# taz.de -- Europäischer Gerichtshof zu Bosnien: Braucht es eine neue Verfassu… | |
> Die Verfassung in Bosnien und Herzegowina verstößt gegen europäisches | |
> Recht. 28 Jahre nach dem Frieden von Dayton nimmt der Nationalismus im | |
> Land zu. | |
Bild: Eine Frau beteiligte sich im Juli an Verkehrsblockaden vor dem Büro des … | |
1. Anfang dieser Woche hat sich der Europäische Gerichtshof für | |
Menschenrechte (EGMR) zu [1][Bosnien und Herzegowina] geäußert. Beobachter | |
sprechen von einem historischen, bahnbrechenden Urteil. Was ist der Kern? | |
Das Urteil sieht in der bisherigen Verfassung des Landes eklatante Verstöße | |
gegen das europäische Recht. Die 3,2 Millionen Bosnier müssen sich bisher | |
der Verfassung nach als Kroaten, Bosniaken oder Serben deklarieren und | |
wählen jeweils ihre eigenen Vertreter. In Bosnien leben etwa 30 Prozent | |
Serben (Orthodoxe), 14 Prozent Kroaten (Katholiken) und fast 48 Prozent | |
Bosniaken (Muslime). Der Rest sind ostali, andere, nicht deklarierte | |
Personen, oder sie sind Mitglieder von Minderheiten wie der der Juden und | |
Roma. Ganz genaue Zahlen gibt es nicht, viele Leute leben anderswo, sind | |
aber noch in Bosnien gemeldet. | |
2. Wogegen hat der Kläger Slaven Kovačević geklagt? | |
Kovačević hat sich geweigert, sich national zu definieren, er sei ein | |
„Bosanac“, ein Bosnier. Das ist ein Oberbegriff, der von vielen Linken und | |
Nichtnationalisten genutzt wird. Kovačević ist also weder Kroate noch | |
Bošniak, noch Serbe. Er ist Bürger des Landes, er lehnt die Aufteilung der | |
Bevölkerung in sogenannte Ethnien oder sogenannte konstitutive Nationen ab, | |
die zudem meistens der Religionszugehörigkeit entsprechen. Er sieht in der | |
Verfassung Bosnien und Herzegowinas und im ethnischen Prinzip ein Korsett, | |
das die Gesellschaft hindert, normal zu leben und zukunftsfähig zu werden. | |
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in seinem Urteil darauf | |
ein. Für eine politische Repräsentation sei diese Zuordnung nach | |
Volksgruppen zweitrangig, heißt es im Urteil. Eine umfassende Reform des | |
Wahlrechts müsse gewährleisten, dass alle BürgerInnen in Bosnien und | |
Herzegowina wählen oder gewählt werden können – unabhängig von ihrem | |
Wohnort oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Damit fordert das Gericht auch | |
die Umsetzung bisheriger Urteile mit ähnlichem Inhalt ein. | |
3. Gab es bereits politische Reaktionen, die darauf hindeuten, dass etwas | |
passiert? Ist denn realistisch, dass etwas umgesetzt wird, oder wird das | |
Urteil einfach ignoriert? | |
Ob dieses Urteil umgesetzt wird, hängt nun wiederum von den herrschenden | |
Parteien ab. Die serbische Seite hat wie die kroatische schon abgewinkt. | |
Sie können damit die nichtnationalistisch-bosniakische Mehrheit blockieren, | |
die unbedingt in die EU will. Wie soll also die Integration umgesetzt | |
werden, wenn man die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs ignoriert? | |
4. Die Verfassung geht auf das Jahr 1995 zurück und beruht auf dem | |
Friedensabkommen von Dayton. Wie ist dieses Staatswesen in seinen | |
Grundzügen gestaltet? | |
Die Vergangenheit ist mit dieser Verfassung keineswegs überwunden. [2][Im | |
Krieg 1992 bis 1995] wurde das ethnische Prinzip mit Gewalt durchgesetzt. | |
Zuerst serbische Truppen, dann ab 1993 auch kroatische Truppen versuchten | |
Teile des Landes zu erobern und unter ethnischen Vorzeichen für sich zu | |
beanspruchen. Die nichtserbische Bevölkerung wurde aus den serbischen | |
Gebieten, die nichtkroatische aus den kroatischen Gebieten vertrieben, es | |
kam zu ethnischen Säuberungen, Massenmord und Vergewaltigungen. Fast die | |
Hälfte der Einwohner verlor ihre Heimat. Nur die vor allem von der | |
bosniakisch-muslimischen Bevölkerung gestützte Regierung und die bosnische | |
Armee in Sarajevo, Tuzla und mehrheitlich muslimischen Gebieten hielten an | |
der bosnischen Tradition des Zusammenlebens fest. | |
5. Was wurde in Dayton festgelegt? | |
Nach der Entwaffnung der drei Armeen schloss man in [3][Dayton Frieden], | |
das Land wurde unter nationalistischen Vorzeichen territorial in zwei | |
„Entitäten“ aufgeteilt, die sogenannte Republika Srpska (RS) und die | |
bosniakisch-kroatischen Föderation. Jede Entität verfügt über ein Parlament | |
und eine Regierung. Auch der Gesamtstaat hat ein Parlament und eine | |
Regierung, allerdings hat die Regierung des Gesamtstaats nur wenige | |
Befugnisse. | |
Die serbische Teilrepublik mit über 80 Prozent Serben umfasst fast die | |
Hälfte des Gesamtterritoriums, die Föderation ist in Kantone gegliedert, | |
sodass Kroaten und Bosniaken ebenfalls vielerorts gemeinsam, aber auch | |
getrennt leben, die Kroaten vor allem in der Westherzegowina. Im bisherigen | |
Wahlsystem war es beispielsweise für Nichtserben unmöglich, für die | |
Präsidentschaft der Republika Srpska zu kandidieren. | |
Mit der jetzigen Entscheidung versucht das Gericht klarzustellen, dass alle | |
Bürger auf dem Gesamtterritorium des Staats Bosnien und Herzegowina das | |
Recht haben, zu wählen und gewählt zu werden, unabhängig von ihrer Religion | |
oder ethnisch-nationalen Zuschreibung. Damit hat der | |
Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Klarheit für die nächsten Wahlen | |
geschaffen. Die Wahlgesetze müssten jetzt angeglichen werden. | |
[4][Am 2. Oktober 2022 wurde in Bosnien und Herzegowina gewählt]. Die | |
Wahlen fanden vor dem Hintergrund wachsender politischer Spannungen im Land | |
statt und endeten mit Verlusten für die Nationalisten bei der Wahl zum | |
Staatspräsidium. | |
6. Welche Rolle spielt die internationale Gemeinschaft in Bosnien und | |
Herzegowina? Und was war noch mal der Hohe Repräsentant? | |
Leider hat es die internationale Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina | |
versäumt, dem Nationalismus entscheidend entgegenzutreten. Seit dem | |
Abkommen von Dayton wird die internationale Gemeinschaft vertreten vom | |
Hohen Repräsentanten. Aktuell ist das der ehemalige deutsche Bundesminister | |
Christian Schmidt. Der Hohe Repräsentant wird vom | |
Friedensimplementierungsrat gewählt, der aus mehr als 50 Staaten und | |
internationalen Organisationen wie UN und OSZE besteht. | |
Der Hohe Repräsentant soll die Lage in Bosnien überwachen und Verstöße | |
gegen das Dayton-Abkommen ahnden. Dazu besitzt er die sogenannten | |
Bonn-Powers: Er kann extremistische Politiker absetzen. | |
Das hat er jedoch nur selten getan. Beispielsweise wurde nach 2007 die | |
Macht den jeweiligen Nationalisten überlassen, die ihre korrupte und | |
kriminelle Macht in Bosnien und Herzegowina daraufhin ausgebaut haben. | |
Diese Nationalisten in Bosnien und Herzegowina werden von den Autokraten | |
aus ihren jeweiligen Heimatländern, also aus Kroatien und Serbien, | |
unterstützt und angeleitet. Und so regieren sie in das Land hinein. | |
7. Wie positionieren sich die USA und die EU zum erstarkenden Nationalismus | |
auf dem Balkan? | |
Die USA und die EU haben bis zum großflächigen russischen Überfall auf die | |
Ukraine am 24. Februar 2022 den Balkan – und damit auch Bosnien und | |
Herzegowina – vernachlässigt. Es gab ja keine offensichtlichen Konflikte, | |
auch wenn Russland sich schon seit Jahren bemüht, in Serbien und anderen | |
Staaten des Balkans Alliierte zu finden. Serbien rüstet mit der | |
Unterstützung Russlands und Chinas auf – etwas, das in Deutschland wenig | |
wahrgenommen wird. Erst jetzt, angesichts des Ukrainekriegs, will der | |
Westen reagieren und Serbien für sich gewinnen, was bisher nicht gelungen | |
ist. So wird der autoritäre [5][Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, | |
sowohl von der EU als auch von den USA hofiert]. | |
8. Ist das eine gute Idee? | |
In der bosnischen Zivilgesellschaft wird diese „Appeasement-Politik“ des | |
Westens gegenüber den Nationalisten kritisiert: Diese Politik leugne die | |
eigenen demokratischen Werte. Westlich orientierte Demokraten wie der | |
Kosovo-Präsident Albin Kurti werden zur Seite gedrängt – sogar mit | |
Sanktionen bestraft. In Bosnien und Herzegowina wird trotz der ständigen | |
Drohungen, die serbische Teilrepublik abzuspalten, nichts Weitreichendes | |
gegen den serbischen Nationalisten und Autokraten Milorad Dodik, Präsident | |
der Republika Srpska, unternommen. Wegen seiner prokroatischen Haltung | |
geriet der jetzige Hohe Repräsentant, der deutsche Politiker Christian | |
Schmidt, in die Kritik. Er hat das Wahlgesetz am Tag der Wahl im Oktober | |
vergangenen Jahres zugunsten der kroatischen Extremisten verändert. | |
2 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-dem-Femizid-in-Bosnien-Herzegowina/!5950515 | |
[2] /Bosnienkrieg/!t5767120 | |
[3] /25-Jahre-Abkommen-von-Dayton/!5725704 | |
[4] /Wahlen-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5885134 | |
[5] /Bekenntnisse-zur-EU-auf-dem-Balkangipfel/!5896730 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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