| # taz.de -- Debatte um Verhandlungen im Ukrainekrieg: Habermas unterschlägt di… | |
| > Der Philosoph Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen zwischen der | |
| > Ukraine und Russland. Doch sein Vorschlag steckt voller Widersprüche. | |
| Bild: Nach der Befreiung Chersons: Putin-Porträt in einem russischen Gefangene… | |
| Vor einigen Tagen erschien in der Süddeutschen Zeitung ein [1][„Plädoyer | |
| für Verhandlungen“] von Jürgen Habermas. Darin fordert der Soziologe | |
| „rechtzeitige Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch | |
| mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine | |
| ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um | |
| nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, | |
| die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen“. | |
| Mit seinem Plädoyer möchte Habermas nach eigenem Bekunden die „allmählich | |
| einsetzende Diskussion über Sinn und Möglichkeit von Friedensverhandlungen“ | |
| befördern. Man wünschte sich indes genauere Aussagen, worüber dann mit wem | |
| verhandelt werden soll. | |
| Die Wiederherstellung des Status quo ante vom 23. Februar 2022 zieht | |
| Habermas faktisch nicht mehr in Betracht. Sein Votum läuft, wie diverse | |
| „offene Briefe“, darauf hinaus, die Annexion der Krim zu bestätigen und | |
| Geländegewinne der russischen Armee im Donbass hinzunehmen. Dank dieser | |
| neuen Grenzziehung sei „nicht von vornherein auszuschließen, dass auch für | |
| die einstweilen einander diametral entgegengesetzten Forderungen ein für | |
| beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden könnte“, meint | |
| Habermas. Nichts, aber rein gar nichts deutet darauf hin. Über tote Russen | |
| trauert nur die hiesige Friedensbewegung, dem Kreml sind sie völlig | |
| gleichgültig. | |
| ## Die Ukraine ist undenkbar als amputierte Nation | |
| Habermas’ Vorschläge werden in der Ukraine und bei der sie stützenden | |
| Solidaritätsbewegung im Westen auf entschiedene Ablehnung stoßen. Denn sie | |
| sind widersprüchlich: Echte Sicherheitsgarantien des Westens, die er | |
| fordert, sind jenseits der Budapester oder Minsker Floskeln nur mit einem | |
| Nato-Beitritt der Ukraine erreichbar beziehungsweise durch die Aufnahme der | |
| Ukraine in die Europäische Union, die analoge Beistandspflichten mit sich | |
| bringt, sollte der imperiale Aggressionshunger Putins wieder zunehmen. | |
| Die Ukraine ist undenkbar als amputierte Nation und neutraler Pufferstaat | |
| zwischen Ost und West; zu garantieren ist ihre Integrität und | |
| Unabhängigkeit nur als westliche Bündnisnation. Aber genau um das zu | |
| verhindern und den „kollektiven Westen“ nicht an Russlands Grenzen | |
| auszudehnen, war Putin über das Land hergefallen! | |
| ## Russland wird Kiews Nachbar bleiben | |
| Wofür soll Putin sein eigentliches Ziel beerdigen: die „Entnazifizierung“ | |
| der Ukraine und die Wiedergeburt der imperialen „russischen Welt“? Genauso | |
| wenig, wie Wolodimir Selenski eine Kapitulation politisch überleben dürfte, | |
| würde Wladimir Putin einen Pyrrhussieg überstehen. Habermas unterschlägt, | |
| dass sein Verhandlungsfokus keine geringeren Risiken für Deutschland und | |
| den Westen beinhaltet als die Positionen der von ihm leichtfertig | |
| angegriffenen „Bellizisten“, die übrigens zwischen militärischer | |
| Unterstützung und diplomatischen Verhandlungen keinen starren Gegensatz | |
| aufmachen. | |
| Was Habermas wie meist auch die Solidaritätsbewegung mit der Ukraine | |
| übergeht: Nicht mehr Putin, wohl aber Russland wird Kiews Nachbar bleiben. | |
| Verhandeln muss man also vor allem mit der russischen Opposition. | |
| Jedes Regime nach Putin wird daran gemessen werden, inwieweit es die | |
| Kriegsschuld Russlands anerkennt und Putin und seine Kamarilla einem | |
| Tribunal überantwortet. | |
| ## Pessimisten erwarten die nächste Diktatur | |
| Ein Regimewechsel erschöpft sich nicht in der Auswechslung der Person | |
| Putins und der Einsetzung eines kongenialen Autokraten. Die | |
| Demokratisierung Russlands darf sich nicht (wie 1991ff.) auf die Abhaltung | |
| von regelmäßigen Wahlen ohne normativen und institutionellen Unterbau | |
| beschränken. Zur Auflösung des tiefen Staats gehören die Teilung der | |
| Gewalten, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse und die Garantie der | |
| Bürgerfreiheiten. | |
| Dafür ist Russland ob seiner jahrzehntelangen autoritären Tradition noch | |
| weniger bereit als das Deutsche Reich im Jahr 1945. Zu schwach waren in | |
| Russland liberale Strömungen, an die anzuknüpfen wäre – von den adligen | |
| Reformern der 1860er Jahre über die Februarrevolution 1917 bis zu den | |
| Reformern der Perestroika und der Jelzin-Jahre. | |
| Die große Unbekannte ist, inwieweit Kräfte in der russischen Bevölkerung | |
| und im Exil heute eine Perspektive „nach Putin“ überhaupt erwägen und | |
| konkret in Angriff nehmen. Die Opposition ist seit Jahren dezimiert worden, | |
| das faktische Kriegsrecht und die an den Stalinismus erinnernde | |
| weltanschauliche Mobilisierung haben ein Übriges getan. Zudem haben die | |
| meisten Russinnen und Russen jetzt „andere Sorgen“. Pessimisten erwarten im | |
| Fall eines Sturzes von Putin eher die nächste, womöglich noch härtere | |
| Diktatur. | |
| ## Pläne schmieden für den Tag danach | |
| Seitens des Westens muss man dennoch jeden noch so kleinen Keim des | |
| Widerstands fördern, mit der Aufnahme russischer Oppositioneller, mit dem | |
| Aufbau von Nachwuchskräften bis hin zu einer Exilregierung, mit der | |
| Fortführung wissenschaftlicher und kultureller Kontakte, wo immer sie noch | |
| möglich sind oder wieder werden. Der russischen Gesellschaft müssen | |
| Alternativen einleuchten, die das Land in die „Gemeinschaft der Völker“ und | |
| in die weltweiten Bemühungen um Klima- und Artenschutz zurück- und an | |
| alternative Energiequellen und Wirtschaftsweisen heranführen. | |
| Der deutsche und europäische Widerstand war in den 1940er Jahren von Hitler | |
| ebenso marginalisiert, wie Kritiker Putins es heute sind. Er konnte | |
| ungeachtet seiner hoffnungslosen Lage jedoch Pläne schmieden für den Tag | |
| danach, den die meisten Zeitgenossen für völlig „undenkbar“ hielten. | |
| Gleichwohl wurden diese Pläne zu einem beträchtlichen Teil in einem freien | |
| Europa unter Einschluss der Westdeutschen verwirklicht. | |
| Auch wenn eine bilaterale Zukunft der beiden kriegführenden Länder utopisch | |
| erscheint, darf eine mittelfristige Kooperation zwischen ihnen so wenig | |
| ausgeschlossen bleiben wie die einst für ebenso unmöglich gehaltene | |
| Verständigung zwischen den deklarierten „Erbfeinden“ Deutschland und | |
| Frankreich im Rahmen eines freien Europas. Einstweilen wird man alles | |
| daransetzen müssen, dass die Ukraine den Frieden gewinnt. | |
| Daniel Cohn-Bendit ist Politiker von Bündnis 90/Die Grünen | |
| Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler | |
| 19 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukrain… | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Cohn-Bendit | |
| Claus Leggewie | |
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