| # taz.de -- Netanjahu in Berlin: Gelernte Lektion anwenden | |
| > Kein Weg führt vorbei an der Konfrontation mit Benjamin Netanjahu, will | |
| > man ein demokratisches Israel retten. Deutschland steht in besonderer | |
| > Pflicht. | |
| Bild: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr Amtskollege Eli Cohen … | |
| Die Reise von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nach Berlin ist | |
| eine gute Gelegenheit für die Bundesrepublik, ihn auf den Platz zu | |
| verweisen, der ihm zusteht. Bundesjustizminister [1][Marco Buschmann] | |
| besuchte im vergangenen Monat Israel und erinnerte behutsam an Demokratien, | |
| die sich in der Geschichte der Menschheit selbst zu zerstören wussten, und | |
| dass der Macht der Mehrheit keine Grenzen gesetzt seien. | |
| Bundesaußenministerin Annalena Baerbock traf jüngst mit ihrem Amtskollegen | |
| [2][Eli Cohen in Berlin] zusammen und brachte ihm gegenüber ihre Sorge vor | |
| einer Beeinträchtigung der „Unabhängigkeit der Justiz“ zum Ausdruck. Und | |
| auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte bei einem Empfang im | |
| Schloss Bellevue anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der Universität | |
| Haifa, er sei besorgt über den [3][„Umbau des Rechtsstaats“], den die | |
| Regierung in Jerusalem plant. | |
| Das ist sehr nett, dass der Präsident und die Minister besorgt sind. Aber | |
| es ist keineswegs ausreichend. Dass Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg | |
| und den Ruinen der Konzentrationslager gebrochen, zerschlagen, geächtet und | |
| auf ewig beschämt hervorging, war nur gerecht. Der Weg zurück zur | |
| Völkerfamilie führte völlig klar über die bedingungslose Annahme des | |
| Prinzips: Nie wieder! Nie wieder Holocaust! Nie wieder Krieg! Nie wieder | |
| eine Diktatur! | |
| Deutschland hat den Holocaust als Teil seiner Identität angenommen und | |
| weder die Geschichte ausgelöscht noch davon abgesehen, sich mit diesem | |
| düsteren Kapitel auseinanderzusetzen. Deutschland hat mit großer Klugheit | |
| den Holocaust zu einem Teil der Identität des Volkes gemacht, kann so in | |
| den Spiegel sehen und sich der Scham stellen und aus dieser Scham heraus | |
| kommende Generationen erziehen. | |
| ## Zeit für politisches Umdenken | |
| Aus der geschichtlichen Verpflichtung heraus hat sich Deutschland selbst | |
| außenpolitische Schranken errichtet und für eine Außenpolitik der | |
| Kooperation entschieden, die auf Sicherheit und Stabilität setzt, auf | |
| Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit. Anstelle eines unabhängigen | |
| Handelns strebt die Bundesregierung ein Agieren im Rahmen einer Koalition | |
| westlich-liberaler Staaten an. Deutschland unterhält enge Beziehungen zu | |
| den USA, ist Mitgliedsstaat der Nato und federführend in der Europäischen | |
| Union. | |
| Hand in Hand mit Frankreich treibt Deutschland innerhalb der EU | |
| Menschenrechte und Frieden voran, dient als Modell für den Umgang mit | |
| Flüchtenden, Menschen mit Behinderung und LGBTQ. All das ist ein komplettes | |
| Gegenstück zu den Gräueltaten der Nazis. Deutschland hat sich zum | |
| Existenzrecht und der Sicherheit Israels verpflichtet. Die besondere Sorge | |
| gilt dem jüdischen Volk und dem Staat Israel. | |
| [4][Reparationszahlungen], die Rückendeckung auf internationaler Bühne, | |
| Waffenlieferungen und Vermittlungen bei Verhandlungen mit Drittstaaten | |
| haben die Beziehungen beider Staaten über Jahre gefestigt. | |
| Nicht, dass alles perfekt wäre in Deutschland, das vor Korruption oder auch | |
| wachsendem [5][Rassismus] nicht gefeit ist. Und doch hat die | |
| verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die | |
| Umsetzung dieser Lektion in politisches und staatliches Handeln Deutschland | |
| nicht nur in die Arme der Völkerfamilie zurückgeführt, sondern einen | |
| zentralen Platz unter den führenden liberalen Demokratien der Welt | |
| einnehmen lassen. | |
| Die Welt verändert sich, und die Politik muss der sich wandelnden Realität | |
| angepasst werden. Auch in Israel verändern sich die Dinge – auf eine Art, | |
| die ein politisches Umdenken erfordert. Lange Jahre hat Deutschland dem | |
| Besatzungsstaat Israel viele Verbrechen verziehen. Der Umgang mit | |
| Minderheiten und Fremden, die Menschenrechtsverletzungen und die massiven | |
| Einschränkungen für Menschenrechtsorganisationen – all das steht in | |
| direktem Gegensatz zu den Prinzipien, die die deutsche Politik leiten, von | |
| der einen Verpflichtung, Israel zur Seite zu stehen, abgesehen. | |
| ## Angst vor Antisemitismus-Vorwurf | |
| Doch jetzt ändern sich die Vorzeichen auf eine Weise, die es Deutschland | |
| ermöglicht, beide Komponenten unter einen Hut zu bringen: die Verpflichtung | |
| Israel gegenüber und der Kampf gegen die Diktatur. Israel wird heute | |
| angegriffen von einer [6][extrem rechten Regierung], die sich zusammensetzt | |
| aus Kriminellen, Korrupten und Messianern, die sich die Zerschlagung des | |
| Justizapparats zum Ziel setzt und die Machtkonzentration in den Händen der | |
| Exekutive. Wie kaum ein anderes Land müsste Deutschland wissen, was dabei | |
| herauskommen kann. | |
| Die Regierung in Berlin muss diese Entwicklungen nicht tatenlos beobachten. | |
| Schließlich hat sich Deutschland in der Vergangenheit bisweilen deutlicher | |
| gegenüber Israel positioniert. So wurde die [7][Lieferung der deutschen | |
| U-Boote] so lange aufgehalten, bis Israel zurückgehaltene Gelder an die | |
| Palästinensische Autonomiebehörde überwies. Auch heute gäbe es | |
| Möglichkeiten – ein verändertes Abstimmungsverhalten in New York oder die | |
| schärfere Verurteilung der Besetzung. | |
| Deutschland kann und muss signalisieren, dass die Handelsbeziehungen so | |
| wenig in Stein gemeißelt sind wie die Sicherheitskooperation oder | |
| Rüstungslieferungen. Deutschland kann und muss Menschenrechtsorganisationen | |
| unterstützen, die für Demokratie und Frieden in Israel kämpfen und auf jede | |
| nur mögliche Hilfe – sei es finanzieller, politischer oder | |
| organisatorischer Art – angewiesen sind. | |
| Ohne Zweifel besteht in Berlin die Sorge davor, dass jede Kritik an Israel | |
| umgehend als Antisemitismus gebrandmarkt werden wird. Nicht Israel steht in | |
| der Kritik, sondern Israels Regierung. Deutschland trägt Verantwortung für | |
| die Existenz Israels und für die Demokratie. Alles andere wäre ein Betrug | |
| an den Lehren, die aus dem Holocaust gezogen wurden. | |
| Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul | |
| 16 Mar 2023 | |
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