# taz.de -- Militär in Israel: Reservisten wollen nicht mehr | |
> In Israel wird der Konsens der Wehrpflicht in Frage gestellt – und auch | |
> in Deutschland hat sich die Einstellung zur Armee geändert. | |
Bild: Reservisten der israelischen Armee blockieren eine Straße aus Protest ge… | |
Der Protest gegen den Plan, Israel in eine Diktatur zu verwandeln, hat eine | |
neue Stufe erreicht. Neben aggressiven [1][Konfrontationen mit der Polizei] | |
gaben komplette Einheiten von Reservisten bekannt, dass sie sich nicht mehr | |
zum Dienst einfinden würden, wenn man sie ruft. Damit bekam der | |
verbreitetste Konsens in [2][Israel] einen Riss: der Armeedienst. Der | |
Wehrdienst sollte stets „über der Politik“ stehen. Jetzt erschüttert die | |
Politik selbst diese ungeschriebene Regel. | |
Parallel zu diesen Entwicklungen stellen auch in Deutschland die aktuellen | |
geopolitischen Veränderungen eine bisher weit verbreitete Einstellung zur | |
Armee auf den Kopf. Folge dreier Kriege – zweier Weltkriege und des Kalten | |
Kriegs – war eine tiefe Verachtung jeglichem Militarismus gegenüber. Weite | |
Teile der deutschen Gesellschaft wurden zu [3][Pazifisten]. Entsprechend | |
reduzierte man die Armee auf das Minimum, und Deutschland wurde zu einer | |
Wirtschaftsmacht ohne wirklich schlagkräftige Armee. Dieses Modell bekam | |
infolge des Balkankriegs und der amerikanischen Invasion in Afghanistan | |
erste Macken, doch erst jetzt, infolge des Dramas, das sich in der Ukraine | |
abspielt, ändert es sich grundsätzlich. Viele Deutsche merken, dass die | |
pazifistische Haltung nicht länger mit moralischer Verantwortung vereinbar | |
ist. So ist die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz, 100 Milliarden | |
Euro in die Modernisierung der Armee zu investieren, nicht nur eine | |
pragmatische Entscheidung angesichts der neuen Gefahrenlage, sondern sie | |
hat auch eine moralische Seite. | |
Ich muss zugeben, dass mir als Sohn von Holocaustüberlebenden Namen wie | |
„Einheit zur Verteidigung des Vaterlands“ oder der Begriff „Führungsmach… | |
wie ihn Ex-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht erwähnte, Unbehagen | |
verschaffen. Ebenso stimmten mich die Nachrichten über Sympathie für die | |
radikalen Rechten in den Reihen bestimmter Armeeeinheiten nicht gerade | |
froh. Doch auch in Israel tendiert ein großer Teil junger Soldaten dazu, | |
sich mit rechten Parteien zu identifizieren, die mindestens so radikal sind | |
wie die in Deutschland, wenn nicht noch radikaler. Es sind die Reservisten | |
– die älteren – nicht die jungen Soldaten, die ihren Widerstand gegen die | |
Regierung zum Ausdruck bringen. | |
Einem Artikel in der Los Angeles Times entnahm ich, dass bei einer | |
Veranstaltung zur Anwerbung junger Soldaten Rockmusik gespielt und über | |
universale Werte gesprochen wurde. Das ist komplett verschieden zu dem | |
religiös-nationalistischen Ton, der die militaristische Rhetorik ausmachte, | |
als ich selbst Rekrut war. Später fand ich mich zum Glück in einer Einheit | |
von komplett weltlichen Computer-Nerds wieder. Derselbe Artikel berichtet | |
über deutsche Soldaten, die vor zwei Jahren im Rahmen einer Nato- | |
Militärübung in Litauen marschierten und dabei ein Lied zu Ehren von | |
Hitlers Geburtstag sangen. | |
Assoziationen sind eine schwer beherrschbare Angelegenheit, und so drängt | |
sich mir der Gedanke auf, dass die Wehrmacht 1941 auch in Litauen | |
marschierte, was die Welt meines Vaters, der damals ein jüdischer Junge in | |
der Stadt Kaunas war, ins Wanken geraten ließ. Sich den Assoziationen zu | |
ergeben, wäre eine irrationale Fixierung. Historische Kontinuität hat einen | |
Sinn, und so sollte auch die Verantwortung, die sich daraus ergibt, Sinn | |
machen. Wer aber nicht wahrhaben will, dass sich die Realität verändert, | |
der ist blind und böse. Deutschland heute ist weit weg vom Deutschland | |
damals – weiter noch als das heutige Israel. So ist die Befehlsverweigerung | |
der israelischen Reservisten völlig einleuchtend, und genauso einleuchtend | |
ist die Notwendigkeit, das deutsche Militär aufzurüsten. | |
Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul | |
11 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Hagai Dagan | |
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