| # taz.de -- Die Wahrheit: Genosse für die Ewigkeit | |
| > Besuch bei einem schwierigen Sozialdemokraten, den seine Partei trotz | |
| > aller Mühen partout nicht loswerden und erst recht nicht hinauswerfen | |
| > will. | |
| Bild: Noch ein nicht leicht aus der SPD zu entfernender Genosse der ersten Stun… | |
| Joachim Klemm wirkt wie ein gebrochener Mann. Eingesunken sitzt der | |
| 67-jährige Dortmunder auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer und blickt aus dem | |
| Fenster müde auf den Verkehr in der Brackeler Straße. Äußerlich scheint es | |
| dem Wirtschaftsingenieur im Ruhestand gut zu gehen: An der Wand prangt ein | |
| neuer Flachbildfernseher, auf dem quadratischen Glastisch stehen Likör und | |
| Gebäck bereit. Klemm ist kein Medienprofi, hat journalistische Besucher | |
| wohl noch nie empfangen. Doch in dem schüchternen Mann rumort eine | |
| Empörung, die ihm keine Wahl lässt, als den Weg an die Öffentlichkeit zu | |
| gehen. | |
| „Ich versuche seit 17 Jahren vergeblich, aus der SPD ausgeschlossen zu | |
| werden!“, bricht es aus Klemm endlich hervor. Auf eine irritierte Nachfrage | |
| reagiert er mit bitterem Lachen: „Ja, ich weiß, das werde ich immer zuerst | |
| gefragt, wenn ich jemandem meine Geschichte erzähle: Warum trittst du denn | |
| nicht einfach aus? Pah! Außenstehende wissen nicht, dass man die SPD gar | |
| nicht auf eigenen Wunsch verlassen kann. In ihr gilt die gleiche Regel wie | |
| in der katholischen Kirche oder in der italienischen Mafia: Wer einmal drin | |
| ist, ist auf Lebenszeit dabei – ob er will oder nicht.“ | |
| Kopfschüttelnd fährt er fort: „Ich wurde bei meiner Aufnahme direkt nach | |
| dem Abitur vom Ortsverbandsvorsitzenden mit einem Glas Dortmunder Union | |
| Siegel Pils getauft. Ich fand das damals amüsant, nie hätte ich vermutet, | |
| dass dieser Akt mehr als symbolische Bedeutung haben könnte. Der einzige | |
| Weg aus der Sozialdemokratie ist die Exkommunikation. Oder wie das hier in | |
| Dortmund heißt: Ausgenossung.“ | |
| Klemm schweift ab und erzählt von seiner langen und entbehrungsreichen | |
| Parteikarriere. Bis zum stellvertretenden Beauftragten für die | |
| Hundekotproblematik im Stadtbezirk Brackel habe er es gebracht, dann aber | |
| resigniert. „Der Konkurrenzkampf, die Intrigen, diese Machtgier – all das | |
| hat mich immer mehr abgestoßen, bis ich irgendwann nur noch raus wollte“, | |
| sagt Klemm. „Doch damit bin ich gegen eine Wand gerannt, zuerst vor Ort, | |
| dann auf Landesebene und am Ende bei der Bundespartei. Man könne für mich | |
| nicht die Regeln ändern, hieß es überall. Schließlich blieben meine Briefe | |
| unbeantwortet.“ | |
| ## Zorniges Urgestein | |
| Der Zorn des sozialdemokratischen Urgesteins ist noch immer nicht | |
| verraucht. „Ich habe mir dann 2005 gedacht: Wenn es erlaubt ist, dass | |
| Gerhard Schröder eine Vertrauensabstimmung absichtlich verliert, dann kann | |
| ich auch versuchen, mich aus der SPD werfen zu lassen, woll!“ | |
| Was Klemm nun erzählt, klingt mehr als sonderbar, fast unglaublich. Gezielt | |
| sammelte der verhinderte Parteiflüchtling Thesen, die seiner Meinung nach | |
| den sozialdemokratischen Grundwerten völlig widersprachen – und posaunte | |
| sie ungefragt bei Parteitagen, an Wahlkampfständen und in | |
| Bürgerversammlungen in die Öffentlichkeit. | |
| „Ich habe zum Beispiel laut gesagt: Arme Menschen sind arm, weil sie fauler | |
| und dümmer sind als andere. Oder: Wir müssen die Sozialleistungen des | |
| Staates kürzen und die Steuern auf Kapitalgewinne senken. Oder: Arbeitslose | |
| können getrost mit weniger Geld auskommen, eine gesunde Ernährung ist auch | |
| mit 4,25 Euro am Tag möglich.“ | |
| Klemm muss unwillkürlich schmunzeln, während er sich an seine | |
| Narrenstreiche erinnert. „Aber glauben Sie, ich wäre bei den Genossen auf | |
| Empörung gestoßen? Sie haben mich nicht rausgeschmissen, sondern meine | |
| Ansichten als bedenkenswert gepriesen! Von Ausschluss keine Rede!“ | |
| Das nächste Kapitel seiner Geschichte ist Joachim Klemm erkennbar | |
| unangenehm. „Ich schäme mich ein bisschen. Ich habe es dann nämlich mit | |
| Rassismus probiert. Ich habe verkündet, Türken und Araber seien genetisch | |
| minderwertig, deshalb für Deutschland nutzlos, weshalb man ihrer Vermehrung | |
| hier bei uns Einhalt gebieten müsse. Ich habe das auch schriftlich an | |
| rechte Postillen geschickt, die es prompt abdruckten.“ | |
| ## Ratloser Meinungsmacher | |
| Auf die Frage, wie die Sozialdemokraten darauf reagiert hätten, druckst er | |
| ein wenig herum. „Tja, öffentlich haben Sie gesagt, dass man meine Sorgen | |
| ernst nehmen müsse. Privat haben Sie mir zugezwinkert und meinten, | |
| insgeheim sei das auch schon längst ihre Meinung. Das war der Punkt, an dem | |
| ich nicht mehr weiterwusste. Kurz hatte ich noch den Einfall, mir ein | |
| Hakenkreuz auf die Stirn tätowieren zu lassen. Aber ich bin mir inzwischen | |
| nicht mehr sicher, ob das ausreichen würde, um aus der SPD zu fliegen.“ | |
| Nach diesen Worten lassen wir den ratlosen Mann mit ungutem Gefühl zurück. | |
| Anderthalb Wochen nach unserem Besuch dann die überraschende Wendung: | |
| Morgens um halb sieben Uhr ein Anruf. „Ich habe es geschafft“, brüllt ein | |
| beinahe rasender Joachim Klemm aus dem Lautsprecher. „Die SPD hat mich | |
| rausgeschmissen!“ | |
| Auf die verschlafene Frage, wie ihm das denn gelungen sei, zittert das | |
| Glück des lange so verzweifelten Mannes in seiner Stimme: „Ich habe in | |
| einem Leserbrief an die Ruhr Nachrichten geschrieben, die Lehre von Karl | |
| Marx könnte möglicherweise doch einige Körner Wahrheit enthalten. Der | |
| Bundesvorstand der SPD hat daraufhin gestern eine Notfallkonferenz | |
| einberufen. Auf Antrag der SPD-Ortsgruppe Hamburg-Blankenese hat das | |
| Bundesschiedsgericht mich in einer Dringlichkeitssitzung um 4:27 Uhr | |
| einstimmig aus der SPD ausgeschlossen!“ | |
| Wir gratulieren Joachim Klemm von Herzen. Wir alle aber müssen wohl das | |
| falsche Bild, das wir von der SPD haben, ernsthaft korrigieren: Sie lässt | |
| Menschen, die sich redlich bemühen, am Ende doch Gerechtigkeit widerfahren. | |
| 15 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bittner | |
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