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# taz.de -- Die Wahrheit: Rückenstärkung beim Bärendienst
> Die Stimmen der Provinz: Das gar seltsam anmutende Genre des
> Lokalzeitungskommentars von Kleinfürsten, die nicht aufhören, zu mahnen.
Bild: Flüstertüte, Flüstertüte: meinungstechnisch ganz weit vorne
Im Reich der Worte gibt es viele sehr seltsame Sorten von Texten.
Theologische Abhandlungen zum Beispiel, in denen mit größtem Scharfsinn
kolossale Begriffe zergliedert werden, die den ontologischen Makel haben,
dass ihnen nichts in der Wirklichkeit entspricht. Oder die Liebesgedichte
von Hobbypoeten, die in zierlichen Broschüren in die Welt hinaus gesandt
werden und trotzdem nie vor andere Augen kommen als die des Dichters
selbst. Oder Brandreden von parlamentarischen Hinterbänklern, die, zwei
Stunden nach Mitternacht energisch in den leeren Saal gebrüllt, schon im
Augenblick ihrer Kundgabe rückstandslos in der Luft zerfallen.
Nicht minder sonderbar ist die Textgattung des Regionalzeitungskommentars.
Gemeint ist nicht die Spalte im Lokalteil, in der irgendein Redakteur über
die Taubenkotproblematik auf der Haupteinkaufsstraße von Fritzlar schimpft.
Gemeint sind die Einlassungen zum Weltgeschehen, die oft auf der ersten
Seite von Regionalzeitungen erscheinen. Sie sind zumeist exklusives
Reservat des Chefredakteurs. Der lässt es sich auch nicht nehmen, sein
Konterfei neben die Zeilen setzen zu lassen, obwohl das Bild allein schon
ein guter Anlass wäre, das Abonnement zu kündigen. Aber die Welt muss
einfach erfahren, wie der Mann aussieht, der solche Botschaften verkündet.
Sie sind wichtige Leute, diese Chefs vom Badischen Abendblatt, der
Haßfurter Neuen Presse oder der Märkischen Volkszeitung. Als Söhne aus
angesehenen Familien von Fleischermeistern oder Studienräten haben sie es
so weit nach oben geschafft, wie man es als Mittelstandssohn in Deutschland
nur schaffen kann. Sie haben in jungen Jahren auch einmal ein Volontariat
beim Spiegel oder der Zeit absolviert, mussten dort allerdings feststellen,
dass sie mit den ganz Ehrgeizigen beim Wettbewerb um den schmissigsten Stil
und die gepudertsten Nasen nicht mithalten konnten.
So dachten sie sich irgendwann: Statt nur einer von vielen in der Metropole
zu bleiben, werde ich doch lieber der Größte in der Kleinstadt. Dort haben
sie jetzt immerhin ein ansehnliches Eigenheim auf dem bewaldeten Hügel am
westlichen Stadtrand, sind mit dem Bürgermeister per Du und werden jedes
Jahr zum Sommerfest der Stadtwerke eingeladen, wo das Buffet köstliche
Kalbsschnitzel und sehr guten französischen Weißwein bereithält.
Um die Minderwertigkeitsgefühle auszugleichen, die dennoch in ihnen
rumoren, dient ihnen ihr Chefkommentar. Aus Pinneberg, Wiesbaden und
Schwerin schallen laut und entschieden Mahnungen und Warnungen an die
Mächtigen dieser Welt: Der Bundeskanzler darf auf keinen Fall; der
amerikanische Präsident hat schnellstens; der Papst sollte besser; die
Europäische Union kann definitiv; die Menschheit muss endlich.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Angesprochenen je einen Blick in den
Westfälischen Kurier, den Sindelfinger Anzeiger oder die Lausitzer Stimme
werfen, um sich belehren zu lassen, ist offenkundig gering. Aber darum geht
es den schreibenden Provinzfürsten auch gar nicht. Die Wichtigkeit der
Angesprochenen soll nur der Wichtigtuerei des Sprechers dienen.
Deswegen ist der Chefredakteur auch bemüht, jenen politischen Jargon bis
zur Ununterscheidbarkeit nachzuahmen, den er aus den Verlautbarungen der
Politiker kennt. Das erscheint nicht nur dem anspruchslosen Leser seriös,
es soll auch Zugehörigkeit beweisen. Immerzu besteht in diesen Kommentaren
dringender Handlungsbedarf. Unablässig werden Bärendienste erwiesen. Alles
Mögliche wird auf Rücken ausgetragen. Ständig wird geliefert und abgeholt.
Man sieht kritisch, zeigt klare Kanten, macht Lackmustests, vermisst
Markenkerne, hofft auf Quantensprünge und fürchtet Schieflagen – und das so
zeitnah, zielführend und zukunftsfest wie möglich. Es werden schließlich so
oft neue Wege beschritten, dass man sich fragt, ob die nicht langsam einmal
ausgetreten sein müssten.
Meist ist er nur 2.000 Anschläge lang, dieser Kommentar, aber das sind
immer noch ungefähr 2.000 Zeichen zu viel. Man könnte jeden dieser
Kommentare platzsparend mit den Worten „Sowohl – als auch!“ zusammenfasse…
Bei jedem Thema sieht der Chefredakteur links einen gefährlichen Abgrund
lauern, aber auch rechts eine gewisse Übertreibung. Es gilt, sich von den
Rändern fernzuhalten, denn dort lauern die Extreme. So empfiehlt er jedes
Mal aufs Neue den vernünftigen Mittelweg, der mit den Phrasen des gesunden
Menschenverstandes gepflastert ist. Es soll auf die Stimme der Mehrheit
gehört werden, die richtige Balance ist gefragt und selbstverständlich auch
Fingerspitzengefühl. So findet sich gewiss immer eine gute Lösung.
## Aussterbende Gattungen
Ob es noch eine gute Lösung für die rustikalen Redaktionspatriarchen selbst
gibt, ist inzwischen mehr als zweifelhaft. Sie und ihre Kommentare sind
aussterbende Gattungen. Immer mehr regionale Zeitungen gehören inzwischen
einem überregionalen Medienkonzern, die Titelseiten werden ihnen nebenbei
aus der Großstadt diktiert. Womöglich müssen Kommentare bald auch gar nicht
mehr von Menschen produziert werden. Die künstliche Intelligenz schreibt ja
viel schneller und billiger das auf, was niemanden überrascht. Sogar das
Geld fürs Porträtfoto lässt sich sparen.
Eines Tages werden wir sie wehmütig vermissen – wie eine alte übersüßte
Eissorte, die schlecht für die Zähne war, aber den Geschmack der Kindheit
in sich trug, oder eine längst eingestellte Fernsehserie, die stets dumm
vor sich hinplätscherte, aber so manche Bügelstunde überbrückte. Es hilft
nichts, wir müssen die Stimmen der Provinz wahrnehmen, solange es sie noch
gibt. Stärken wir ihnen den Rücken!
13 Jun 2025
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Kommentar
Chefredakteur
Regionalismus
Wichtigheimer
Meinungsbildung
Affen
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt #metoo
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