| # taz.de -- Israel-Palästina Debatte in Deutschland: Der Elefant im Raum | |
| > Es ist Zeit, über Israel-Palästina mit radikaler humanistischer Vernunft | |
| > zu sprechen. Ein Manifest aus den USA zur Zukunft Israels macht es vor. | |
| Bild: Ein Palästinenser schützt sich gegen Rauchschwaden | |
| Etwas nicht wahrzunehmen, obwohl es in nächster Nähe geschieht, ist kein | |
| singulär israelisches Phänomen. Was die Psychologie einen Blind Spot nennt, | |
| markiert in diesem Fall allerdings eine ausgedehnte Konfliktgeografie. Über | |
| den Umstand, dass unter der Militärherrschaft im Westjordanland regelmäßig | |
| Minderjährige ins Gefängnis gesteckt werden, sagt eine jüdische Anwältin: | |
| „Das geschieht in nur 30 Fahrminuten Entfernung von unseren friedlichen | |
| Schlafzimmern, und doch wissen die meisten Israelis nichts davon.“ | |
| Nichtsehen und Nichtwissen wurden eingeübt über mehr als ein halbes | |
| Jahrhundert. Das verdrängte, beschwiegene Unrecht der Besatzung sei nun der | |
| sprichwörtliche „Elephant in the Room“. So lautet der [1][Titel eines | |
| Manifests], das – aus den USA kommend – im Ringen um Israels Zukunft einen | |
| radikaldemokratischen, egalitären Ton setzt. Bisher haben sich 1.500 | |
| überwiegend jüdische WissenschafterInnen der Erklärung angeschlossen. Ein | |
| Kernsatz lautet: „Es kann keine Demokratie für Juden in Israel geben, | |
| solange Palästinenser unter einem Regime der Apartheid leben.“ | |
| Diesen [2][Begriff, der in Deutschland oft einen Antisemitismusvorwurf nach | |
| sich zieht], haben viele Unterstützer des Manifests vorher nicht benutzt; | |
| sie reagieren nun auf eine veränderte Realität, warnen vor Annexion und | |
| ethnischen Säuberungen als dem ultimativen Ziel des justiziellen | |
| Staatsstreichs. Der Initiator der Erklärung, der [3][Holocaust-Historiker | |
| Omer Bartov,] erinnert im Gespräch daran, wie im Europa des 20. | |
| Jahrhunderts die zunächst randständigen faschistischen Bewegungen in | |
| Regierungen gelangt sind: „Dies ist der [4][gegenwärtige Moment in Israel]. | |
| Es ist beängstigend.“ | |
| Seiner Sichtweise haben sich weitere prominente Shoah-Historiker und | |
| Historikerinnen angeschlossen, sogar Saul Friedländer hat unterzeichnet. | |
| Allmählich kommen auch Deutsche hinzu, jüdisch wie nichtjüdisch, etwa | |
| Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts. Wer die | |
| bisherigen Gräben der Debatte kennt, kann den Eindruck gewinnen, dass hier | |
| gerade etwas Neues geschieht. In den USA konstatiert die Washington Post | |
| eine Verschiebung des Diskurses; ob das auch für Deutschland gilt, wird | |
| sich zeigen. | |
| ## Scholz und die deutsch-israelische Konsensdiplomatie | |
| Zu den konkreten Forderungen des Manifestes zählt, die Straflosigkeit | |
| Israels auf internationaler Ebene zu beenden – die deutsche Politik steht | |
| bisher für das genaue Gegenteil. Jüngst blockierte Kanzler Scholz sogar ein | |
| Gutachten des Auswärtigen Amts, das auf Ersuchen des Internationalen | |
| Gerichtshofs die Besatzung völkerrechtlich bewertete. Letztere illegal zu | |
| nennen, darf nicht offizielle deutsche Position werden. Nur im | |
| geschlossenen Röhrensystem deutsch-israelischer Konsensdiplomatie kann es | |
| als Lehre aus der Geschichte gelten, Unrecht nicht beim Namen zu nennen. | |
| Und der Boden wird abschüssiger, auf dem die deutsche Politik die bisherige | |
| Balance zu halten versucht. Dem deutschen Botschafter in Tel Aviv wurde | |
| Förderung von Terrorismus vorgeworfen, weil er an einem Gedenkakt teilnahm, | |
| wo jüdische und palästinensische Familien gemeinsam um getötete Angehörige | |
| trauerten. Rechtsradikale lärmten vor der Botschaft: „Deutschland, du hast | |
| deine Lektion nicht gelernt.“ Der Vorfall illustriert, wie eng der | |
| politische Spielraum in Israel geworden ist und wie alltäglich der | |
| Missbrauch von Holocaust-Erinnerung. | |
| Wenig später wurde der Hinterbliebenen-Gruppe Parents Circle, die für | |
| Versöhnung wirbt, der Zutritt zu israelischen Schulen verboten: Opfer der | |
| Streitkräfte zu betrauern entehre die Armee, beschädige den Staat. So wird | |
| Trauer zu Terror, und mittrauernde Juden sind nationale Verräter. | |
| Die Besatzung töte die Demokratie, das sagte der Religionsphilosoph | |
| Jeschajahu Leibowitz schon 1992, nach 25 Jahren Okkupation. Es könne nicht | |
| demokratisch sein, Millionen Menschen bürgerliche und politische Rechte | |
| vorzuenthalten. „Diese Herrschaft wirkt auch nach innen, sie korrumpiert.“ | |
| Hochbetagt rief er Soldaten zur Befehlsverweigerung auf. | |
| ## Wo bleiben die Stimmen radikaler humanistischer Vernunft? | |
| Von der Tragik des Geschehens in Israel-Palästina wirken die hiesigen | |
| Debatten wie abgekoppelt. Sie kreisen nur ums Eigene, um deutsche | |
| Befindlichkeiten, Ängste und Heucheleien. [5][Tausende von Zeilen über | |
| einen linken Fake-Juden], fast so schlimm wie Eichmann, aber auf Walser | |
| lassen wir nichts kommen. Die Realität in Israel-Palästina ist für dieses | |
| Heimkino nur Tapete; das ist nicht neu, und doch fällt der Mangel an | |
| Stimmen radikaler humanistischer Vernunft gerade besonders auf. | |
| Wer vor einiger Zeit noch dachte, es mache unanfechtbar, stramm zur | |
| israelischen Regierung zu stehen, müht sich nun, vom falschen Pferd | |
| herunterzukommen. Es gibt für Deutsche – präziser: für nichtjüdische | |
| Herkunftsdeutsche – eben keine moralische Sicherheit von der Stange, kein | |
| Entlastungskostüm, das nur überzuziehen wäre. Selbst eine Konversion zum | |
| Judentum ist nicht der Erwerb einer Verfolgtenbiografie, obwohl manche das | |
| wohl ersehnen. | |
| Es hilft auch nicht, sich hinter Aussagen von Juden/Jüdinnen zu verstecken. | |
| Zu glauben, nur Juden dürften Israels Politik kritisieren, wäre seltsam | |
| identitär. Und um zu erahnen, wie die Ku-Klux-Klan-Gestalten in Netanjahus | |
| Koalition die humanistischen Traditionen des Judentums beleidigen, muss ich | |
| nicht Jüdin sein. So wie es der Aufklärung dienen kann, gegen reaktionären | |
| Islamismus progressive muslimische Stimmen zu zitieren, lassen sich gegen | |
| den Ethnonationalismus jüdische Antipoden anführen. | |
| Doch enthebt einen dies eben nicht davon, eine eigene Position zu beziehen. | |
| Die sollte, vom Deutschen aus, stets die Geschichte im Blick haben, auch | |
| den heutigen Antisemitismus. Gleichgültigkeit und Wegsehen lassen sich | |
| indes nicht mit dem Holocaust begründen. | |
| 15 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://sites.google.com/view/israel-elephant-in-the-room/home | |
| [2] /Menschenrechtsorganisation-ueber-Israel/!5829584 | |
| [3] /Die-juedische-Geschichte-der-Ukraine/!5863627 | |
| [4] /Israel-billigt-Teil-der-Justizreform/!5946231 | |
| [5] /Medien-Affaere-Fabian-Wolff/!5944149 | |
| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
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