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# taz.de -- Die Wahrheit: Sowas von handgemacht
> Mitunter entstehen Situationen im Leben, auf die ist man aufgrund von
> Malaisen und Hunger schlicht und einfach nicht vorbereitet.
Bild: Die zarte Flötistin Jolanda Friedhelm ruft zum Streik auf
Darf ein Mann seinen guten Vorsätzen untreu werden? Wenn er durch die Stadt
irrt, geplagt vom Zahnweh, vom Schienenersatzverkehr und überdies auch noch
vom Hunger, der lauter im Leib rumort als das schlechte Gewissen?
Schnell und verschämt ließ ich mich in eine winzige Bahnhofsfiliale von
Burger King gleiten. Am Tresen begrüßte mich eine ältere Frau, eine weitere
wartete halb versteckt im Bratbereich. Die Verkäuferin fragte freundlich,
doch auch subtil drängend nach meinen Wünschen. Aber was nun hier
bestellen?
Ich entschied mich für Pommes Frites in einer der Delikatessvarianten, wie
sie neuerdings allerorten angeboten werden: frittierte
Kartoffelmehlpressstäbchen, verfeinert mit geschmolzenem Industriekäse und
vertrockneten Zwiebelstückchen. Das Verbrechen gegen Geschmack und Vernunft
auf dem Tablett setzte ich mich in die hinterste Ecke und begann, gierig zu
schlingen. Hunger und schlechtes Gewissen arbeiteten nun Hand in Hand und
beschleunigten gemeinsam den Verzehr.
## Ganz neue Worte
„Ich bin so froh, dass Sie hier sind!“, klang es plötzlich vom Tresen
herüber. „Ich bin so froh, dass Sie hier arbeiten!“ Was für Worte, aber
auch in der Filiale einer amerikanischen Bulettenbraterei! Die alte
Verkäuferin war ebenso verdutzt wie ich und lächelte unsicher. Vor ihr
stand ein sächsisches Paar auf Reisen, das eben das Lokal betreten hatte.
„In den anderen Filialen gibt’s ja nur noch diese fürchterlichen
Automaten“, fuhr die Kundin fort, unterstützt vom Kopfnicken ihres Mannes.
„Damit komme ich gar nicht zurecht. Ich bin so froh, dass man hier noch von
Menschen bedient wird!“ Das Gesicht der Verkäuferin, auf dem vorhin noch
der stumpfe Ausdruck stummen Leidens gelegen hatte, hellte sich wirklich
auf. „Vielen Dank!“, sagte sie. „Es wird halt überall gespart und die Le…
machen es mit. Irgendwann wird das sicher hier auch kommen.“ Der Sachse
hatte sein Stichwort bekommen: „Ja, es ist furchtbar, wie es mit
Deutschland bergab geht. Es ist eine Schande!“
Mit zwei kompletten Burger-Menüs setzten sich die beiden Sachsen an den
Tisch neben meinem. „Ist doch furchtbar, oder?“, begrüßten sich mich, auf
Zustimmung hoffend. Und ich war mitten im Genuss meiner Fritten in der
Laune, sie ihnen nicht hartherzig zu verweigern. „Ich boykottiere das
auch“, sagte ich. „Ich bezahle im Supermarkt auch nicht an Automaten. Warum
soll ich diesen Firmen die Arbeit abnehmen?“ Energisch nickte das Paar.
„Wir bezahlen so viel Geld und dann lassen wir uns derart verarschen!“,
steigerte sich der systemkritische Sachse in fast schon vorrevolutionäre
Wut.
Als ich bis zum letzten Krümel aufgegessen hatte, verabschiedete ich mich.
Ich blickte mich um, aber konnte kein Abstellregal für mein benutztes
Tablett entdecken. Da ließ ich’s einfach auf dem Tisch stehen. Die Frauen,
die hier für uns brieten, würden sich über noch mehr traditionelle
Handarbeit ja gewiss freuen.
19 Apr 2022
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Konsum
Arbeit
Sachsen
Streik
SPD
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Hans-Georg Maaßen
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