| # taz.de -- Israels neue Regierung: Judenstaat im wahrsten Sinne | |
| > Die künftige Regierung in Jerusalem will die Gewaltenteilung abschaffen. | |
| > Eine semiautokratische Theokratie droht den demokratischen Staat zu | |
| > ersetzen. | |
| Bild: Dürfte bald erneut Israel regieren: Benjamin Netanjahu | |
| In Israel kündigt sich eine [1][rechtsextreme Regierung] an, die in Europa | |
| ihresgleichen sucht. Das ist weit über Israels Bürger hinaus auch für die | |
| jüdische Gemeinschaft weltweit brisant: denn sie sitzt mit Israel in einem | |
| Boot – ob sie will oder nicht. Dafür sorgen die Feinde Israels oder der | |
| Juden ebenso wie jüdische Repräsentanten weltweit. | |
| [2][Jene Repräsentanten], die seit Jahren bei Antisemitismus zu Recht | |
| aufbegehren und auch kleinste Ereignisse zu weltweit inflationären | |
| Schlagzeilen hochpushen, Gelder für jüdische Präsenz und Sicherheit von | |
| Staaten fordern. Zu Israels angekündigter Regierung mit rechtsextremen und | |
| faschistoiden Mitgliedern, teils mit krimineller oder fragwürdiger | |
| Vergangenheit, schweigen sie indes weitgehend. | |
| Längst hätte die jüdische Diaspora massiv Druck machen müssen, wenn | |
| Wahlkampfprogramme den eigenen Positionen diametral entgegenstehen, wenn | |
| sie jüdische Gemeinschaften zum Teil mit neuen Gesetzgebungen oder | |
| Entscheidungen ausgrenzen wollen, [3][Juden zweiter Klasse] schaffen oder | |
| Konversion nicht mehr akzeptieren möchten. Die Debatte über Israel in der | |
| jüdischen Gemeinde deckt seit jeher eine große Bandbreite ab. | |
| Die [4][Zionistenkongresse], die vor 125 Jahren in Basel ihren Anfang | |
| nahmen, bildeten eine Art demokratische Exzellenzdiskussion. Doch nie in | |
| der Geschichte des modernen Israels konnten sich die Extremisten in einer | |
| Regierung derart durchsetzen. Der Staat hat sich seit seiner Gründung 1948 | |
| stark gewandelt: demografisch, auch ideell, wirtschaftlich und politisch. | |
| Das einst so sozialistische, europäisch geprägte Land unterliegt einem | |
| ständigen Wandel und Widersprüchen. | |
| Zum Teil gewollt, zum Teil aufgedrängt, zum Teil als Resultat einer | |
| Einwanderung weitgehend aus Ländern ohne demokratische Sozialisation. | |
| Israel hat viele Seiten. Hier die offene und freiheitsliebende Demokratie, | |
| das Einwanderungs- und Vielkulturenland voller Innovation. Der junge Staat | |
| mit der alten, neu entwickelten Sprache zwischen Gründungsmythos und | |
| Selbstverklärung. | |
| Dort der rückwärtsgewandte Nationalstaat ohne niedergeschriebene | |
| Verfassung, ohne Trennung von Staat und Religion, mit beschränkter | |
| Regierungsstabilität. Ein Land auf Identitätssuche, herausgefordert durch | |
| Braindrain und Verirrungen. Die einen sehen in Israel den visionären | |
| ultrademokratischen jüdischen Rechtsstaat, die [5][Bastion der Freiheit] | |
| und den Wall gegen Diktaturen in der Region. Für andere ist Israel eine | |
| reaktionäre Pseudodemokratie auf Abwegen, ein Land der Besatzer mit | |
| Bürgerkriegspotenzial. | |
| Alles ist nicht ganz richtig, alles nicht ganz falsch. Oft sind die | |
| Widersprüche keine, sondern sie erklären sich aus der Sozialisation des | |
| Landes zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Orient und Abendland. | |
| Aber auch aus der Verfolgungsgeschichte einer Minderheit, die nach der | |
| Shoah traumatisiert bleibt und sich zu Recht nicht mehr auf wohlklingende | |
| Politikerreden verlassen möchte. | |
| Israel – man mag in einer Demokratie gar nicht mehr zwischen gewählten | |
| Regierungen und der wählenden Bevölkerungen unterscheiden – steht in diesen | |
| Wochen womöglich der Paradigmenwechsel von der Demokratie zu einer Art | |
| [6][semiautokratischer Theokratie] bevor, wenn die angekündigten | |
| Gesetzesänderungen durchkommen, die namentlich die Gewaltentrennung | |
| abschaffen sollen. | |
| Da ist schon nicht mehr wichtig, ob dies der [7][Selbstsucht von Benjamin | |
| Netanjahu] oder der Ignoranz eines Parlaments anzulasten ist. Wesentlicher | |
| ist, dass Israel die jüdischen Mehrheitspositionen weltweit schwächt, gegen | |
| solche verstößt und einen Keil zwischen die jüdischen Gemeinschaften | |
| treibt. Israel bekommt eine Regierung, die rechtsextremer sein könnte als | |
| Kräfte in Europa. | |
| Entstanden ist das nicht über Nacht, sondern Resultat einer jahrelangen | |
| Entwicklung, die oft hinter anderen vorgelagerten Diskursen, wie | |
| Antisemitismus, verschwand. Israel ist historisch eingebunden in die | |
| internationale Staatengemeinschaft. Die Floskel, dass am Schluss Israeli | |
| selbst über die Zukunft des Landes entscheiden, stimmt hingegen nur zum | |
| Teil. Sie wählen Regierungen, stellen die Armee, doch die großen | |
| geopolitischen Entscheidungen werden nicht an der Urne getroffen. | |
| Die „Judenfrage“ ist heute kaum mehr eine, [8][die Palästinenserfrage] | |
| schon. Das wissen auch die Bewohnerinnen und Bewohner Israels. Der Konflikt | |
| bestimmt zwar nicht mehr ihren Alltag, dringt aber permanent durch. | |
| Einstaaten-, Zweistaaten-, Dreistaaten- oder eine andere Lösung, Apartheid | |
| oder Recht auf Selbstverteidigung, jüdischer oder wie auch immer gearteter | |
| Staat: Für alle auf den ersten Blick schier unlösbaren Fragen wird Israel | |
| eine pragmatische Lösung finden – finden müssen. | |
| Doch diese Regierung ist ein Rückschlag bei allen Bemühungen der | |
| Annäherung, denn die Besatzung Israels kommt keiner Lösung, sondern einer | |
| Verschärfung näher. Mit Blick auf die Zionistenkongresse zeigte sich die | |
| Stärke Israels, die aus einer jahrhundertealten, ortsunabhängigen Kultur | |
| stammt und die der westliche-christliche Außenblick kaum durchdringt. | |
| Widerspruch ist integraler Teil von Israel, einem Land, das längst mündig | |
| geworden ist, mit Kritik umgehen kann und Solidarität einfordert. | |
| Die Feinde, teils auch die falschen Freunde Israels, die Ultranationalisten | |
| wollen hingegen ein israelisches Ghetto errichten, einen abgeschotteten | |
| Hochsicherheitstrakt mit geschlossenen Grenzen, teils einen Gottesstaat. | |
| Die jüdische Idee der Freiheit ist das nicht. Ghettos waren immer von außen | |
| aufgezwungen. | |
| Ausgerechnet zum 75. Staatsgründungsjahr könnte die neue Regierung aus dem | |
| liberalen Judenstaat Theodor Herzls einen nationalistischen, | |
| extremistischen, theokratischen „Judenstaat“ machen. Die jüdische | |
| Gemeinschaft muss gerade in diesen Tagen wieder [9][Herzls Worte] | |
| verinnerlichen: „Es gibt Ideen, denen man nicht entrinnen kann. Man | |
| engagiert sich, wenn man ‚ja‘ sagt, wenn man ‚nein‘ sagt und wenn man g… | |
| nichts sagt.“ | |
| 27 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.haaretz.com/israel-news/2022-12-08/ty-article/.highlight/netany… | |
| [2] https://www.deutschlandfunk.de/publizist-broder-zum-nahostkonflikt-verstehe… | |
| [3] https://www.washingtonpost.com/world/2022/12/17/israel-immigration-noam-moa… | |
| [4] https://www.deutschlandfunk.de/stammvater-des-zionismus-theodor-herzl-und-d… | |
| [5] https://www.gaytravel4u.de/event/tel-aviv-gay-pride | |
| [6] /Koalitionsverhandlungen-in-Jerusalem/!5898553 | |
| [7] /Koalitionsbildung-in-Israel/!5897142 | |
| [8] https://www.timesofisrael.com/watch-palestinian-leader-mahmoud-abbas-addres… | |
| [9] https://www.zitate.eu/autor/dr-theodor-herzl-zitate/177784 | |
| ## AUTOREN | |
| Yves Kugelmann | |
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