Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abkehr vom Pazifismus: Schwerter und Pflugscharen
> In der DDR-Friedensbewegung demonstrierte unser Autor für den
> Weltfrieden. Heute ist er überzeugt, dass die Freiheit auch mit Waffen
> verteidigt werden muss.
Bild: Russischer Angriff auf Cherson am 24.12.2022
Den Wehrdienst habe ich 1987 „aus Glaubens- und Gewissensgründen“ total
verweigert. Das Einschreiben an das Wehrkreiskommando meiner Geburtsstadt
Burg bei Magdeburg ist auf den 5. Februar 1987 datiert. Den
Einlieferungsschein habe ich noch. Hätte ich den Einberufungsbefehl
erhalten, hätten mich zwei Jahre Knast erwartet. Es kam nicht dazu. Ich war
22 Jahre alt und ich dachte, dass mein Pazifismus ein Leben lang halten
würde. Seit dem 24. Februar 2022 ist das vorbei. Die Ukraine muss sich
verteidigen können, mit allen Mitteln, und der Westen muss sie
unterstützen, auch militärisch.
Der Pazifismus der achtziger Jahre war eine klare Angelegenheit: Es ging
darum, den Atomkrieg zu verhindern. Ein falscher Befehl, ein Irrtum, und
das Leben wäre vorbei gewesen. Meine Freunde im Westen demonstrierten gegen
die Pershings, wir protestierten gegen die sowjetischen Raketen und den
Militarismus, der im „Friedensstaat DDR“ selbst Kindergärten nicht
verschonte. Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ war unser Symbol. Sah
ich Soldaten, dachte ich an Wolf Biermanns Verse: „Soldaten seh’n sich alle
gleich, lebendig und als Leich'!“ Es gab Momente, da glaubte ich, die Welt
würde bald im Atomtod verglühen. Das Gefühl, einer letzten Generation
anzugehören, gibt es nicht erst seit heute.
Es ging um den Weltfrieden, die Freiheit blieb ausgeklammert. Dass ich in
einem ziemlich kleinen, eingezäunten Staat leben würde, damit hatte ich
mich abgefunden. Ein Ausreiseantrag kam für mich nicht infrage. „Bleibe im
Lande und wehre dich täglich!“, war die Devise. Meine Zukunft sah ich als
evangelischer Pfarrer, für mich der einzig sinnhafte Beruf in diesem Staat.
Über Besuch von Gleichgesinnten aus dem Westen freute ich mich. Seltsam
fand ich allerdings, wenn mir jemand von ihnen erklärte, dass die deutsche
Teilung eben der Preis dafür sei, dass Hitler Krieg und Vernichtung über
Europa gebracht hat.
Wladimir Putin überzieht jetzt die gesamte Ukraine mit Krieg. Der russische
Präsident will das Nachbarland unterwerfen, weil er mit dessen Kurs nicht
einverstanden ist. Die Ukraine drängt nach Westen. Zweimal haben sich die
Menschen erhoben, 2004/05 in der Orangenen und 2014 in der
Maidan-Revolution. Sie wollen das Erbe der Sowjetunion endgültig
abschütteln. Und das nicht nur im Westteil des Landes. Auch eine Mehrheit
im Osten hat vor Jahren schon die Mitgliedschaft in der EU befürwortet. Als
der Wahlfälscher von 2004, Viktor Janukowitsch, im zweiten Anlauf 2010 zum
ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, flog der Mann aus dem Donbass nach
seiner Amtseinführung zuerst nach Brüssel, nicht nach Moskau.
Seit 2005 habe ich zwei Reiseführer über die Ukraine geschrieben. Ein
dritter sollte über die Krim entstehen. Während meiner Recherche war ich
oft bei Krimtataren zu Gast. Sie sind in den neunziger Jahren in ihre
Heimat zurückgekehrt, von wo aus Stalin sie 1944 hatte deportieren lassen,
angeblich wegen Kollaboration mit den Deutschen. In Wahrheit wollte Moskau
die Krim ungestört zu einer gewaltigen Militärbasis ausbauen. Ich habe dort
weltoffene Muslime kennengelernt, die sich mit Gästezimmern, Pensionen und
– eine Seltenheit auf der Krim – stilvollen orientalischen Restaurants eine
neue Existenz schufen.
## Blick über den Fernsehturm
Der Reiseführer ist nie erschienen. 2014 annektierte Russland die Krim. Die
Krimtataren, die das „Referendum“ im März 2014 boykottierten, stehen
seitdem unter Generalverdacht, viele von ihnen sind im Gefängnis, andere
leben im Exil. Bei der russischen Teilmobilmachung im Oktober 2022 wurden
krimtatarische Männer besonders häufig eingezogen. Es ist, als hätte sich
ein fataler Kreis geschlossen: Die Halbinsel ist erneut hinter dem Eisernen
Vorhang versunken. Jetzt soll die gesamte Ukraine folgen.
In Berlin überquere ich, jedes Mal, wenn ich zur taz fahre, den alten
Grenzstreifen. Nicht dass mir dabei ständig das Herz hüpfen würde, doch in
letzter Zeit erinnere ich mich wieder häufiger an das halbierte „Berlin,
Hauptstadt der DDR“. Als Halbwüchsiger fand ich den Fernsehturm nur aus
einem Grund interessant: Er gab den Blick frei übers Brandenburger Tor.
Jedes Flugzeug, das in Richtung Flughafen Tegel einschwebte, jeder gelbe
Doppelstockbus der Berliner Verkehrsgesellschaft BVG am Großen Stern, jeder
Radiohit von Rias 2 – alles klang, leuchtete und roch nach Freiheit.
Freiheit, was ist das? Über sich selbst bestimmen – über Bücher, Lieder,
Glauben, Klamotten, über Gedanken, über das eigene Ich. Das war der Traum,
mein Traum. Die Wirklichkeit finde ich heute noch in meinen alten
Schulaufsätzen. „Meine Jugendweihefeierstunde. Ein Erlebnis, das mich sehr
beeindruckt hat.“ Oder: „Leben wie Pawel Kortschagin?“, der jugendliche
Bolschewik aus dem Sowjetroman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai
Ostrowski. In meiner eigenen Handschrift zu lesen, wie ich mich mit
vierzehn verbogen habe, tut weh.
Putins Russland ist heute das, was die Sowjetunion, was auch die DDR war –
eine Diktatur. Ihre Merkmale: Verfolgung von Oppositionellen, Unterdrückung
der Meinungsfreiheit, Überwachung, politische Justiz, Verschleppung,
Zwangsadoption, politischer Mord. Damals reichte die staatliche Willkür in
jeden Winkel unseres Alltags: In einem Nachbardorf kam ein Mädchen, keine
achtzehn Jahre, ins Gefängnis. Warum? Sie wollte Michael Jackson sehen und
hatte sich in einem Zug Richtung Westen versteckt. Ein Staat, der solche
Träume zerstört, verdient keine Zukunft.
## Ein Gedankengebäude aus Hass und Selbstmitleid
Wladimir Putin folgt anderen Träumen. Er will aus den Trümmern der
Sowjetunion und des Zarenreichs ein Imperium wiederbeleben, das der
orthodoxe Patriarch Kyrill I. zum Bollwerk der Heiligen Rus gegen
westlichen Verfall und „Gayropa“ verklärt. Der Baustoff dieser
Gedankengebäude sind Hass und Selbsthass, Kränkung, Gewalttätigkeit,
Selbstmitleid. Wie es wirklich um die „Heilige Rus“ und ihre Bewohner
bestellt ist, steht in „Secondhand-Zeit“ beschrieben. Das Buch der
belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist ein auf jeder
Seite bitteres Psychogramm des Homo Sovieticus.
Anfang der neunziger Jahre konnte man in Moskau merkwürdige Gestalten
beobachten: Die „Rot-Braunen“ waren halb Rechtsextreme, halb Kommunisten
und trugen gleichzeitig Stalin- und Zaren-Bilder vor sich her, irgendetwas
Erhabenes herbeisehnend. Heute ist diese rot-braune Melange offizielle
Kremlpolitik, und das Gegenteil von dem, was unser Leben im
wiedervereinigten Deutschland ausmacht. Sein Kern ist die Freiheit.
Dass die Menschen in der Ukraine die Freiheit anstreben, überrascht mich
nicht. Dass Wladimir Putin das verhindern will, auch nicht. Nach einem Jahr
russischer Invasion ist völlig offen, ob es die [1][Ukraine als souveränen
Staat] noch lange geben wird. Es ist in unserem Interesse, dieses Land zu
unterstützen. Aber nicht nur das. Es geht um Glaubwürdigkeit. Wollen wir
den Krimtataren, den Menschen im ausgeplünderten Cherson, den Hippies von
Lwiw erklären, dass sie wieder einmal Pech haben? Dass sie ihr Schicksal zu
erdulden hätten als Preis für einen Frieden mit einem Kremlherrn, der schon
mehrfach mit der Atombombe gedroht hat? In Deutschland kursiert ein
„Manifest für Frieden“, das mit viel [2][pazifistischer Rhetorik] genau
darauf abzielt. Es ist ein Dokument der Angst – und der Eiseskälte.
Wer sollte Wladimir Putin die Stirn bieten, wenn nicht die westlichen
Staaten? Die Ukraine muss sich verteidigen und wir sollten sie
unterstützen, auch mit Panzern. Das zu schreiben, deprimiert, denn es
bleiben Tötungsmaschinen. Wie zuversichtlich habe ich das Zerbrochene
Gewehr am Parka getragen, das mir Freunde aus dem Westen mitbrachten. Und
wie sehr ist mein Leben mit Russland verwoben, meine Kinder sind
binational, russisch und deutsch. Doch solange die Ukraine um das kämpft,
was wir haben und beschützen sollten, die Freiheit, so lange ist Pazifismus
keine Lösung mehr.
25 Feb 2023
## LINKS
[1] /Debatte-um-Verhandlungen-im-Ukrainekrieg/!5913766
[2] /Friedensappelle-im-Ukrainekrieg/!5914128
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Pazifismus
Friedensbewegung
DDR
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Israel
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schlagloch
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Krieg in der Ukraine: Rückendeckung von links
Auch die Politik der Ukraine ist streckenweise zu kritisieren. Das Recht
auf Selbstbestimmung und Verteidigung besteht dennoch unbesehen.
Militär in Israel: Reservisten wollen nicht mehr
In Israel wird der Konsens der Wehrpflicht in Frage gestellt – und auch in
Deutschland hat sich die Einstellung zur Armee geändert.
Friedensdemos am Wochenende: Rechtsaußen bleibt draußen
Am Wochenende finden zahlreiche Demos gegen den Ukrainekrieg statt. Bei
manchen mischen Rechte mit. Doch viele Veranstalter grenzen sich klar ab.
Friedensappelle im Ukrainekrieg: Blinder Pazifismus
Sofortige Friedensverhandlungen? Die aktuellen Aufrufe dazu sind gut
gemeint. Allerdings blenden sie die Realität aus: Putin ist nicht zu
trauen.
Debatte um Verhandlungen im Ukrainekrieg: Habermas unterschlägt die Risiken
Der Philosoph Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen zwischen der
Ukraine und Russland. Doch sein Vorschlag steckt voller Widersprüche.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.