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# taz.de -- Wirtschaftskrise in Deutschland: Raus aus der Energieschockstarre
> Besser sofort statt mit einem verfehlten „Sofortprogramm“: Mit
> zielgenauen Maßnahmen lässt sich Deutschlands Wachstumsschwäche angehen.
Bild: Ausgetrocknet statt Wirtschaftswachstum – Deutschland Lage in a nutshell
Wurde das Sommerloch in diesem Jahr zunächst von einem Löwen im Berliner
Umland gefüllt, der sich am Ende als Wildschwein entpuppte, hat sich die
öffentliche Debatte inzwischen einem ernsteren Thema zugewandt: der
deutschen Wachstumsschwäche.
Wie jüngst vom [1][Statistikamt Destatis] verkündet, ist die deutsche
Wirtschaft in der ersten Jahreshälfte nicht mehr gewachsen, mit den
Rückgängen über den vergangenen Winter dürfte sie im Gesamtjahr 2023 sogar
schrumpfen. Eine durchgreifende Besserung ist nicht in Sicht. Stattdessen
drohen immer mehr Unternehmen mehr oder weniger deutlich mit
Produktionsverlagerung.
Talkshows und [2][Meinungsspalten in den Zeitungen] sind derweil gefüllt
mit Reformideen, von denen viele nicht neu sind. Viele Expert:innen und
Politiker:innen holen genau jene Lieblingsvorschläge aus der
Schublade, die sie seit Jahren propagieren – sei es zur Entlastung bei
Erbschaftssteuer, zur Steuerreform, zur Einwanderung von Fachkräften oder
zum Abbau von Bürokratie.
Das ist schade. Denn Deutschland hat tatsächlich ein paar drängende
wirtschaftliche Schwierigkeiten. Und diese brauchen Lösungen, die auf die
aktuelle Problemlage zugeschnitten sind. Für eine gute Wirtschaftspolitik
ist es nämlich aktuell egal, woher die Wachstumsschwäche kommt.
## Natürlich gibt es Probleme mit unnötiger Bürokratie
Natürlich hat Deutschland Probleme mit unnötiger Bürokratie und langsamen
Verwaltungen. Die Integration von Migrant:innen in den Arbeitsmarkt
verläuft zu schleppend und wir bräuchten mehr qualifizierte Einwanderung.
Auch sind unsere Verkehrswege in traurig vernachlässigtem Zustand.
Nur: Das alles ist nicht das, was das Wirtschaftswachstum akut abwürgt oder
womit man schnell die Wachstumsschwäche überwinden könnte. Vielmehr gibt es
eine klare Ursache, die über drei Kanäle derzeit das Wachstum ausbremst:
Deutschland verarbeitet gerade einen Energiepreisschock in historisch
ungekanntem Ausmaß.
Die russische Invasion in die Ukraine hat die Energiepreise von
Erdölprodukten, von Gas und – über die Gasverstromung und das aktuelle
Strommarktdesign – auch von Elektrizität sowie die Nahrungsmittelpreise in
die Höhe schießen lassen. Dadurch hat sich die Inflation beschleunigt, die
Kaufkraft ist gefallen und die Europäische Zentralbank hat die Zinsen so
kräftig und schnell erhöht wie nie zuvor.
Gebeutelt von hohen Energiepreisen, haben die Privathaushalte in
Deutschland seit vergangenem Herbst ihren Konsum zurückgefahren, so stark
wie – außer in der Coronapandemie – noch nie, seit es Daten für
Gesamtdeutschland gibt. Zugleich haben die gestiegenen Zinsen dazu geführt,
dass viele Wohnungsbauprojekte auf Eis gelegt wurden. Ein regelrechter
Einbruch der Hypothekenkreditvergabe und der Baugenehmigungen deutet darauf
hin, dass das dicke Ende hier erst noch bevorsteht.
## 20 Prozent weniger
Doch die hohen Energiekosten treffen nicht nur die Nachfrageseite, sondern
auch das Angebot: Die energieintensive Industrie in Deutschland hat zuletzt
rund 20 Prozent weniger produziert als Ende 2021.
Und weil es derzeit überhaupt nicht absehbar ist, was Strom in einem, in
fünf oder in zehn Jahren in Deutschland kostet, nachdem der Strompreis im
Großhandel in den vergangenen zwölf Monaten zwischen negativen Preisen und
700 Euro pro Megawattstunde (MWh) geschwankt hat, halten sich viele
Unternehmen mit Investitionen zurück. (Zum Vergleich: Noch 2019 schwankte
der Strompreis meist in einem recht engen Korridor um 50 Euro pro MWh.)
Insbesondere in jenen Branchen, in denen Strom ein wichtiger
Produktionsfaktor ist, ist derzeit kaum abzusehen, ob eine neue Anlage
tatsächlich rentabel sein wird oder nicht.
Diese Unsicherheit dämpft aber nicht nur kurzfristig das
Wirtschaftswachstum. Sie droht auch gravierende Schäden an der deutschen
Wirtschaftsstruktur zu verursachen. Wenn etwa ein Stahlwerk geschlossen
wird, ohne dass eine Ersatzinvestition vor Ort stattfindet, orientieren
sich die Kunden um. Sie kaufen den Stahl woanders. Zugleich gehen
hierzulande Fähigkeiten verloren, weil sich die Beschäftigten
umorientieren, die Branche wechseln oder in Rente gehen. Eine spätere
Stabilisierung der Stromkosten wird dann nicht die Produktionskapazitäten
zurückbringen, die einmal verloren sind.
Viele der nun ventilierten Vorschläge gehen an diesen Problemen vorbei:
[3][Pauschale Steuersenkungen] oder traditionelle Konjunkturprogramme sind
in dieser Situation keine sinnvollen Maßnahmen. Steuersenkungen beseitigen
die Unsicherheit nicht, traditionelle Konjunkturprogramme brauchen Zeit,
bis sie wirken, während vereinbarte Lohnerhöhungen absehbar die Kaufkraft
wieder stabilisieren. Wenn sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht noch
deutlich verschlechtert, dürfte der Tiefpunkt beim Konsum hinter uns
liegen. Es ist also sinnvoller, sich auf die Angebotsseite des Problems zu
konzentrieren.
Ein besonders gutes Beispiel für unfokussierte Maßnahmen, die mit den
Ursachen der Wachstumsschwäche nichts zu tun haben, ist das von der Union
vorgeschlagene „Sofortprogramm“. CDU und CSU wollen unter anderem die
Erbschaftssteuer auf das Elternhaus abschaffen. Abgesehen davon, dass
ohnehin keine Steuer für jene anfällt, die eine elterliche Immobilie
normaler Größe nutzen, bringt das Geschenk an reiche Erben überhaupt nichts
für das Wachstum. Die ebenfalls vorgeschlagene Steuerfreistellung von
Überstunden bearbeitet auch keine der Krisenursachen, sondern regt vor
allem dazu an, Abläufe so zu organisieren, dass Überstunden statt normale
Arbeit geleistet werden.
## Planungssicherheit muss geschaffen werden
Ein weiterer Vorschlag der Union, einbehaltene Gewinne geringer zu
besteuern, bringt keine Investitionen, sondern verleitet Unternehmen, Geld
in Finanzanlagen zu parken statt auszuschütten. Von den Unionsvorschlägen
macht nur einer kurzfristig Sinn: die verbesserten Abschreibungsbedingungen
für Investitionen.
Was wäre aber zu tun, wenn man die Problemanalyse teilt, dass Deutschland
unter den direkten und indirekten Folgen des Energiepreisschocks leidet?
Erstens muss – so weit wie möglich – Planungssicherheit bei den
Energiekosten geschaffen werden. Im Zentrum steht hier der Strompreis, der
für die Elektrifizierung der Industrie und damit für Investitionen in eine
CO2-freie Zukunft zentral ist. Dafür sollte über einen Brückenstrompreis
ein klarer Erwartungspfad für künftige Strompreise geschaffen werden. Ein
solcher Brückenstrompreis würde die Stromkosten so weit deckeln, dass ein
massives Überschießen über langfristig realistische Preise verhindert wird.
Alles deutet darauf hin, dass Strom in der Zukunft, wenn die
Dekarbonisierung des Stromsystems abgeschlossen ist, hierzulande wieder
deutlich günstiger sein wird als in den vergangenen zwölf Monaten.
Deutschland hat zwar nicht die Bedingungen für Solarenergie wie Südspanien
oder die Sahara, aber dafür hervorragende [4][Bedingungen für
Offshore-Windenergie] in der Nordsee und zum Speichern von Wasserstoff in
Gaskavernen.
Wenn aber die jetzt beobachteten Preisspitzen nur vorübergehend sind, so
ist es irrsinnig, aufgrund solcher Marktkapriolen den Verlust von
Industriestandorten hinzunehmen, die nach einer Übergangszeit wieder
wettbewerbsfähig in Deutschland betrieben werden könnten und im globalen
Vergleich hohe Klima- und Umweltstandards haben.
Um die Potenziale für erneuerbare Energien in verlässlich wettbewerbsfähige
Strompreise zu übersetzen, müsste ein klares Konzept aufgestellt und
kommuniziert werden, wie der Ausbau der nichtfossilen Stromerzeugung genau
aussehen soll und wo der Strompreis damit erwartbar Ende des Jahrzehnts und
Mitte der 2030er Jahre liegen wird.
## Bundesregierung soll Austeritätsmoratorium ausrufen
Finanzierungskosten machen dabei einen wichtigen Kostenfaktor für den Preis
der erneuerbaren Energien aus. Für die notwendigen Investitionen sollte
deshalb verbindlich öffentliches Kapital zugesagt werden. Auch über eine
Reform des Strommarktdesigns muss man reden, um die bisher im Strommarkt
oft beobachteten Übergewinne bei unerwarteten Preisanstiegen zu begrenzen
und damit die Preise niedrig zu halten.
Zweitens sollte die Bundesregierung ein Austeritätsmoratorium ausrufen: Die
Ausnahmeregel der Schuldenbremse sollte 2024 erneut genutzt werden und
Kürzungen im Bundeshaushalt ausgesetzt werden, weil diese – wie die
Kürzungen beim Elterngeld oder bei der Bafög-Erhöhung – zur Unzeit den
Privatkonsum erneut dämpfen.
Drittens sollte die SPD-geführte Bundesregierung den Unternehmen die
Möglichkeit geben, ihre Investitionen befristet schneller abzuschreiben als
bisher, so wie es schon vor der Union viele Wissenschaftler:innen und
Politiker:innen vorgeschlagen haben. In der Vergangenheit hat dieses
Instrument regelmäßig Investitionen angekurbelt.
## Öffentlichen Wohnungsbau nutzen
Viertens sollte der [5][öffentliche Wohnungsbau] genutzt werden, um die
Bauaktivität in dem Moment zu stabilisieren, in dem die private
Wohnungsbaunachfrage schwächelt. Deutschland befindet sich in der paradoxen
Situation, dass auf der einen Seite ein akuter Mangel an bezahlbarem
Wohnraum herrscht und dieser Mangel sich zunächst aufgrund von
Flüchtlingszuwanderung insbesondere aus der Ukraine noch einmal verschärft
hat, aber zugleich die Wohnungsbauaktivität einbricht. Es besteht sogar die
Gefahr, dass Bauunternehmen Beschäftigte entlassen und Kapazitäten abbauen.
Hier könnte eine kurzfristig verstärkte Förderung des kommunalen
Wohnungsbaus helfen, das Angebot an bezahlbaren Wohnungen zu erhöhen und
gleichzeitig den Verlust von Baukapazitäten zu verhindern.
Vertrödelt man jetzt die Zeit tatenlos oder mit der Diskussion von
Reformen, die nichts mit den aktuellen Problemen zu tun haben, so riskiert
man nicht nur eine längere konjunkturelle Schwächephase, sondern
tatsächlich den strukturellen Verlust von Produktionskapazitäten in
Deutschland. Es wäre schön, wenn sich die Politiker:innen in Regierung
und Opposition diese Verantwortung bewusst machen würden.
20 Aug 2023
## LINKS
[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/_…
[2] /Steuererleichterungen-fuer-Unternehmen/!5950230
[3] /Ueberblick-zu-Steuersenkungen/!5949277
[4] /Windkraft-wird-zum-lukrativen-Geschaeft/!5945033
[5] /Schumacher-Quartier-in-Tegel/!5949502
## AUTOREN
Sebastian Dullien
## TAGS
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