# taz.de -- 25 Jahre Abkommen von Dayton: Ein bisschen Tradition | |
> Das Abkommen von Dayton beendete zwar den Krieg. Gute Bedingungen für | |
> eine Zukunft Bosniens und Herzegowinas schuf es aber nicht. | |
Bild: Unter Applaus der vermittelnden Mächte: Milošević (v. l. n. r. sitzend… | |
Wenn ein Vulkanausbruch ein Land zerstört, ist erst einmal alles Leben | |
ausgelöscht. Doch nach einiger Zeit nutzen Pflanzen die Ritzen im Gestein, | |
brechen durch die Asche. Neues Leben entsteht. Vielleicht befinden wir uns | |
nach all dem Feuer, das Nationalisten aus Serbien und später auch Kroatien | |
über Bosnien und Herzegowina gebracht haben, jetzt nach 25 Jahren an einer | |
Zeitenwende. Bei den Wahlen am vergangenen Wochenende haben sich immerhin | |
einige kräftige neue Pflanzen gezeigt. | |
Das alte Leben vor dem Krieg, die gewachsene Tradition des Miteinanders von | |
Menschen aller Volksgruppen, wird zwar nicht so schnell zurückkehren | |
können. In jeder Großfamilie feierten früher Muslime, Katholiken, Orthodoxe | |
und Juden die jeweiligen Feste gemeinsam. Wer diese Gesellschaft vor dem | |
Krieg erleben durfte, war berührt. Das war nicht Multikulti, das war eine | |
historisch gewachsene tolerante Gesellschaft. | |
Die Gesellschaft Bosniens war die Antithese zum serbischen und kroatischen | |
Nationalismus und musste deshalb zerstört werden. Darin waren sich die | |
beiden Präsidenten Serbiens und Kroatiens schon vor dem Krieg einig. Bei | |
einem Treffen in Karadjordjevo vereinbarten Tudjman und Milošević im März | |
1991 die territoriale Aufteilung Bosnien und Herzegowinas. | |
Die [1][ethnischen Säuberungen] im Krieg 1992–95 waren nicht die Folge des | |
Krieges, sondern deren Ziel. Für die muslimische Bevölkerungsgruppe und | |
alle Opponenten, vor allem Antifaschisten, Sozialdemokraten, alle, die | |
weiterhin für Toleranz und Menschenrechte eintraten, war da kein Platz. | |
[2][Ein Genozid war die Folge]. Wenn Zehntausende systematisch ermordet, | |
geschändet und weitere Zehntausende durch Bomben, Scharfschützen und | |
Granaten getötet, wenn 2 von 4,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat | |
vertrieben werden, dann bleibt keine Gesellschaft unbeschädigt. Der | |
nationalistisch motivierte Wahnsinn mit dem Ziel, ethnisch reine | |
Gesellschaften zu schaffen, ist überall auf der Welt ein Verbrechen. Aber | |
in Bosnien war er „erfolgreich“. Die Bevölkerungen wurden in den Krieg | |
gerissen, Überlebensangst, leidvolle Erfahrungen auf allen Seiten führten | |
zum Bruch. Die alte Gesellschaft lag 1995 in Trümmern. | |
Nur wenige Politiker in Europa, den USA und dem Rest der Welt haben das | |
verstanden. Der Angriffskrieg Serbiens und später auch Kroatiens auf | |
Bosnien und Herzegowina wurde international schon 1993 als „Bürgerkrieg“ | |
definiert und damit die Drahtzieher vor allem in Belgrad entlastet. Statt | |
klar Stellung gegen den Extremismus zu beziehen, hoffte man auf ein Ende | |
des Krieges, nachdem das Land „ausgeblutet“ sei – so der britische | |
Außenminister Douglas Hurd 1993. Dieser Zynismus ist bis heute nicht | |
vergessen. Die Internationalen verhandelten nur mit den Nationalisten. Das | |
Ergebnis ist das Abkommen von Dayton, das am 21. November 1995 immerhin den | |
Krieg beendet hat. | |
Ja, es beendete den Krieg, schuf auch eine formal demokratische Struktur | |
mit Parlamenten auf allen staatlichen Ebenen, in der die drei | |
„Konstituierenden Nationen“ einen Kompromiss für den Gesamtstaat finden | |
sollten. Aber es rüttelte nicht am Grundsätzlichen. Mit der Militärpräsenz | |
im Rücken konnte man zwar die Kriegsparteien entwaffnen, die | |
kriegsführenden nationalistischen Eliten durften jedoch an der Macht | |
bleiben. Die viel zu früh angesetzten Wahlen legitimierten sie sogar. Die | |
Frage der Kriegsverbrechen und deren Sühne wurde nicht einmal erwähnt. | |
Durch das Raster fielen auch die Rechte der Minderheiten wie die der Roma | |
und Juden oder aller, die sich nicht national definieren wollten. Die | |
vielfältigen Vetorechte der Parteien aus den „Konstitutiven Nationen“ | |
schufen viele Blockademöglichkeiten. Die nationalistischen Parteien | |
profitieren vom Status quo. | |
Sie beherrschen in ihren Herrschaftsgebieten den Arbeitsmarkt. Sie setzten | |
in den noch gemischten Gebieten bis ins Kleinste das ethno-nationale | |
Prinzip durch. Die Schulen mit zwei Ausgängen sind nur ein Beispiel. Es | |
gibt jetzt, befeuert durch die jeweiligen Religionen, drei Ideologien, drei | |
Erinnerungskulturen, drei Medienwelten. Wer nicht spurt, fliegt. Wer sich | |
ihnen nicht anschließt, bekommt keinen Job. Wer da nicht mitmacht, wird als | |
Volksverräter verfolgt. | |
Im Rahmen dieser Verfassung ist es deshalb nicht möglich, den | |
wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen für die Integration des | |
Landes in die EU nachzukommen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im | |
Fall Sejdić/Finci 2009, das volle Bürgerrechte für die Minderheiten | |
verlangt, wird nicht umgesetzt. So kann die Integration in die EU nicht | |
gelingen. Brüssel begnügt sich mit dem Lippenbekenntnis der führenden | |
Politiker des Landes, den europäischen Weg einzuschlagen, die aber in | |
Wirklichkeit das Gegenteil tun. | |
Doch am letzten Sonntag haben bei den Kommunalwahlen die Wähler in Sarajevo | |
und den anderen großen Städten Zeichen gesetzt. Viele wollen die ethnischen | |
Spaltungen nicht mehr, sie wollen einen normalen Staat. Sie wählten in den | |
großen Städten die korrupten Führungen ab oder bestätigten die Reformer. | |
Im Wahlkreis Sarajevo- Zentrum entschieden sich muslimische Wähler für | |
einen Serben, der die Stadt während des Krieges gegen die serbischen | |
Angreifer verteidigt hat. Sarajevos Bürgermeister soll ein Serbe werden. | |
Das wird auch Eindruck bei den anderen Volksgruppen machen. In Banja Luka, | |
der Hauptstadt des serbischen Teilstaates, hat sich ein Oppositioneller | |
gegen die Partei des Trump- und Putin-Anhängers Milorad Dodik durchgesetzt. | |
Ein bisschen Tradition ist zurück. Von Europa können die Menschen in | |
Sarajevo allerdings wenig Unterstützung erwarten, aber sie hoffen auf den | |
Balkan-Kenner Joe Biden. Sie haben nicht vergessen, dass der 1993 für eine | |
militärische Aktion der Nato gegen die Belagerer Sarajevos eingetreten ist. | |
21 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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