| # taz.de -- Marsch der Abtreibungsgegner*innen: Unter bürgerlichem Deckmantel | |
| > Am Samstag versammeln sich Abtreibungsgegner*innen wieder beim | |
| > jährlichen „Marsch für das Leben“. Zum ersten Mal ziehen sie durch zwei | |
| > Städte. Ein Zeichen neuer Stärke? | |
| Bild: Der „Marsch für das Leben“ (hier im März 2023 in München) wendet s… | |
| Das Video hat alles, was es in den sozialen Medien braucht: gute Musik, | |
| Zeitrafferbilder, eine klare Botschaft. Die Country-Sängerin Dolly Parton | |
| singt „Working 9 to 5“, dazu tragen zwei junge Leute Holzbretter aus einem | |
| Auto in eine Garage. „Wir waren gestern fleißig und haben ganze 400 | |
| Holzlatten für die Demoschilder parat gemacht“, steht unter dem Video. | |
| Zu sehen ist es auf dem Instagram-Kanal @koelnermarschfuerdasleben, der | |
| mobilmachen will für den jährlichen Höhepunkt der Abtreibungsgegner*innen. | |
| Das Video soll zeigen: Wir sind jung, wir sind bereit, wir werden viele | |
| sein, am 16. September in der Kölner Innenstadt. | |
| Der erste „Marsch für das Leben“ fand 1974 in Washington statt und | |
| expandierte seither in verschiedene Länder. Seit 2002 gibt es ihn auch in | |
| Berlin, seit 2008 sogar jährlich. In Köln findet er dieses Jahr das erste | |
| Mal statt. | |
| Regelmäßig versammeln sich auf der Demonstration | |
| Abtreibungsgegner*innen, Christ*innen, Bischöfe, konservative | |
| Politiker*innen, aber auch Rechtsradikale. Was sie eint, sind ihre | |
| Positionen zu dem, was sie Lebensschutz nennen: für den unbedingten Schutz | |
| von Embryonen, gegen Schwangerschaftsabbruch, gegen Eizellspende und | |
| Leihmutterschaft, gegen [1][Beihilfe zum Suizid und aktive Sterbehilfe]. | |
| ## Sie wollen zu alter Stärke zurückfinden | |
| Das Jahr 2019 war bisheriger Höhepunkt der Mobilisierung, rund 8.000 | |
| Menschen demonstrierten bei dem „Marsch für das Leben“ in Berlin. Dann kam | |
| Corona, [2][die Märsche fanden statt], aber mit weit weniger | |
| Teilnehmer*innen. [3][2022 liefen dann rund 3.000 Menschen mit]. In diesem | |
| Jahr findet der Marsch zum ersten Mal gleichzeitig in zwei Städten statt. | |
| Die Organisator*innen wollen so zurück zu alter Stärke finden. Sie | |
| wollen mehr Teilnehmer*innen anlocken, aber auch ein Zeichen setzen | |
| gegen die Bundesregierung. | |
| Für Alexandra Linder ist die Politik der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und | |
| FDP eine Katastrophe. Linder ist Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht | |
| (BvL), der den Marsch organisiert. „Aus bioethischer Sicht ist die aktuelle | |
| Regierung die schlimmste seit Bestehen der Bundesrepublik“, sagt Linder der | |
| taz. Linder, verheiratet, drei Kinder, engagiert sich seit 30 Jahren gegen | |
| Schwangerschaftsabbrüche. | |
| Die Bundesregierung bringt derzeit vieles voran, was das Gegenteil von dem | |
| ist, was Linder und ihre Mitstreiter*innen wollen: Den Paragrafen 219 | |
| a, der es Ärzt*innen verboten hatte, über Schwangerschaftsabbruch zu | |
| informieren, hat die Ampel abgeschafft. Eine Expertenkommission sucht | |
| gerade nach Wegen, Abtreibung auch außerhalb des Strafrechts zu regeln. | |
| Zudem prüft sie die Legalisierung von Eizellspende und Leihmutterschaft. | |
| Der Bundestag debattierte jüngst eine Reform der Suizidhilfe. | |
| ## Das positive Framing in der Öffentlichkeit | |
| Was für viele Menschen eine Liberalisierung und mehr Selbstbestimmung | |
| bedeutet, sieht die Szene der Lebensrechtler*innen als | |
| unverantwortlich an. Wenn Alexandra Linder über aktive Sterbehilfe spricht, | |
| verwendet sie schon mal den Begriff „Euthanasie“. Die Legalisierung von | |
| Leihmutterschaft macht aus ihrer Sicht Frauen zu „Gebärmaschinen“. | |
| Abtreibung sind für sie die „massenweise Tötung ungeborener Kinder“. | |
| In der Öffentlichkeit bemühen sich die Abtreibungsgegner*innen meist | |
| um ein positives Framing. Sie sprechen von einer „Kultur des Lebens“, | |
| davon, „Babys“ zu retten, und inszenieren sich als Fürsprecher*innen | |
| etwa von Menschen mit Trisomie 21. Allerdings: Wenn der Bundesverband | |
| Lebensrecht ein „Europa ohne Abtreibung“ fordert, bedeutet das de facto ein | |
| umfassendes Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. | |
| Und auch, wenn es beim Marsch primär um ein Nein zu Schwangerschaftsabbruch | |
| und Sterbehilfe geht – die organisierte „Lebensschutz“-Bewegung betreibt | |
| einen umfassenden Kulturkampf: für die klassische, heterosexuelle | |
| Kleinfamilie, für traditionelle Rollenbilder und gegen körperliche, | |
| sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung. | |
| ## AfD versucht sich über den Marsch zu profilieren | |
| Der Bundesverband Lebensrecht organisiert „unter einem bürgerlichen | |
| Deckmantel nach rechts weit offene Veranstaltungen“, kritisiert Ella Nowak | |
| vom queerfeministischen Berliner Bündnis What the Fuck, das seit Jahren | |
| Gegenprotest organisiert. | |
| Traditionell sind CDU und CSU eng mit dem „Marsch für das Leben“ verbunden. | |
| Die den Unionsparteien nahestehenden „Christdemokraten für das Leben“ | |
| organisieren Busfahrten zur Demo, der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe | |
| stand schon am Rednerpult, die Kölner CDU bewirbt den diesjährigen Marsch | |
| online. | |
| Auch die AfD versucht immer wieder, sich über den Marsch zu profilieren. Im | |
| vergangenen Jahr twitterte Beatrix von Storch Fotos von sich und | |
| Parteifreunden auf dem Marsch und schrieb: „AfD wieder am besten | |
| vertreten“. Von Storch war nicht zum ersten Mal bei dem Marsch dabei und | |
| lief auch schon in der ersten Reihe mit. Dieses Jahr wird sie nicht dabei | |
| sein, sagt sie der taz. | |
| ## Das Treffen von Rechten und Christen | |
| Doch die Untergruppe „Christen in der AfD“ mobilisiert für den 16. | |
| September. Deren Vorsitzender ist Joachim Kuhs, AfD-Abgeordneter im | |
| EU-Parlament, 10 Kinder, 19 Enkelkinder. Kuhs trägt über seine Netzwerke | |
| AfD-Positionen in die Kirche. In Baden-Baden leitet er nach eigenen Angaben | |
| eine anglikanisch geprägte freikirchliche Hausgemeinde. Der taz sagt Kuhs, | |
| dass es der „Marsch für das Leben“ war, der ihn zur AfD gebracht hat. Vor | |
| elf Jahren habe er zum ersten Mal an der Demo teilgenommen. „Das hat mich | |
| elektrisiert“, sagt Kuhs. Wenig später sei er in die AfD eingetreten. | |
| Joachim Kuhs ist gut vernetzt mit zentralen Figuren der sogenannten | |
| Lebensschutzbewegung. In Brüssel hat er nach eigenen Angaben bereits auf | |
| einem „Marsch für das Leben“ gesprochen. Er ist stolz darauf, das Thema | |
| auch in die Wahlprogramme der AfD gehievt zu haben. In ihrem Programm zur | |
| Europawahl fordert die AfD unter anderem die weitgehende Einschränkung des | |
| Zugangs zu Abtreibungen – eine Passage, sagt Kuhs, die maßgeblich die | |
| Christen in der AfD erarbeitet hätten. | |
| Es ist kein Zufall, dass sich Rechte und Christen gerade beim Thema | |
| Abtreibung treffen. Für die einen geht es dabei um die Bewahrung des | |
| Völkischen, für die anderen um die Bewahrung der Schöpfung. Sowohl die | |
| Veranstalter*innen des „Marschs für das Leben“ als auch die AfD | |
| fordern nahezu wortgleich eine „Willkommenskultur für ungeborene Kinder“. | |
| ## AfD-Politiker*innen dürfen nicht sprechen | |
| Alexandra Linder vom Bundesverband Lebensrecht will für diese Nähe jedoch | |
| nicht verantwortlich gemacht werden: „Wir sind eine demokratische | |
| Veranstaltung und offen für alle. Es kommt vor, dass sich unter Tausenden | |
| Menschen auch ein paar AfD-Politiker anschließen.“ Auf der Bühne sprechen | |
| dürften AfD-Politiker*innen weder in Köln noch in Berlin. | |
| Aber die Verbindungen zwischen dem Bundesverband Lebensrecht und der Neuen | |
| Rechten gehen darüber hinaus. Linders Vorgänger im BvL-Vorstand, Martin | |
| Lohmann, ist regelmäßiger Autor der rechtskonservativen Zeitung Junge | |
| Freiheit. Linder selbst sprach 2015 in der Berliner Bibliothek des | |
| Konservatismus, einem Treffpunkt der Neuen Rechten aus dem Umfeld der | |
| Jungen Freiheit. Darauf angesprochen sagt sie, als Verbandsvorsitzende sei | |
| es ihre Aufgabe, überall da für ihr Thema zu sprechen, wo sie eingeladen | |
| werde. | |
| Der Marsch beschreibt sich selbst als „überkonfessionell“. Tatsächlich ab… | |
| gehören die Kirchen zu den wichtigen Unterstützer*innen, besonders die | |
| katholische Kirche. Die Deutsche Bischofskonferenz ruft regelmäßig zur | |
| Teilnahme auf. Ihr Vorsitzender Georg Bätzing schickte auch in diesem Jahr | |
| wieder ein Grußwort. | |
| ## Kirche demonstriert Schulter an Schulter mit Nazis | |
| Innerhalb der katholischen Kirche jedoch sorgt die Nähe der | |
| Lebensschützer*innen und der Neuen Rechten inzwischen verstärkt für | |
| Diskussionen. Der Essener [4][Bischof Franz-Josef Overbeck] warnte kürzlich | |
| öffentlich vor einem Rechtsruck in der katholischen Kirche. Rechte Kräfte | |
| würden die Themen „Lebensschutz, Familie, Geschlechtergerechtigkeit, | |
| sexuelle Vielfalt und Umgang mit dem Islam“ für intensive Anfeindungen | |
| nutzen, sagte er der Zeitung Die Welt. | |
| [5][Deutlicher wurde] der Sprecher des Bunds der Deutschen Katholischen | |
| Jugend, Gregor Podschun. Nach dem „Marsch für das Leben“ im vergangenen | |
| Jahre twitterte er, es sei „wirklich armselig, dass die Kirche Schulter an | |
| Schulter mit Nazis demonstriert (‚marschiert‘)“. Das Bistum Regensburg | |
| distanzierte sich daraufhin [6][auf Twitter] „in aller Entschiedenheit von | |
| AfD-Positionen“. | |
| Alexandra Linder vom Bundesverband sagt, sie müsse sich von der AfD nicht | |
| distanzieren, weder personell noch organisatorisch sei sie mit der Partei | |
| verbunden. Sie distanziere sich auch nicht von anderen Parteien, die auf | |
| dem Marsch präsent seien. | |
| Dennoch hält ein Teil der Bischöfe weiter zu der Demo und läuft jährlich | |
| mit. Kirchliche Organisationen und Würdenträger schicken jedes Jahr | |
| Grußworte. | |
| ## In Köln gibt es Rückenwind durch das Bistum | |
| Ungestört sollen die Abtreibungsgegner*innen jedoch auch in diesem | |
| Jahr nicht bleiben. Sowohl in Berlin als auch in Köln planen | |
| Feminist*innen Gegenproteste. Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung | |
| kündigt an, den „christlich-fundamentalistischen und rechtsnationalen | |
| Gegner*innen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung“ am 16. September | |
| nicht die Straße zu überlassen. | |
| Auch das queerfeministische Bündnis What the Fuck mobilisiert zu Protesten | |
| in Berlin. Das Bündnis Pro Choice Köln ruft seinerseits auf: „Marsch für | |
| das Leben nerven, stören, verhindern! Für ein selbstbestimmtes Leben!“Die | |
| feministischen Aktivist*innen zweifeln an der Ankündigung des | |
| Bundesverband Lebensrecht, dass sich der „Marsch für das Leben“ in diesem | |
| Jahr durch die zwei Standorte „verdoppeln“ werde. | |
| [7][Ella Nowak vom Bündnis What the Fuck] glaubt eher, dass die | |
| Gegenproteste der vergangenen Jahre die Demo nach Köln treiben: „2019 haben | |
| Aktivist*innen den Marsch sehr lange und sehr erfolgreich blockiert“, | |
| sagt sie. „Berlin ist für sie kein einfaches Pflaster mehr.“ In Köln | |
| hingegen bekäme der Marsch Rückenwind durch das erzkonservative Bistum. | |
| Kardinal Rainer Maria Woelki schickt seit Jahren Grußworte, in denen er den | |
| Teilnehmenden des Marschs dankt. | |
| In diesem Jahr jedenfalls wollen die Abtreibungsgegner*innen zum | |
| ersten Mal nicht mit großen weißen Holzkreuzen marschieren, die sie bisher | |
| als „Symbol der europäischen Trauerkultur“ mitgetragen hatten, wie | |
| Alexandra Linder sagt. Denn: „Wir sind eine Demonstration und keine | |
| Prozession.“ Die Leute hätten das zunehmend falsch verstanden. | |
| Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung hatten wir geschrieben, | |
| Alexandra Linder bezeichne Suizidhilfe als Euthanasie. Das stimmt nicht, | |
| sie bezeichnet aktive Sterbehilfe als Euthanasie. Wir haben die Passage | |
| korrigiert. | |
| 14 Sep 2023 | |
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| [3] /Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5632756 | |
| [4] /Studie-zu-Missbrauch-im-Bistum-Essen/!5915325 | |
| [5] https://twitter.com/GregorBDKJ/status/1581735355199655936 | |
| [6] https://twitter.com/BistumReg/status/1581940107078426625 | |
| [7] /Aktivistinnen-ueber-Marsch-fuer-das-Leben/!5797531 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Fromm | |
| Gareth Joswig | |
| Dinah Riese | |
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