Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Soziologin über Israel und Palästina: „Es handelt sich um eine …
> Der Justizumbau hänge eng mit der Besatzung zusammen, sagt Soziologin
> Yael Berda. Die Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten
> verschwimme.
Bild: Protest letzten Samstag in Tel Aviv. Rechte von Palästinensern spielen b…
taz: Frau Berda, Israels Regierung hat vor der Sommerpause ein Gesetz
verabschiedet, das dem Obersten Gericht untersagt, Regierungsentscheidungen
auf „Angemessenheit“ zu überprüfen. Es war der erste Schritt des
umstrittenen Justizumbaus. Wird das Gericht diese oder weitere
Umstrukturierungen noch abwenden können?
Yael Berda: Im September wird das Gericht entscheiden, ob es das Gesetz
akzeptiert, das ihm die Macht rauben will. Hoffentlich wird es entscheiden,
dass die Abschaffung der Angemessenheitsklausel verfassungswidrig ist. Dann
werden wir aller Voraussicht nach eine Verfassungskrise erleben.
Inwiefern?
Wir haben in Israel keine schriftliche Verfassung, nur eine Reihe
Entscheidungen des Obersten Gerichts, die verfassungsmäßige Rechte
konstituieren. Die Angemessenheitsklausel war das wichtigste normative
Instrument zur Kontrolle der Exekutive. Wenn das Gericht entscheidet, dass
das von der Regierung erlassene Gesetz verfassungswidrig ist und es daher
für nichtig erklärt werden sollte, wird die Polizei zum Beispiel
entscheiden müssen, ob sie nun auf die Regierung hört oder auf das Gericht.
Worauf würde das konkret hinauslaufen?
Absolutes Chaos. Was gesetzmäßig ist, würde davon abhängig gemacht, wer
Entscheidungen trifft beziehungsweise wer auf wen hört.
Was wäre die Alternative zum Obersten Gericht, sollte es im Zuge einer
solchen Krise nicht mehr die Oberhand behalten?
Die Regierung würde politisch gleichgesinnte Richter einsetzen, Anhänger
des Justizumbaus. Auch eine massive Stärkung der Rabbinatsgerichte, die in
Israel Personenstandsangelegenheiten wie Heirat und Scheidung verwalten,
steht im Raum.
Was sollten Länder wie Deutschland angesichts all dessen tun?
Handeln. Die Regierung hat erklärt, dass sie ein Land will, das mehreren
diskriminierten Gruppen bislang noch bestehende Rechte wegnimmt –
Palästinensern, Frauen, Menschen mit Behinderungen. Diese und weitere
Gruppen werden zur Zielscheibe. Der Moment zum Eingreifen ist jetzt. Kein
liberales Land kann so eine Regierung guten Gewissens unterstützen.
Über 2.000 Intellektuelle haben im August einen [1][offenen Brief]
unterschrieben. Sie verurteilen darin den Justizcoup in Israel und die
Besatzung der palästinensischen Gebiete und unterstreichen die Verbindung
zwischen beidem. Der “eigentliche Zweck“ des Justizcoups sei es,
“Palästinensern gleiche Rechte vorzuenthalten“ und “mehr Land zu
annektieren“. Auch von bereits bestehender Apartheid ist die Rede. Wie
wichtig sind solche Diskurs-Verschiebungen?
Sehr wichtig. Die Proteste verändern die politische Landkarte in Israel
gewaltig. Liberale, die Teil der sogenannten Mitte waren, verstehen dieser
Tage, was ich die Dreifaltigkeit nenne: die Beziehung zwischen Besatzung,
Siedlungsprojekt und autoritärem Justizputsch.
Welches Interesse verfolgen die Siedler in Ihren Augen denn mit dem
Justizcoup?
Sie brauchen ihn. Sie müssen das Oberste Gericht beseitigen, weil es ihrer
Umgestaltung Israels zu einem exklusiv jüdischen Land im Weg steht.
Gleichzeitig gibt es zum ersten Mal seit der Ermordung des damaligen
israelischen Premiers Rabin heute einen wachsenden Teil der israelischen
Bevölkerung, der sagt: ‚Wir wollen kein religiöses Land. Wir wollen keinen
Apartheidstaat. Wir wollen keinen endlosen Krieg.‘ Sie begreifen, dass sie
nicht länger nur zuschauen können.
Hat der Protest, der über die Ablehnung des Justizcoups hinausgeht und auch
die Besatzung in den Blick nimmt, das Potenzial, zu einer dauerhaften
Bewegung zu werden?
Die große Frage ist, ob die Protestierenden in der Lage sind Koalitionen
herbeizuführen, die zur Überwindung dieser Situation erforderlich sind. Das
erfordert Mut. Die Führung der Opposition, Jair Lapid und Benny Gantz,
haben große Angst, sich für liberale Rechte von Palästinensern
auszusprechen – wenngleich das natürlich alles andere als radikal wäre.
In letzter Zeit wurde ein Teil der Protestierenden, für die die Besatzung
weniger im Vordergrund steht, [2][dafür kritisiert, einen undemokratischen
Status quo innerhalb Israels aufrechterhalten zu wollen]. Man trage das
Banner der Demokratie, habe aber wenig über das Militärregime zu sagen, das
Israel seit über 50 Jahren im Westjordanland aufrechterhält.
Es stimmt, viele der Protestierenden weichen in mehreren Punkten nicht
fundamental von den Zielen der extremen Rechten ab. Ich denke allerdings,
der Unterschied ist wichtig. Mehr und mehr Israelis verstehen, dass das
Expansionsdenken der Siedler darauf aus ist, die noch verbleibende Macht
von Palästinensern auf allen Ebenen zu dezimieren. Alle, die sich für
Rechte von Palästinensern einsetzen, gelten in ihren Augen als
Terror-Unterstützer. Ich selbst versuche bisweilen selbst, mit Siedlern ins
Gespräch zu kommen. Aber wenn Leute überzeugt sind, dass es ihr Recht ist,
Palästinenser zu deportieren, gibt es nichts zu diskutieren.
Stimmt es, dass einige der Protestierenden, die seit Monaten gegen den
Justizcoup auf die Straße gehen, in erster Linie juristischen Konsequenzen
entgehen wollen?
Sehen Sie sich die [3][Bewegung von Reservisten] der Luftwaffe an, die im
Zuge des Justizcoups Dienstverweigerung angekündigt haben. Die haben große
Angst. Wenn das Oberste Gericht in Israel abgeschafft werden sollte,
könnten sie bald selbst in Den Haag landen. Viele Reserve-Piloten, die
jetzt ihren Dienst verweigern, tun das, weil sie fürchten, Dinge, die sie
unter dem Deckmantel liberaler Rechtsstaatlichkeit in den besetzten
Gebieten jahrzehntelang tun konnten, nicht mehr tun zu können. Das ist ein
koloniales Argument. Es folgt der Logik des britischen Empire, das stets
versuchte, sich rechtlich abzusichern. In Augen der Reservisten war Israel
ein demokratischer Staat, bis zu dieser Regierung.
Unabhängig vom Justizcoup ermittelt der Internationale Strafgerichtshof in
Den Haag zu Kriegsverbrechen in Palästina seitens Israel sowie seitens
militanter palästinensischer Gruppierungen. Was steht auf dem Spiel?
Wenn der IStGH tatsächlich ein Verfahren eröffnet und Dinge, die im Rahmen
der Besatzung passiert sind, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
eingestuft werden, werden sich zahlreiche Menschen tatsächlich in Den Haag
vor Gericht verantworten müssen. Das erklärt die Angst israelischer
Reservisten. Israels Oberstes Gericht hat deren Aktionen immer entweder für
rechtmäßig erklärt oder es folgte – selbst wenn es die Aktionen als illegal
einstufte – in der Regel ein geringfügiges Verfahren. So konnte man
zumindest behaupten, dass es ein Verfahren gab.
Das klingt zynisch.
Ja. Aber das IStGH-Verfahren wäre wirklich eine ernste Sache. Ich denke,
wir sollten politische Alternativen anvisieren, die eine Form von
Restitution für Palästinenser voranbringen und palästinensischen
Geflüchteten die Rückkehr ermöglichen.
Haben Sie eine Vorstellung, wie?
Ich gehöre einer Gruppe an, die sich [4][“Ein Land für Alle“ (Eretz
le'Kulam)] nennt. Unsere Lösung ist eine Konföderation, in der es zwei
Staaten gibt und eine offene Grenze. Die Mauer fiele. Palästinenser – nicht
nur die, die schon israelische Staatsbürger sind – könnten sich in Israel
niederlassen. Siedler könnten als Einzelpersonen unter palästinensischer
Souveränität dort bleiben, wo sie sind. Menschen würden in ihren jeweiligen
Staaten ein eigenes Parlament wählen. Unser Vorbild ist die Europäische
Union.
Die Zweistaatenlösung ist in Ihren Augen keine Alternative mehr?
Die Zweistaatenlösung war von Beginn an eine schlechte Idee. Sie wurde
jahrzehntelang ohne guten Grund aufrechterhalten. Dieser Ort lässt sich
praktisch nicht aufteilen. Für Palästinenser ist das gesamte Gebiet
Palästina. Für jüdische Israelis ist das ganze Land heilig. Wir brauchen
eine neue Vision.
Nicht nur der IStGH, auch der Internationale Gerichtshof, der IGH, befasst
sich mit Israel. Er erarbeitet ein Urteil zum rechtlichen Status der
Besatzung. Was halten Sie davon?
Indem der IGH diese Frage angeht, zeigt er, dass er den Status quo nicht
länger zu akzeptieren bereit ist.
Was hat zum Bruch dieser Art Akzeptanz geführt?
Ich denke, das Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde, hat viel
verändert. Dies war die erste gesetzliche Erklärung der exklusiven
Zugehörigkeit von Juden zu Israel. Es implizierte auch eine explizite
Nichtanerkennung palästinensischer Selbstbestimmung. Dazu kommt, dass sich
die De-facto-Annexion des Westjordanlands in eine De-jure-Situation
verwandelt. Einige Beobachter beginnen zu verstehen, dass sich ein
Zeitfenster schließt.
Sollte der IGH die Illegalität der Besatzung feststellen, welche
Verpflichtungen würden sich daraus für UN-Mitgliedstaaten ergeben?
Internationales Recht hat kein unmittelbares Durchsetzungsorgan. Was wir
wissen: Wenn die Besatzung für illegal erklärt wird, werden auch die
bisherigen Maßnahmen von Israelis in den besetzten Gebieten, militärische
wie zivile Maßnahmen, für illegal erklärt und könnten als Straftaten
geahndet werden.
Hieße das, dass Siedler kein Land und keine Häuser mehr im Westjordanland
kaufen könnten?
Die Struktur selbst, also die israelische Zivilverwaltung, die Fragen rund
um Besitz und Enteignung im Westjordanland verwaltet, würde illegal. Das
würde zunächst extreme Unsicherheit erzeugen, was den Status dort lebender
Israelis betrifft.
Olaf Scholz soll [5][Berichten zufolge] jüngst eine schriftliche Erklärung
des Auswärtigen Amts vor dem IGH blockiert haben, die Deutschlands Sicht
zum rechtlichen Status der Besatzung darlegt. Den Berichten zufolge ging
sie für deutsche Verhältnisse „zu weit“. Großbritannien soll versucht
haben, das IGH-Urteil als Ganzes zu blockieren. Wie schätzen Sie das ein?
Deutschland und Großbritannien waren lange Teil eines Prozesses, der eine
bestimmte Art Lösung des Konflikts zum Ziel hatte, die Zweistaatenlösung.
Jetzt ist es ist nicht leicht zuzugeben: „Sorry, wir haben die Sachlage
missverstanden.“ Man muss sich auch vor Augen führen, wie viel Geld die
Geberländer in die Sicherheitssysteme investiert haben, die Israelis und
Palästinenser trennen, und so das vielleicht ausgeklügeltste Überwachungs-
und Mobilitätsregime der Welt ins Leben gerufen haben – im Namen des
Friedens.
Welches Recht gilt eigentlich in den besetzten Gebieten?
Die Rechtsprechung im Westjordanland folgt ethnischen Kategorien:
Palästinenser unterliegen Militärstrafrecht und dem Strafrecht der
Palästinensischen Autonomie, für Siedler gilt israelisches Zivilrecht. Wenn
ein Siedler und ein Palästinenser zur gleichen Zeit und am gleichen Ort
dasselbe Verbrechen begehen, wird der Palästinenser vor ein Militärgericht
gestellt, der Siedler vor ein israelisches Zivilgericht. Konkret heißt das:
völlig unterschiedliche Verfahren und Strafen, nach ethnischen Kriterien.
Apartheid ist allein schon rechtlich betrachtet nicht etwas, was droht,
sondern etwas, das in den besetzten Gebieten seit Jahrzehnten fest
verankert ist.
Viele sprechen mit Blick auf das Westjordanland inzwischen von einer
De-facto-Annexion Israels anstatt einer Besatzung. Was halten Sie davon?
Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat alle Behörden der zivilen
Administration über das Westjordanland übernommen, sodass es sich schon
jetzt nicht mehr um eine militärische, sondern bereits um zivile Besatzung
handelt – sprich: eine Annexion de jure, nicht nur de facto. Darauf braucht
niemand zu warten. In den jüngsten israelischen Koalitionsvereinbarungen
steht jedoch explizit, dass die Regierung palästinensisches Land legal
annektieren will. Es geht darum, die Trennung zwischen israelischem
Staatsgebiet und den besetzten Territorien sukzessive weiter aufzuheben.
Unter welchen Bedingungen wäre eine Besatzung eigentlich legal?
Nach internationalem Recht ist es grundsätzlich nicht rechtmäßig,
Territorium mit Gewalt zu erobern. Der Sinn von Besatzungen ist,
umstrittene Gebiete in Kriegszeiten neu aufzuteilen. Daher ist es
essenziell, dass Besatzungen militärischer Natur sind – so etwas wie zivile
Besatzung gibt es nicht. Israels Besatzung des Westjordanlands dauert
allerdings über 55 Jahre an. Ihre Unbestimmtheit und Dauer sind die
Hauptgründe, die sie in den Augen internationaler Beobachter illegal
machen.
Was hat sich mit der aktuellen israelischen Regierung noch verändert?
Zunächst einmal hat sie die Ziele des Nationalstaatsgesetzes von 2018 zur
offiziellen Regierungslinie erhoben. Ziel ist, eine exklusiv-jüdische,
nationale Heimstätte zwischen Jordan und dem Meer zu schaffen. Wir sprechen
über potenziellen Völkermord. Smotrich hat selbst erwähnt, dass es eine
zweite Version der Nakba geben könnte. Itamar Ben-Gvir (Minister für
nationale Sicherheit, d. Red.) ist Kahanist. Diese Leute glauben an
sprichwörtliche Auslöschung von Palästinensern. Hier sollten in der
internationalen Gemeinschaft wirklich alle Alarmglocken angehen.
Werden Sie als Soziologin eigentlich mit dem Vorwurf des Aktivismus
konfrontiert?
Sicher, doch mir ist dieser Vorwurf egal. Ich war mein ganzes Leben lang
Aktivistin. Ich bin als Aktivistin in die Universität gegangen, mit dem
Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Ich sehe das nicht als etwas
Negatives. Es ist exakt, worauf es jetzt ankommt.
6 Sep 2023
## LINKS
[1] /Israel-Palaestina-Debatte-in-Deutschland/!5950121
[2] /Demokratiebewegung-in-Israel/!5947821
[3] /Proteste-gegen-Justizreform-in-Israel/!5946392
[4] https://www.alandforall.org/english/?d=ltr
[5] https://twitter.com/TiloJung/status/1689302992103653376
## AUTOREN
Hanno Hauenstein
## TAGS
Israel
Palästina
Besatzung
Westjordanland
Israel
Jair Lapid
Israel
Israel
Israel
Israel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Israelische Militäreinsätze: Sechs Palästinenser getötet
In den palästinensischen Gebieten hat Israels Armee mehrere Menschen
getötet. In Jericho hätten Palästinenser Soldaten mit Sprengsätzen
beworfen.
Justizreform in Israel: Ringen um die Rechtsstaatlichkeit
Israels Justizumbau hat das Land in eine Krise gestürzt. Nun entscheiden
die obersten Richter, ob sie die Einschränkung ihrer Macht akzeptieren.
Historischer Gerichtstermin: Israel vor turbulentem Herbst
Ab Dienstag berät das Oberste Gericht, ob es einen Teil der Justizreform
aufhebt. Zehntausende Gegner der Reform gingen am Samstag auf die Straße.
Normalisierung mit arabischen Staaten: Israel eröffnet Bahrain-Botschaft
Israel ist ab sofort mit einer offiziellen Botschaft in Manama vertreten.
Ein Nachbarland zögert noch, seine Beziehungen zu Jerusalem normalisieren.
Ausschreitungen in Israel: Netanjahu will Eritreer abschieben
Israels Premier Netanjahu droht mit Maßnahmen gegen Einwanderer. Am
Wochenende kam es zu Gewalt zwischen Asylbewerbern und der Polizei.
Demokratiebewegung in Israel: Durch die rechtsreligiöse Linse
Die Rechte triumphiert. Israels Protestbewegung will weiter gegen die
Justizreform demonstrieren. Kritiker*innen fehlt in beiden Lagern
etwas.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.