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# taz.de -- Deutsch-israelische Beziehungen: Schuld und Universalismus
> Israels Demokratiebewegung setzt auch auf deutsche Rückendeckung.
> Bedenken als Nachfahren der Täter sollten uns dabei nicht im Weg stehen.
Bild: Gemeinsame Kranzniederlegung an der Gedenkstätte Gleis 17 in Berlin Grun…
Nun gab es also eine jüdisch-israelische Protestkundgebung in Berlin,
klein, bunt und laut, wie zuvor in anderen Städten der Welt. Nur ist in
Deutschland eben nichts wie anderswo, wenn es um Israel geht. Um mit dem
Subjektiven zu beginnen: Kann sich eine nichtjüdische Deutsche am Protest
gegen Rechtsextremismus in Israel beteiligen? Antworten, die ich hörte,
reichten von „auf keinen Fall“ bis „ja, klar“.
Gleiche, universelle Werte zu postulieren, jenseits von Herkunft, ist hier
ungleich schwieriger als in der Gegnerschaft zu Autoritarismus anderswo, in
Gestalt von Trump, Orbán oder Erdoğan. Die Nachkommen der Täter sollen sich
gegenüber den Nachkommen der Opfer nicht als Lehrmeister in Demokratie
aufspielen – die Ermahnung hallt weiter nach.
Und am Ort des Geschehens, dem Pariser Platz zu Berlin, genügte ein Blick
auf einige der handgemalten Plakate, um zu wissen: Sprecherposition hat
Bedeutung. Das Schild „We know what fascism can do“, sollte ich eher nicht
tragen. Es gab [1][allerlei NS-Anspielungen]; sie reflektierten die
Inanspruchnahme des moralischen Kapitals der Holocaust-Erinnerung durch den
Gegner, Netanjahu & Co., wie auch den (deutschen) Ort des Geschehens. Ich
fand da für mich keinen adäquaten Platz.
Vielmehr warf die Erfahrung dieses Tages einen Strauß von Fragen auf, die
um die Begriffe Schuld und Universalismus kreisen. Was sagt uns die
vielzitierte [2][Lehre aus der Geschichte], wenn es um ein vibrierendes
jüdisches Anliegen der Gegenwart geht? Lähmt uns richtigerweise ein
Schuldgefühl, bindet es Deutschen die Hände – oder ist das nur eine billige
Ausrede?
## Palästinensisch-jüdischer Dialog
Weil es unbequemer wäre, sich der universalistischen Herausforderung zu
stellen und von Israel Demokratie und Menschenrechte für alle, Juden wie
Palästinenser, zu fordern? Letztere waren auf dem Pariser Platz nur
Randfiguren, sollten eher unsichtbar sein, damit die Kundgebung nicht in
Verdacht geriete, antiisraelisch zu sein. Die Sorge ist einerseits
verständlich – hier trat eine jüdische Zivilgesellschaft in Aktion, ohne
das Dach der Gemeinde und jenseits der sonst sorgfältig abgesteckten
Grenzen, folglich angreifbar. Da war Vorsicht berechtigt.
Andererseits spiegelt diese Vorsicht wiederum ein sehr deutsches Setting.
Selbst nachdem führende israelische Militärs den Siedler-[3][Angriff auf
die Ortschaft Huwara] ein Pogrom nannten, gelten Palästinenser bei uns
nicht als Stimme Betroffener und Gefährdeter, nicht als rechtmäßig
Beteiligte am öffentlichen Diskurs. In den USA spricht dieser Tage der
palästinensische Rechtsphilosoph Raef Zreik an der Universität Harvard zur
israelischen Verfassungskrise, in Dialog mit dem jüdischen Juristen Noah
Feldman.
Warum ist dergleichen hier so schwer denkbar? Will dafür ernsthaft jemand
die deutsche Schuld bemühen? Bevor Kanzler Scholz und sein Gast
[4][Netanjahu am Deportationsmahnmal Gleis 17] des S-Bahnhofs Grunewald der
Schoah-Opfer gedachten, waren dort, mit weißen Rosen, Protestbotschaften
hinterlegt worden: Die Holocaust-Erinnerung nicht für politische Zwecke
missbrauchen!
## Beschämendes Schweigen
Einer der Beteiligten, der israelische [5][Historiker Arie Dubnov],
erklärte gegenüber der Zeitung Haaretz, die Zeremonie an Gleis 17 verleihe
dem unkoscheren Besuch Netanjahus einen koscheren Anstrich. Eben noch ein
Angeklagter, der daheim ein Verräter genannt wird, ein Spalter und
Zerstörer seines Landes, stand er hier nun als unanfechtbarer Repräsentant
der Opfer. Was, wenn demnächst noch schlimmere Gestalten seines Kabinetts
auf solch einem Gedenkakt bestehen?
Die deutsche Politik steckt in einem hausgemachten Dilemma fest: schon zu
lange Schoah-Verantwortung und die Haltung zu israelischem
Regierungshandeln nicht getrennt zu haben. Darauf ist der ganze Apparat,
die gesamte Diplomatie geeicht. Gewiss, umsteuern ist möglich, aber unter
Beachtung eines Risikos: Das [6][Israel-Bild in deutschen Meinungsumfragen]
ist seit Langem kritischer, negativer als bei der Elite, bis hin zu jenen
20 Prozent mit dezidiert antisemitischen Überzeugungen. Und diese Marke
steigt bei akuten politischen Konflikten.
Die Angst von Juden und Jüdinnen in Deutschland, dass negative Schlagzeilen
über Israel sie selbst gefährden könnten, ist also ernst zu nehmen. Aber
wäre es dem Kampf gegen Antisemitismus nicht gerade dienlich, wenn das
Verhältnis zu den verschiedenen Kräften im heutigen Israel und ihre
jeweilige Bedeutung für die Erinnerungskultur demokratisch verhandelt
würde? Die jetzige Situation erzwingt das geradezu, mit allen neuen,
schwierigen Facetten.
Die [7][prodemokratische Bewegung in Israel] erwartet von Deutschland ein
Signal des Beistands. Darüber sollte der Bundestag debattieren, ohne
Fraktionszwang und jenseits üblicher Floskelstarre. Oder ist die moralische
Trägheit zu groß, um zum Thema deutsche Verantwortung einmal eigene,
frische Gedanken zu formulieren? In der Zivilgesellschaft gibt es genug
antifaschistisch motivierte Kräfte, um eine solche Debatte einzufordern.
Das deutsche Schweigen als Antwort auf die Rufe aus Tel Aviv, Haifa und
Jerusalem ist beschämend.
Vielleicht kann der Universalismus, nach dem ich suche, in diesem Land und
für nichtjüdische Deutsche nur ein eingeschränkter sein, ein gebrochener
Universalismus mit historischem Schuldvorbehalt. Eine dialektische
Position, die immer wieder neu zu bestimmen ist. Nur dies bitte nicht auf
dem Rücken der Palästinenser.
Auch wenn wir keine Harvard Law School haben: Wäre jetzt nicht genau der
richtige Augenblick, ein deutsch-jüdisch-palästinensisches Gespräch
aufzubauen, mit öffentlichen und nicht-öffentlichen Formaten, vielleicht
mit einer Ringvorlesung – immer entlang der Überzeugung, dass wir eine
gemeinsame Geschichte teilen, auch wenn sie für jede Seite sehr anders
aussieht?
21 Mar 2023
## LINKS
[1] /Israelis-in-Berlin-gegen-Netanjahu/!5922297
[2] /Netanjahu-in-Berlin/!5919011
[3] /Neue-Gewalt-im-Westjordanland/!5915765
[4] /Israels-Regierungschef-in-Deutschland/!5922162
[5] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-03-17/ty-article/.premium/as-netan…
[6] https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/Graue…
[7] /Proteste-gegen-Justizreform-in-Israel/!5908944
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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