# taz.de -- Dramafilm „Blue Jean“: Scham und Schmerz | |
> Georgia Oakleys Spielfilm „Blue Jean“ erzählt von einer lesbischen | |
> Sportlehrerin, die sich durch ein Doppelleben vor Homophobie schützen | |
> will. | |
Bild: Jean (Rosy McEwen) unterwegs in ihrem zweiten Leben | |
„Niemand ist eine Insel“: Der englische Dichter John Donne (1572–1631) mag | |
nicht unbedingt an die Frage gedacht haben, ob ein Outing nun eine reine | |
Privatangelegenheit ist oder doch eine politische Dimension besitzt, als er | |
dies in seiner „Meditation XVII“ formulierte. Dennoch beschreibt seine | |
Feststellung, dass „jeder Mensch ein Stück des Kontinents, ein Teil des | |
Festlandes“ ist, mit der er auf die letztliche Verbundenheit aller | |
menschlichen Schicksale anspielt, ganz hervorragend die spürbare Haltung | |
von Georgia Oakleys einfühlsamem Spielfilmdebüt über einen lesbischen | |
Selbstfindungsprozess. | |
„Blue Jean“ taucht in die 1980er Jahre im britischen Newcastle und damit in | |
die bleierne Atmosphäre des Thatcherismus ein. Dort setzt die titelgebende | |
Jean (Rosy McEwen) alles daran, eine ebensolche Insel im konservativen | |
Klima zu sein. Durch ein akribisch ausbalanciertes Doppelleben versucht | |
sie, über den Dingen zu stehen. Durch einen Rückzug ins Private dem | |
Politischen aus dem Weg zu gehen. | |
In ihrem nach außen sichtbaren Alltag ist sie eine junge, geschiedene | |
Sportlehrerin, die sich mit viel Engagement um die Spielerinnen des | |
Netball-Teams einer weiterführenden Schule in Nordengland kümmert. Vor dem | |
Unterricht geht sie joggen, nach Feierabend sieht sie fern. | |
Als sollte auch das Publikum anfangs nur zu Gesicht bekommen, was ihre | |
Protagonistin über sich preiszugeben bereit ist, eröffnet „Blue Jean“ mit | |
dieser kontrastarmen Routine. Von der Kamera Victor Seguins wird sie in | |
schwermütig-schöne Einstellungen übersetzt und auf das körnige Bild eines | |
16-mm-Films gebannt, das Georgia Oakleys Debüt bereits in visueller | |
Hinsicht so imposant macht. | |
## Blassblau schimmert der Rauch | |
Bläulich reflektiert das Licht von der Bleiche auf dem Ansatz ihres kurzen | |
Haares. Blau blitzen ihre Augen im Spiegel auf, als sie sie aufträgt. Der | |
Rauch ihrer Zigarette schimmert kurz darauf blassblau im Schein des | |
Fernsehbildschirms. In der Dating-Show, die sie sich ansieht, will ein Mann | |
von den Kandidatinnen wissen, was „das Femininste“ an ihnen ist. Denn | |
feminine Frauen möge er ganz besonders. | |
Die Welt, die Jean nur wenige Momente später betritt, könnte kaum einen | |
größeren Gegensatz zu der darstellen: In einer schummrigen Szenebar trinken | |
die anwesenden Frauen bevorzugt Bier, spielen Billard, unterhalten sich | |
lautstark und lachen ausgelassen. Anders ausgedrückt: Die ausschließlich | |
weiblichen Gäste benehmen sich so wenig „damenhaft“, dass es das Missfallen | |
des Mannes aus besagtem TV-Format erregen dürfte. Dass Jean auf Frauen | |
steht – durchaus auf den eher maskulinen Typ –, ist, was sie vor der | |
Öffentlichkeit geheim halten möchte. | |
Mit Viv (Kerrie Hayes) stellt ihr Oakley, die auch das Drehbuch verfasste, | |
eine Partnerin zur Seite, die gänzlich anders mit ihrem Lesbischsein | |
umgeht. Obwohl sie als Butch mit Buzzcut, zahlreichen Tätowierungen und | |
Piercings und die dazu gerne Leder trägt und Motorrad fährt allein durch | |
ihr Auftreten stärker auf Ablehnung stößt als die tomboyhafte Jean, steht | |
sie selbstbewusst zu sich. Ihre Beziehung bildet neben dem Schulalltag eine | |
von zwei Ebenen, auf der „Blue Jean“ die Tragweite eines (ausbleibenden) | |
Coming-outs und die damit einhergehende innere Zerrissenheit seiner | |
Protagonistin sorgsam ausbreitet. | |
## Fehlende Selbstakzeptanz | |
Die Spannungen, die sich aus Jeans fehlender Selbstakzeptanz ergeben, | |
offenbaren sich schon nach wenigen Spielminuten. Als Jeans Schwester | |
unangekündigt vor ihrer Tür steht, um ihren Sohn wegen eines medizinischen | |
Notfalls bei ihr vorbeizubringen, versteckt sie Viv zunächst. Als der Neffe | |
schließlich auf Viv trifft, stellt Jean sie als „eine Freundin“ vor, | |
woraufhin Viv verletzt die Wohnung verlässt. Es ist die erste Situation, in | |
der „Blue Jean“ aufzeigt, dass die Sache mit dem „Insel-Sein“ nicht rec… | |
funktioniert. | |
Indem Jean ihre Sexualität zu verheimlichen sucht, verleugnet sie zugleich | |
ihre Partnerin. Bewertet die Akzeptanz durch die Familie höher als eine | |
aufrichtig gelebte Beziehung zu ihr. Und belegt etwas mit Scham, worauf | |
zumindest Viv stolz ist. | |
Das mag das Bemerkenswerteste an Georgia Oakleys Film sein: Wo im queeren | |
Kino gemeinhin uneingeschränktes Verständnis für Protagonisten herrscht, | |
die vor einem Outing zurückschrecken und es allein die erschwerenden | |
gesellschaftlichen Umstände sind, auf die sich das kritische Augenmerk | |
richtet, nimmt „Blue Jean“ bei allem spürbaren Mitgefühl seine Heldin im | |
steten Wechsel zwischen den Welten teils mit in die Verantwortung. | |
Und das umso deutlicher, als die Folgen ihres Bedachtseins auf Selbstschutz | |
eine immer größere Tragweite annehmen. Mit der Ankunft einer neuen | |
Schülerin im Netballteam wird allmählich ein moralisches Moment aufgebaut. | |
Die 15-jährige Lois (Lucy Halliday) besitzt sportliches Talent und weckt | |
damit zwar Jeans Sympathie, zieht aber den Groll der inoffiziellen | |
Anführerin Siobhan (Lydia Page) auf sich. Diese bringt die anderen jungen | |
Frauen gegen die burschikos auftretende Mitschülerin auf, beschimpft sie | |
als „Dyke“ („Kampflesbe“). Jean, die es eigentlich versteht, selbst | |
aufmüpfige Schülerinnen mit einem schlagfertigen Spruch im Zaum zu halten, | |
versucht sie zwar zunächst in Schutz zu nehmen, gerät ob des politischen | |
Geschehens allerdings in Panik um ihre Stellung. | |
## Die Homophobie geht weiter | |
Über Radiobeiträge und Fernsehauftritte flicht „Blue Jean“ die im Zuge der | |
Debatte um die sogenannte „Section 28“ offener zutage tretende Homophobie | |
in der britischen Gesellschaft mit ein. Mit der konservativen Mehrheit im | |
Parlament verabschiedet Margaret Thatcher im Jahr 1988 unter dem | |
fadenscheinigen Vorwand, „Kinder schützen zu wollen“, ein Gesetz, [1][das | |
die „Förderung“ von Homosexualität an staatlichen Schulen untersagt]. Dass | |
Georgia Oakley ihr Debüt im Kontext dieses noch bis 2003 gültigen Gesetzes | |
verortet, macht „Blue Jean“ nicht etwa zu einem sozialrealistischen Drama | |
allein über überwundene Widrigkeiten. | |
Vielmehr knüpft es zeitgleich an höchstaktuelle Entwicklungen wie die | |
[2][„Don’t Say Gay“-Bill in Florida] an. Wenngleich der Film als | |
feinsinnige Charakterstudie nie in einen didaktischen Tonfall verfällt, | |
problematisiert er doch ihre Zurückhaltung. Beispielsweise in Situationen, | |
in denen sich Kollegen befürwortend zur neuen Gesetzeslage oder besorgt | |
über die „verletzlichen Gemüter“ von Kindern äußern. Etwa indem er sie … | |
Berichten über Lesben kontrastiert, die sich von der Galerie des House of | |
Lords abseilten, um gegen „Section 28“ zu protestieren, oder schlicht durch | |
den Vergleich zu Vivs nicht minder selbstbewusstem Freundinnenkreis, der | |
sich schon allein durch sein Auftreten im Alltag jeden | |
Anpassungserwartungen widersetzt. | |
Zwar zeigt „Blue Jean“ die Vorsicht seiner Protagonistin als | |
nachvollziehbares Verhalten. Arbeitet aber auch heraus, dass mit jedem Mal, | |
in dem das Gesprochene unwidersprochen bleibt, der Status quo perpetuiert | |
wird. Vielleicht sogar, dass der Versuch, ein Insel-Dasein | |
aufrechtzuerhalten und das damit einhergehende Fehlen von Sichtbarkeit, von | |
Vorbildern und Verbündeten derartige Entwicklungen erst ermöglichen. | |
## Stillschweigen und das Fehlen von Sichtbarkeit | |
Dass dieser Versuch ein vergeblicher ist, versteht Jean, als sie einsehen | |
muss, dass die Kämpfe ohnehin zu ihr kommen werden, so sehr sie ihnen auch | |
ausweichen will. Bald schon wird im Kollegium über ihre sexuelle | |
Orientierung getuschelt. Zur Katharsis kommt es schließlich, als Lois | |
fälschlicherweise der sexuellen Belästigung einer Mitschülerin bezichtigt | |
wird, und Jean aus Sorge, man könnte ihr ein sträfliches Verhältnis zu | |
ihren Schülerinnen unterstellen, stillschweigt. | |
Dass das Ende von „Blue Jean“ auf eine große Geste verzichtet und die | |
Protagonistin stattdessen zum ersten Mal für sich selbst einsteht, passt zu | |
einem Film, dessen Stärke gerade in seiner erzählerischen Subtilität | |
besteht, transportiert durch einen hervorragenden Cast voller | |
Newcomerinnen. | |
Dass Georgia Oakleys Debüt im Umgang mit der Darstellung von Lesbischem | |
eine ähnliche Scheu wie ihre Protagonistin walten ließe, bedeutet das | |
nicht. Sinnliche Sexszenen finden in „Blue Jean“ ebenso Raum wie lesbische | |
Frauen jeglicher Couleur, die bereits begriffen haben, dass sie „Teil des | |
Festlands“ sind. Oder eben: dass das Private durchaus politisch ist. | |
5 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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