# taz.de -- Koalitionsbildung in Israel: Immunität um jeden Preis | |
> In Israel verhandelt Ex-Ministerpräsident Netanjahu noch immer mit | |
> rechtsreligiösen Parteien. Beobachter sehen die Demokratie im Land | |
> gefährdet. | |
Bild: Mit allen Mitteln: Eigentlich steht Benjamin Netanjahu wegen drei Korrupt… | |
TEL AVIV taz | Nach seinem Wahlsieg Anfang November hatte Benjamin | |
Netanjahu noch grinsend versprochen, innerhalb von wenigen Tagen eine | |
Regierung zu bilden. Doch die Koalitionsbildung gestaltet sich | |
komplizierter, als der [1][Comeback-Ministerpräsident] wohl erwartet hatte. | |
Bis Sonntagnacht hat er noch Zeit, dann läuft die Frist aus. Dass bis dahin | |
seine Regierung steht, würde an ein Wunder grenzen. Er wird wohl um eine | |
Verlängerung bitten müssen. Dann hätte er noch zwei Wochen Zeit. | |
Das liegt zum einen daran, dass die mögliche Koalition zuvor noch eine | |
Reihe von Gesetzen verabschieden muss, um sich als Regierung bilden zu | |
können – beispielsweise muss sie noch ein Gesetz verändern, um den wegen | |
Steuerhinterziehung verurteilten Aryeh Deri überhaupt zum Minister machen | |
zu können. Doch die anstehende Verlängerung rührt auch daher, dass | |
Netanjahu sich genau überlegen muss, wie weit er seine rechtsextremen und | |
reaktionären Koalitionspartner gewähren lassen kann. | |
Netanjahu ist moderater als die rassistischen Köpfe des Wahlbündnisses | |
Religiöser Zionismus und liberaler als die Chefs der ultraorthodoxen | |
Parteien. Vor allem aber weiß er: Die USA sehen der voraussichtlichen | |
Regierung genau auf die Finger. Genauso wie viele säkulare Israelis, die | |
Sorge davor haben, dass ihr Land in Richtung einer undemokratischen | |
Theokratie rutscht. | |
Doch Netanjahu steht in drei Korruptionsfällen vor Gericht, am Ende des | |
Prozesses könnte ein Gefängnisaufenthalt stehen. Fragt man | |
Netanjahu-Gegner*innen, sind sie überzeugt, dass er bereit ist, alles zu | |
tun, um eine Haftstrafe zu verhindern. Seine künftigen Koalitionspartner | |
könnten ihm die nötigen Stimmen geben, um ihm Immunität zu verleihen. Der | |
Prozess würde in diesem Fall möglicherweise ausgesetzt werden, ein Urteil | |
würde in weite Ferne rücken. Und so wird er das Land ausverkaufen, um seine | |
eigene Haut zu retten, glauben seine Kritiker*innen. Die Frage ist: Wie | |
weit wird er dafür gehen? | |
Besonders besorgniserregend ist eine Änderung im Justizsystem unter dem | |
sperrig anmutenden Begriff „Außerkraftsetzungsklausel“. An dieser hat | |
Netanjahu ein ganz persönliches Interesse: Das Oberste Gericht könnte damit | |
die Immunität, die ihm das Parlament gewährt, nicht rückgängig machen. Denn | |
mit dieser Klausel, die sämtliche Koalitionsparteien anstreben, könnte das | |
israelische Parlament Urteile des Obersten Gerichts außer Kraft setzen. Was | |
harmlos klingt, wäre in einem Land, in dem das Oberste Gericht die einzige | |
Kontrollinstanz für das Parlament darstellt, ein dramatischer Schritt. Die | |
israelische Rechtsanwaltskammer sieht darin eine akute Gefährdung der | |
Demokratie. | |
„Menschenrechte wären lediglich ein Gefallen“ | |
Israel würde damit den Weg in eine Autokratie à la Ungarn ebnen, erklären | |
andere Kritiker*innen. „Minderheiten hätten mit der Klausel keinen | |
wirksamen Schutz vor der Mehrheit“, so Amir Fuchs, leitender Wissenschafter | |
des [2][Israelischen Demokratieinstituts] gegenüber der taz: „Und | |
Menschenrechte wären lediglich ein Gefallen, der die Regierung den | |
Minderheiten gewähren könnte – oder auch nicht.“ Einmal eingeführt, dür… | |
die Außerkraftsetzungsklausel das Gesicht Israels grundlegend verändern. | |
„Ich mache mir große Sorgen, dass dieser Schritt irreversibel wäre“, sagt | |
Fuchs: „Wenn jemand erst einmal absolute Macht hat, ist es | |
unwahrscheinlich, dass er sich dazu entscheidet, sie wieder abzugeben.“ | |
Die Ultraorthodoxen hoffen mit der Klausel ihre religiösen Anliegen | |
problemlos durchbringen zu können. Etwa, dass streng religiöse Männer | |
weiterhin ganztags in den jüdischen Hochschulen (Jeschiwa) lernen können | |
und vom Dienst in der Armee befreit sind. Itamar Ben-Gvir von der Partei | |
Jüdische Kraft und Bezalel Smotrich vom Religiösen Zionismus könnten so auf | |
einen Durchmarsch in Sachen Annexion des Westjordanlandes hoffen. | |
Doch auch die geplante Aushöhlung des Erziehungsministeriums macht vielen | |
Sorgen. Um möglichst viele Brocken an seine Koalitionspartner verteilen zu | |
können, zerlegt Netanjahu das Erziehungsministerium in Einzelteile. | |
Ein Sturm der Entrüstung braust durch die Schulen, seitdem Netanjahu | |
ankündigte, den Chef der rechtsextremen Partei Noam, Avi Maoz, mit einem | |
vom Erziehungsministerium ausgelagerten Bereich zu betrauen. Der streng | |
religiöse und nationalistische Maoz ist für seine reaktionären Slogans | |
bekannt und in seinen Entscheidungen in erster Linie seinem Rabbi, Zvi | |
Thau, verpflichtet, den einige Frauen kürzlich wegen Vergewaltigung | |
angezeigt haben. | |
Maoz wäre mit der Ernennung verantwortlich für Lehrtätigkeiten oder | |
Vorträge an Schulen, zu denen extern eingeladen wird. Außerdem soll Maoz | |
Chef der Abteilung „Nationale Jüdische Identität“ werden. Seine Agenda | |
liest sich wie ein Pamphlet für eine Rückkehr ins Mittelalter: den | |
Jerusalemer Pride-March abschaffen, Initiativen zu Gendergerechtigkeit des | |
bisherigen Erziehungsministeriums absägen, Abbildungen von Nacktheit in der | |
Kunst verbieten, Konversionstherapie für Homosexuelle, Geschlechtertrennung | |
auf öffentlichen Veranstaltungen. | |
„Die extremsten und gefährlichsten Personen der israelischen Gesellschaft | |
werden die Erziehung unserer Kinder dominieren“, warnte der noch amtierende | |
Ministerpräsident Jair Lapid am Dienstag vor der Knesset. Mehr als 200 | |
palästinensisch-israelische und jüdische Schulleiter*innen | |
unterschrieben eine Petition gegen Maoz’ Beauftragung. Netanjahu versuchte | |
die Wogen zu glätten, versprach, dass der Pride-March nicht angetastet | |
werde. Maoz’ Ernennung an sich bleibt jedoch bestehen. | |
[3][2022 ist das blutigste Jahr] seit Langem in diesem Landstrich. Mehr als | |
210 Palästinenser*innen sind in diesem Jahr durch israelisches Feuer | |
getötet worden; mehr als 30 Israelis durch Anschläge von | |
Palästinenser*innen. Die Palästinensische Autonomiebehörde, so warnte der | |
israelische Innengeheimdienst den Wahlsieger Netanjahu, verliere immer mehr | |
die Kontrolle über die Bevölkerung und stehe kurz vor dem Zusammenbruch. | |
Ein Funke könnte genügen, um die Lage komplett zu eskalieren. | |
Kein guter Moment, um Itamar Ben-Gvir zum Minister für nationale | |
Sicherheit zu machen, befinden auch große Teile des Sicherheitsapparates, | |
die den Plänen der voraussichtlich neuen Regierung mit Sorge entgegensehen. | |
Auch der frühere Armeechef Gadi Eisenkot, Abgeordneter für die | |
Mitte-rechts-Partei Nationale Einheit, rief die israelische Bevölkerung in | |
einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Jedi’ot Acharonot dazu | |
auf, in Massen auf die Straßen zu ziehen, wenn Netanjahu die israelische | |
Sicherheit und Demokratie gefährden sollte. | |
Und eine Gefährdung der Sicherheit wäre es in Eisenkots Augen wohl, sollte | |
Ben-Gvir tatsächlich die Geschicke der Polizei lenken – ausgerechnet der | |
Mann, der wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilt | |
wurde, und den das israelische Militär für zu gefährlich hielt, um | |
Wehrdienst zu absolvieren. Außerdem hat Netanjahu ihm in einer großzügigen | |
Geste noch die Grenzpolizei im Westjordanland versprochen. Diese unterstand | |
bislang dem Kommando des Militärs und des Verteidigungsministeriums. | |
„Es wäre kompletter Wahnsinn“, kommentiert der Sprecher der | |
Nichtregierungsorganisation ehemaliger Soldat*innen Breaking the | |
Silence, Ori Givati, gegenüber der taz. „Wenn Ben-Gvir die Grenzpolizei | |
kontrollieren sollte, wären zwei bewaffnete Kräfte am gleichen Ort, die | |
unterschiedlichen Kommandos gehorchen. Ben-Gvir, selber ein gewalttätiger | |
Siedler, hätte damit faktisch eine Privatarmee, deren Aktionen er nicht mit | |
dem israelischen Militär absprechen muss.“ | |
Eskalationsgefahr am Tempelberg | |
Ergänzt würde die explosive Personalwahl durch den rechtsextremen Bezalel | |
Smotrich von der Partei Religiöser Zionismus. Der soll nicht nur das Amt | |
des Finanzministers erhalten. An ihn sollen auch Teile des | |
Verteidigungsministeriums ausgelagert werden, nämlich die Übersicht über | |
zivile Angelegenheiten in der Westbank. Die Folgen dürften sein: mehr | |
Abrisse von Häusern von Palästinenser*innen, rasant voranschreitender | |
Siedlungsbau sowie eine schnelle Legalisierung der bisher auch unter | |
israelischem Recht illegalen Siedlungen, den sogenannten Außenposten. | |
Mit Sorge betrachten Nichtregierungsorganisationen wie Ir Amim und Peace | |
Now auch den Konflikt um den Tempelberg. Itamar Ben-Gvirs Partei Jüdische | |
Kraft ist bekannt dafür, den Status quo auf dem Plateau, auf dem heute die | |
Al-Aqsa-Moschee steht, verändern und dort Gebete für Jüdinnen und Juden in | |
großem Maßstab erlauben zu wollen. | |
Eine Eskalation mit den Palästinenser*innen und der Hamas, die sich | |
vom Gazastreifen aus die Verteidigung des Tempelbergs auf die Fahnen | |
geschrieben hat, wäre in einem solchen Fall vorprogrammiert. Allerdings hat | |
sich Ben-Gvir in den letzten Wochen mit diesem Thema zurückgehalten. Ob aus | |
taktischen Gründen oder weil er tatsächlich von Veränderungen absehen wird, | |
ist schwer zu sagen. Fest steht: Als Minister für nationale Sicherheit wäre | |
er für die Sicherheitskräfte auf dem Tempelberg zuständig. | |
Viele der um die Demokratie des Landes besorgten Israelis kokettieren | |
derweil damit, sie würden von nun an Musik statt Nachrichten hören. | |
Tatsächlich verfolgen aber die meisten jeden Schritt Netanjahus im Versuch, | |
seine Regierung zusammenzuzimmern, sehr genau. Was nun folgt – eine Welle | |
von Massenprotesten, Resignation oder ein Exodus ins Ausland – ist schwer | |
abzusehen. Dabei wird es wohl genau auf sie ankommen – und auf die | |
internationale Staatengemeinschaft. | |
8 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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