# taz.de -- Theater über queeres Leben im Barock: In den Augen der anderen | |
> Eine Frau in Männerkleidung? Vor vierhundert Jahren war Moll Cutpurse | |
> dafür berühmt und berüchtigt. Ihre Story erzählt das Theaterstück | |
> „Roaring“. | |
Bild: Jules* Elting als Moll Cutpurse, in einem verführerischen silbernen Anzug | |
Moll Cutpurse, Moll, die dir den Beutel abschneidet, das war nur einer der | |
vielen Namen von Mary Frith. Dass die Gaunerin sich als Mann verkleidete, | |
Prügeleien nicht scheute, einen Degen trug, sich im Theater und in | |
Hurenhäusern rumtrieb, all das gehört zu ihrem legendären Ruf, der sie | |
schon zu Lebzeiten berühmt und berüchtigt machte. | |
1610 schrieb das Dramatiker-Duo Thomas Dekker und Thomas Middleton die | |
Komödie „The Roaring Girl“, in der Moll Cutpurse eine nicht gerade | |
schmeichelhafte Rolle spielt. Ein junger Mann, dem sein Vater, ein Richter, | |
die Heirat mit seiner geliebten Braut verweigert, weil ihre Mitgift zu | |
klein ist, droht dem Vater, stattdessen Moll Cutpurse zu heiraten. Er setzt | |
sie also ein wie ein Monster, um den Vater zu erpressen. | |
In den 1980er Jahren wurde das Stück in England wiederentdeckt, in einer | |
Produktion, in der Helen Mirren die Mary Firth spielte. In den Gender | |
Studies brachte es Mary Firth, über die es mehr Fiktion als Fakten gibt, zu | |
einiger Berühmtheit, lässt sich ihre Figur doch auch als Empowerment lesen: | |
eine Frau, die sich die Freiheiten und Rechte der Männer nimmt. | |
Auf Deutsch gab es den Text aber nicht, bis sich der Schweizer Autor und | |
Dramaturg Martin Bieri der Sache annahm. Sein Stück „Roaring“ ist eine | |
Überschreibung, in der Moll Cutpurse selbst die Geschichte erzählt und die | |
Rollen der anderen mitspielt. In der Schweiz kam die freie | |
Theaterproduktion „Roaring“ heraus und gastierte übers Wochenende [1][im | |
TD.] | |
## Anfeindungen im non-binären Leben | |
„Roaring“ ist eine Soloperformance, von der Regisseurin Antje Schupp mit | |
Bieri und Jules* Elting entwickelt. Sie rücken den Queerness-Aspekt in den | |
Mittelpunkt, die Möglichkeiten eines non-binären Lebens und die | |
Anfeindungen, die es erfährt. Folgerichtig beginnt die Inszenierung mit der | |
Erzählung eines Gerichtsprozesses gegen Mary Firth 1612. | |
Erst ist Jules* Elting nur als schlanker Schatten sichtbar, der von den | |
Anschuldigen gegen Mary/Moll erzählt, von Besuchen in Tabakläden und | |
Theatern, in Männerkleidung! wohlgemerkt, von Unzucht und Schande. Zugleich | |
aber auch mit Mary Firth’ Stimme spricht: Sie beschreibt das Publikum ihres | |
Gerichtsprozesses, dessen Freude, sie am Pranger zu sehen. | |
Dass Mary Firth vor allem eine große Projektionsfläche für Wünsche und | |
Ängste war, daran besteht von Anfang an wenig Zweifel. Jeder sieht seine | |
eigenen Fantasien in ihr. Elting selbst ist von androgyner Gestalt und | |
betont in einem Moment des Heraustretens aus den vielen Rollen, sich als | |
Mann zu sehen und als Mann gesehen werden zu wollen. | |
Zunächst aber muss sich Jules* Elting durch die Rollen der | |
elisabethanischen Komödie kämpfen, den herrischen Richter geben, der in | |
Firth ein Ding und ein Monster sieht, aber keinen Menschen, oder | |
Schneidersfrau und Schneider spielen, die ob der erotischen Anziehungskraft | |
von Moll Cutpurse, die sich ein Paar Hosen kaufen will, in einen | |
Eifersuchtsstreit geraten. Die Szene steht exemplarisch für das Misstrauen | |
und den Neid, der Moll Cutpurse überall dort entgegenschlägt, wo sie sich | |
mit libertärem Gestus über Konventionen hinwegsetzt. | |
Die Aufführung dauert nur eine knappe Stunde, viel wird verhandelt, die | |
historische Fiktion in Beziehung gesetzt zu dem Wunsch nach Anerkennung von | |
queeren und non-binären Identitäten heute. Da wird manches nur angetippt, | |
was etwas mehr Ausführung verdient hätte. | |
Für Jules* Elting ist die Inszenierung auch eine persönliche | |
Auseinandersetzung. Jules* Elting gehört zu den Unterzeichner*innen | |
des [2][Manifest Actout von 2021], das für mehr Sichtbarkeit von | |
lesbischen, schwulen, trans und non-binären Schauspieler*innen eintrat | |
und betonte, dass sie alles spielen können: „Wir müssen nicht sein, was wir | |
spielen. Wir spielen, als wären wir es – das ist unser Beruf.“ | |
Im Gespräch nach der Berliner Premiere betonte Elting, dass dies Manifest | |
mit eine Motivation war, „Roaring“ zu spielen. Auch wenn die Wut, der | |
Darstellung von Cis-Männern wie dem Richter so viel Raum zu geben, die | |
Sache nicht einfach machte. | |
15 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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