viel zu lauten Reden bei | |
Hochzeiten und Beerdigungen zuverlässig die gesamte Verwandtschaft. Er kann | |
es nicht lassen, in aller Öffentlichkeit seine Meinung über die Türken, | |
alleinstehende Mütter und den Klimawandel kundzutun. Nach dem zwölften Bier | |
ist nicht mehr nur sein Mund lose, auch seine Hände sind nicht mehr unter | |
Kontrolle zu bringen. Kellnerinnen und Enkelinnen fliehen kreischend. Keine | |
Ermahnung kann ihn bremsen, es macht ihm einfach zu viel Spaß, den Eber | |
rauszulassen und währenddessen Angst und Scham in den Gesichtern seiner | |
Nächsten zittern zu sehen. Er hasst diese ganze Mischpoke, aber braucht sie | |
doch zugleich zum Leben, denn niemand würde sich freiwillig mit ihm | |
abgeben. Seine Schwestern und Brüder, Nichten und Neffen sind wehrlos, denn | |
es ist kaum möglich, jemanden aus einer Familie zu werfen. | |
Auch der Rauswurf aus einer Partei ist schwierig. Das macht sich der | |
Parteitroll dreist zunutze. Man muss ihm parteischädigendes Verhalten | |
nachweisen, was gar nicht so einfach ist, schädigt doch das Verhalten sehr | |
vieler Politiker das Ansehen ihrer eigenen Partei, ohne dass man sie | |
verjagte. Ein klarer Ausschlussgrund ist die offene Werbung für die | |
politische Konkurrenz, aber der Parteitroll ist natürlich nicht so dumm, | |
sich dieses Vergehen nachweisen zu lassen. Warum bleibt er überhaupt in | |
einem Verein, den er eigentlich hasst? Warum verlässt er ihn nicht | |
freiwillig? | |
Es geht ihm wie dem bösen Onkel: Ohne die Partei wäre er bald schon nichts | |
mehr. Journalisten lieben Querdenker, Störenfriede und Außenseiter. Sie | |
schenken dem Partei-troll die Aufmerksamkeit, von der er Seele und Körper | |
nährt. Aber nur solange er in der Partei bleibt und unverdrossen behauptet, | |
er verkörpere ihr wahres Wesen, während er das Gegenteil des | |
Parteiprogramms verkündet, ist sein Krawall für die Medien interessant. In | |
der Partei ist er der Geisterfahrer, auf den alle erschrocken starren. | |
Außerhalb der Partei wäre er nur noch der einsame Spinner, der nachts | |
allein Runden auf dem Supermarktparkplatz dreht. | |
## Rechter Wutrentner | |
Inzwischen hat fast jede Partei ihren eigenen Troll. Das Vorbild von Thilo | |
Sarrazin, der die SPD jahrzehntelang zur Verzweiflung trieb, war nur zu | |
verlockend. Sich selbst zum Dissidenten erklären und dabei noch ein paar | |
Millionen verdienen – wem könnte es davor grausen? Seit Sarrazin offiziell | |
kein Sozialdemokrat mehr ist, sondern nur noch einer von vielen rechten | |
Wutrentnern, ist es merklich stiller um ihn geworden. | |
Gleiches könnte nun Boris Palmer drohen, den die Grünen ausschließen | |
möchten, nachdem er einmal mehr rassistische Sprüche klopfte. Der Tübinger | |
Oberbürgermeister, der zwanghaft das Querulantentum seines Hippie-Vaters | |
auf rechts gedreht nachspielt, hat nach Meinung der Parteispitze zu lange | |
mit plumpen Provokationen auf Kosten der Partei gelebt. Palmer wäre nicht | |
Palmer, wenn er nicht auch noch das Ausschlussverfahren als schöne | |
Möglichkeit zur Selbstdarstellung begrüßt hätte. | |
Dass der Parteitroll nicht männlich sein muss, beweist seit Jahren Sahra | |
Wagenknecht. Sie hat dem Linkssein eine neue Definition gegeben: Deutscher | |
Arbeiter, der tüchtige deutsche Unternehmer ist dein Freund, dein | |
Konkurrent hingegen der Ausländer! Für ihren solidarischen Patriotismus | |
erntet Wagenknecht Applaus sogar von Björn Höcke. Da wird vielen ihrer | |
Genossinnen und Genossen mulmig zumute. Wagenknecht muss das nicht kümmern, | |
sie betreibt inzwischen ein Eine-Frau-Unternehmen, das aus dem Mediengetöse | |
mittels Talkshow, Buchvertrag und Youtube-Kanal ordentlich Profit | |
destilliert. | |
## Linksradikale Sozialdemokraten | |
Noch nicht so rund läuft es bei Hans-Georg Maaßen, der seinen ersten Ruhm | |
im Kampf gegen die christdemokratische Bundeskanzlerin erwarb. Um im | |
Gespräch zu bleiben, muss er sich irgendwo in der thüringischen Tundra um | |
ein CDU-Mandat bewerben und Mitgefühl für besorgte Ossis heucheln. So | |
richtig warm wird mit ihm aber niemand, was womöglich daran liegt, dass dem | |
ehemaligen Chef des Verfassungsschutzes, der „linksradikale Kräfte“ in der | |
SPD entdeckte, der Irrsinn doch etwas zu deutlich aus den Äuglein leuchtet. | |
Wer mag als Nächstes auf den Plan treten? Mit allem ist zu rechnen. Es kann | |
gut sein, dass in Kürze Andreas Scheuer verkündet, er als Christsozialer | |
sei der Meinung, die globale Gerechtigkeit könne nur durch eine | |
proletarische Revolution verwirklicht werden. | |
Warum aber versetzen die Trolle ihre Parteien in Panik? Warum lassen sich | |
die Eigenbrötler nicht totschweigen, warum kann man sie nicht an den Rand | |
drängen? Es ist das dunkle Geheimnis dieser Fabelwesen: Der Troll spricht | |
eine Wahrheit über seine Partei aus, die diese verschweigen will. Er | |
verkörpert ihr Wesen oft ehrlicher als die glänzenden Aushängeschilder. | |
Schon Sigmar Gabriel musste zugeben, viele, viele der einfachen Genossen | |
schrieben ihm, Thilo Sarrazin habe doch recht mit der These, die Armen | |
seien halt nun einmal genetisch minderwertig. Boris Palmer spricht mit dem | |
Bekenntnis, gern ein „Spießer“ zu sein, nicht wenigen in seiner Partei der | |
Besserverdienenden aus der Seele. Sahra Wagenknechts überbordender | |
Volksgemeinschaftskitsch wärmt wirklich auch so gar manches Herz, das links | |
schlägt. Und Hans-Georg Maaßen sagt zur großen Freude der ostdeutschen | |
Dorf-Cowboys endlich wieder das, was in der CDU jederzeit zu hören war, als | |
sie noch einen kruppharten Stahlhelm-Flügel besaß. | |
Ärgern wir uns also nicht mehr darüber, dass die Trolle gefüttert werden! | |
Zu sehen, wie sie ihre eigenen Parteien bloßstellen, ist ein unbezahlbarer | |
Genuss. | |
26 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Michael Bittner | |
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noch ein sehr weiter und sehr beschwerlicher Weg für uns alle. |