# taz.de -- Bürgergeld und Kindergrundsicherung: Vorsicht, vergiftete Erzählu… | |
> Nur sehr wenige richten sich mit einer Kombi aus Schwarzarbeit und | |
> staatlichen Hilfen ein. Die Hunderttausenden Bedürftigen sollten dafür | |
> nicht in Geiselhaft genommen werden. | |
Bild: Niemand ist davor gefeit, in die vulnerable Gruppe der Hilfeempfänger:in… | |
Man brauchte Geduld, um das Auf und Ab beim Thema Bürgergeld und | |
Kindergrundsicherung in der vergangenen Woche zu verfolgen, doch es lohnte | |
sich. Denn Politiker:innen rechtfertigten ihr Vorgehen, ihre Haltung | |
durch altbekannte vergiftete Erzählungen über Minderheiten, und wer diese | |
genauer anschaut, lernt jetzt dazu. | |
Die Achterbahnfahrt begann am Montag, als Ministerin Lisa Paus (Grüne) | |
gemeinsam mit Christian Lindner (FDP) und Hubertus Heil (SPD) [1][die | |
Kindergrundsicherung vorstellte]. 2,4 Milliarden Euro mehr soll es im Jahr | |
2025 für bedürftige Familien geben. Das ist wenig angesichts der über 40 | |
Milliarden Euro, die die Grundsicherung für Arbeitssuchende insgesamt | |
kostet. Lindner erklärte zur Rechtfertigung, es gebe keine „generellen | |
Leistungsverbesserungen“, denn man wolle „Erwerbsanreize“ erhalten. | |
Zum Beispiel wolle man „kein Signal“ setzen, dass sich die | |
[2][zurückgehende Erwerbsbeteiligung von Alleinerziehenden] „verfestige“. | |
Tatsächlich ist die Erwerbsbeteiligung Alleinerziehender im vergangenen | |
Jahrzehnt beständig gestiegen. Lediglich in den vergangenen zwei Jahren | |
ging die Erwerbstätigkeit geringfügig zurück, auch weil die | |
Pandemiemaßnahmen die Kinderbetreuung einschränkten und Jobs verschwanden. | |
Lindner sagte auch, man wolle „keine Anreize“ für | |
Sozialleistungsempfänger:innen setzen, die sich „nicht um | |
Integration und bessere Sprachkenntnisse“ bemühten. Damit suggerierte er, | |
Eltern mit Migrationshintergrund könnten sich wegen einer zu hohen | |
Kindergrundsicherung auf die faule Haut legen. | |
## Kinderreich mit schlecht bezahlten Jobs | |
Erkenntnisse aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) | |
zeigen aber, dass der Bezug von Bürgergeld, auch von aufstockendem | |
Bürgergeld, unter Migrantenfamilien auch deshalb öfter zu finden ist, weil | |
die Eltern schlecht bezahlte Jobs haben und mehrere Kinder im Haushalt | |
leben. Danach machen Eltern mit Migrationshintergrund die schlecht | |
bezahlten Jobs, die Deutsche nicht haben wollen. Und sie ziehen den | |
Nachwuchs groß, [3][der uns in Zukunft womöglich demografisch den Arsch | |
rettet]. | |
Am Dienstag verkündete Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine | |
überraschende Botschaft: [4][Der Regelsatz beim Bürgergeld], der ja auch | |
anteilig für die künftige Kindergrundsicherung gilt, steigt vom kommenden | |
Jahr an um 12 Prozent. Anfang 2023 war der Regelsatz schon mal um 12 | |
Prozent erhöht worden. Die Steigerungen sind Folgen von Gesetzesänderungen, | |
die Inflationsentwicklungen bei der Bemessung der Regelsätze stärker | |
berücksichtigen. | |
Auch die Union hatte diesen Gesetzesänderungen seinerzeit zugestimmt. | |
Unions-Fraktionschef Friedrich Merz erklärte dennoch, es gebe durch die | |
Erhöhung nun ein Problem mit dem „Lohnabstandsgebot“. Sein Vize Jens Spahn | |
bezeichnete die Steigerung als „falsches Signal“. Der gesetzliche | |
Mindestlohn ist prozentual nicht im gleichen Maße gestiegen, wie es nun mit | |
dem Bürgergeld geschieht. | |
Die Merz’sche Beschwörung des Lohnabstandsgebots ist nicht von vorneherein | |
abzutun, Medien rechneten auch gleich vor: Lohnt sich Arbeiten überhaupt | |
noch? Diese Frage liegt auf der Hand, aber auch sie bedient das Narrativ | |
vom faulen Stützeempfänger. Erstens haben Arbeitende aufgrund der | |
Anrechnungsmodalitäten in der Regel immer mehr Geld als | |
Stützebezieher:innen. Mit der Erhöhung des Bürgergelds steigt auch die | |
Zahl derer, die Anspruch auf eine staatliche Aufstockung haben. | |
## Schlacht um die Narrative | |
Vor allem aber kann man die Höhe einer Grundsicherung, die | |
Existenzgrundlage ist auch für gesundheitlich Angeschlagene, Alte, | |
pflegende Angehörige, Einelternfamilien, nicht davon abhängig machen, wie | |
die Entwicklung auf dem Lohnsektor ist. Es gibt voll Leistungsfähige, die | |
sich mit einer Kombi aus Schwarzarbeit und Stütze dauerhaft einzurichten | |
versuchen. Aber wegen dieser sehr kleinen Gruppe kann man nicht | |
Hunderttausende von Bedürftigen in Geiselhaft nehmen und deren | |
Existenzgrundlage beschneiden. | |
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger:innen | |
ging massiv zurück, als die Wirtschaft besser lief und | |
Kinderbetreuungsplätze entstanden. Wir wissen heute, dass die Rede vom | |
„faulen Arbeitslosen“ in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit um die nuller | |
Jahre herum eine toxische Erzählung war, um soziale Kürzungen zu | |
rechtfertigen. Die Schlacht der Narrative beginnt jetzt erneut, wo es enger | |
wird im Bundeshaushalt. | |
Wir müssen diese Erzählungen entgiften, um die Abgabenbereitschaft und | |
damit die kollektiven Sozialsysteme zu erhalten. Niemand ist davor gefeit, | |
in die vulnerable Gruppe der Hilfeempfänger:innen zu geraten. | |
2 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Prognose-fuer-Kindergrundsicherung/!5957344 | |
[2] /Christian-Lindner-ueber-Alleinerziehende/!5953342 | |
[3] /Zahl-der-Arbeitnehmer-in-Deutschland/!5954687 | |
[4] /Erhoehung-des-Buergergelds/!5957109 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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