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# taz.de -- Demokratiebewegung in Israel: Durch die rechtsreligiöse Linse
> Die Rechte triumphiert. Israels Protestbewegung will weiter gegen die
> Justizreform demonstrieren. Kritiker*innen fehlt in beiden Lagern
> etwas.
Bild: Zu nationalistisch, zu militaristisch, finden einige: Auch Reservisten ge…
Berlin taz | Nach dem großen Knall der vergangenen Woche hat sich das
israelische Parlament in die Sommerpause verabschiedet. Während Israels
Rechte mit Triumphgefühlen in die Ferien geht, nachdem die Regierung den
[1][ersten Teil ihrer umstrittenen Justizreform in Gesetzesform gegossen
hat], will die israelische Protestbewegung den Druck aufrechterhalten. Auch
am Wochenende kam es erneut zu Massenprotesten gegen die rechtsreligiöse
Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Tausende Menschen gingen dazu am Samstagabend mit Nationalflaggen auf die
Straßen und verwandelten Tel Aviv erneut in ein blau-weißes Flaggenmeer.
Auf den Plakaten standen Sprüche wie „Wir weigern uns, einer Diktatur zu
dienen“ oder einfach nur das Wort „Demokratie“. Mehr als 170.000 Menschen
sollen allein in Tel Aviv demonstriert haben. Nachdem der erste Teil nun
beschlossen ist, wollen sie verhindern, dass die Regierung nach der
Sommerpause weitere Elemente der geplanten Reform vorantreibt – und die
Justiz weiter schwächt.
Während [2][die Protestbewegung] sich selbst als Hüterin von Demokratie und
Rechtsstaat versteht und von vielen internationalen Beobachter*innen
als solche gefeiert wird, blickt die israelische Linke bisweilen
zwiegespalten auf das heterogene Lager der Regierungskritiker*innen. Der
Aktivist und Journalist Haggai Matar, Geschäftsführer des Magazins +972,
spricht sogar lediglich von einer „sogenannten Demokratiebewegung“.
„Einerseits bin ich schwer beeindruckt, wie die Leute das verteidigen, was
ihre Erfahrung von Demokratie ist“, sagt er. „Andererseits ist vieles an
dieser Bewegung gewissermaßen reaktionär.“ Man wolle einfach zu dem
zurück, wie es vor einem Jahr noch war. Das einflussreiche Oberste Gericht
des Landes solle all seine Befugnisse behalten und die israelische Armee
weiter so arbeiten wie bisher.
## Die anhaltende Besatzung? Werde ausgeblendet
Was von großen Teilen der Protestbewegung ausgeblendet werde, seien die
anhaltende Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Folgen, die der
Konflikt mit den Palästinensern auch für Israel hätte. Die
Aufrechterhaltung der dauerhaften militärischen Kontrolle über das
Westjordanland und den Gazastreifen sowie die israelischen Siedlungen im
Westjordanland spielten für viele schlicht keine Rolle.
„Viele ignorieren die Rolle des Obersten Gerichts, das grünes Licht für
Kriegsverbrechen gegeben hat, und die Hauptfunktion der Armee als
Besatzungskraft“, kritisiert Journalist Matar. Sieben Monate nach Beginn
der Proteste bleibe Israels linkes Spektrum deshalb trotz grundsätzlicher
Unterstützung der Protestbewegung skeptisch hinsichtlich ihrer
reaktionären, nationalistischen und militaristischen Schlagseite.
Selbst die viel beachteten Proteste der Reservist*innen der
israelischen Armee, die aus Protest gegen die Justizreform drohen, ihren
Militärdienst zu verweigern, sieht Matar kritisch. „Sie organisieren sich
politisch auf Grundlage ihrer militärischen Identität“, sagt er. Dabei
würden sie Glaubwürdigkeit und Einfluss aus der Tatsache ziehen, Teil des
Sicherheitsapparats zu sein. „Das ist sehr wirksam im israelischen Kontext,
aber gleichzeitig hochgradig problematisch“, findet Matar.
Auch für den Politikwissenschaftler Yoav Peled ist die Protestbewegung
eingebettet in eine breite gesellschaftliche und politische Hegemonie der
Rechtsreligiösen. „Sogar die Protestbewegung versteht die Realität durch
die Linse des religiösen Zionismus“, meint Peled. Der religiöse Zionismus
ist eine Bewegung, die sich als Gegenentwurf zum sozialistischen Zionismus
der israelischen Arbeiterpartei versteht. Als gleichnamiges
Parteienbündnis ist die Bewegung auch in der aktuellen Koalitionsregierung
vertreten und stellt mit dem Finanzminister, Bezalel Smotrich, und dem
Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, zwei der extremsten
Kräfte der Regierung.
Für Peled sinnbildlich war ein Demonstrationsmarsch der Protestbewegung am
Montag vergangener Woche, dem Tag, als das israelische Parlament mit der
Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel ein erstes Element der
Justizreform verabschiedete. Tausende israelische Demonstrierende
marschierten von der Altstadt bis zum Knesset-Gebäude. Ausgangspunkt des
Marsches war ausgerechnet die Klagemauer in Jerusalems Altstadt – für Peled
ein klarer Hinweis, dass es selbst dem oppositionellen Lager nicht mehr
gelingt, sich aus der Hegemonie der Rechtsreligiösen zu lösen, dass es sich
im Religiösen verorten muss, um Gehör zu finden.
„Um es kurz zu machen: Der religiöse Zionismus – und das heißt die Siedler
– hat das Land übernommen“, sagt Peled. Seit Langem schon sei eine
kulturelle Hegemonie der Rechtsreligiösen zu beobachten gewesen. Mit der
aktuellen Regierungskoalition sei diese nun zu politischer Vorherrschaft
geworden. Das Sagen habe in Israel derzeit eine breite Koalition des
religiösen Zionismus, der ultraorthodoxen Juden und einer, wie Peled sagt,
Ethnoklasse, die sich aus der unteren Mittelschicht und Mittelschicht
zusammensetzt, unter denen viele Mizrachim seien, Juden also, die aus
Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas stammen.
Peled verweist auf den Philosophen Jeschajahu Leibowitz, der bereits kurz
nach dem Sechstagekrieg 1967, also dem Beginn der militärischen Besatzung
der palästinensischen Gebiete, vor der derzeit zutage tretenden Entwicklung
gewarnt habe. „Er sagte: Wenn man die Siedlungen weiter wachsen lässt,
werden sie das Land übernehmen. Er hat recht behalten.“ Der andauernde
Konflikt mit den Palästinensern, das ständige Gefühl von existenzieller
Unsicherheit und Schuldgefühle aufgrund der Militärbesatzung hätten die
Israelis immer weiter nach rechts getrieben, sagt Peled. Dass diese Kräfte
nun in der Regierung sitzen, überrascht ihn nicht.
## Der Rechtsruck trat bereits zwischen 2017 und 2021 zutage
Bereits in den Jahren 2017 bis 2021, als Donald Trump in den USA und
Netanjahu in Israel an der Macht waren, trat der Rechtsruck in Israel offen
zutage. Gleiches gilt für die dezidiert antipalästinensische, gegen die
Rechte von Palästinenser*innen gerichtete Stoßrichtung. In enger
Absprache mit Netanjahu verlegte Trump nicht nur die US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem und anerkannte israelische Siedlungen im Westjordanland
als legal, während der israelische Premier eine offizielle Annexion des
Westjordanlands versprach. Trumps Nahost-Team war auch aktiv in die
Förderung der Siedlerbewegung involviert.
Washingtons damaliger Israel-Botschafter David Friedman lässt sich, wie
heute die extremen Kräfte in Netanjahus Regierung, am besten als Teil der
Siedlerbewegung fassen. Während Smotrich in einer Siedlung im
Westjordanland lebt, war Friedman Präsident eines US-amerikanischen
Vereins, der Spenden in Millionenhöhe für die Siedlung Bet El sammelte.
„Zwischen Netanjahu und Trump war das eine richtige Freundschaft“, sagt
Peled, „viele hoffen nun, dass Trump die nächste Wahl in den USA gewinnt.“
Doch vorher stellt sich die Frage, wie es in Israel weitergeht. Der
Journalist und Aktivist Matar, der sich bei den Protesten gegen die
Justizreform dem sogenannten Anti-Besatzungs-Block anschließt, gibt sich
„zutiefst besorgt“, was die Pläne der Regierung angeht. Im gleichen Atemzug
sagt er: „Ich bin seit über zwanzig Jahren Aktivist und spüre derzeit eine
Offenheit für eine ernsthafte Diskussion über die Besatzung in wachsenden
Teilen der israelischen Gesellschaft, wie ich sie noch nicht erlebt habe.“
Erstmals seit zwanzig Jahren bestehe die Möglichkeit, ein breites
politisches Lager aufzubauen, das sich der Besatzung widersetzt.
Anfangs sei dem Anti-Besatzungs-Block auf den Demonstrationen mit viel
Kritik, ja sogar mit Feindschaft begegnet worden. Nun würden immer mehr
Menschen auch im Mainstream der Protestbewegung die Botschaften des Blocks
übernehmen. „Der Wandel der Meinungen innerhalb der Protestbewegung ist
sehr ermutigend“, sagt Matar, „immer mehr Menschen verbinden die Punkte“ …
dass zwischen Besatzung und Siedlung einerseits und den Plänen zum Umbau
des israelischen Rechtsstaats andererseits eine klare Linie besteht.
31 Jul 2023
## LINKS
[1] /Justizreform-in-Israel/!5947598
[2] /Proteste-gegen-Justizreform-in-Israel/!5946392
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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