# taz.de -- Israels Protestbewegung: Wo ist der Gegenentwurf? | |
> Israels Protestbewegung muss solidarisch sein mit den | |
> Palästinensern. Und mit dem Interesse der jüdischen Bürger an einem | |
> Leben in Sicherheit. | |
Bild: Protest gegen den Siedlungsbau nahe dem palästinensischen Dorf Beit Daja… | |
Es gab im israelischen Parlament, der Knesset, einen symbolischen Moment an | |
diesem für die Geschichte Israels denkwürdigen 24. Juli 2023. In | |
Live-Aufnahmen der Plenardebatte zur Abschaffung der sogenannten | |
„Angemessenheitsklausel“, mit der das israelische [1][Oberste Gericht] | |
bisher Regierungsentscheidungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem | |
Interesse der Allgemeinheit kassieren konnte, ist zu sehen, wie | |
Verteidigungsminister Yoav Gallant vehement auf Justizminister Yariv Levin, | |
den Architekten dieser radikalen Schwächung des Justizsystems, einredet. | |
Levin solle wenigstens einen der unzähligen Einwände der Opposition in den | |
Gesetzestext aufnehmen, um zumindest ein kleines Entgegenkommen zu | |
signalisieren. „Gib ihnen doch etwas!“, sagt Gallant mehrmals. Levin | |
beharrt darauf, dass der Gesetzesentwurf genau so durchgehen werde. | |
Zwischen den beiden sitzt Premierminister Benjamin Netanjahu, scheinbar | |
geistig abwesend, als ob ihn das alles nichts angehen würde. Er lässt die | |
beiden munter auf offener Bühne streiten, während er parallel einen | |
weiteren Einwand der Opposition mit seiner Stimme ablehnt. Kurze Zeit | |
später steht er kommentarlos von seinem Sitzplatz auf und verlässt den | |
Plenarsaal. | |
Dieses Video lief am Abend [2][nach der Abschaffung der | |
„Angemessenheitsklausel“], die trotz monatelanger, bisher nie dagewesener | |
Proteste der israelischen Bevölkerung durchgesetzt wurde, in allen | |
Hauptnachrichtensendungen des Landes. Der Tenor: Netanjahu habe sein | |
politisches Schicksal in die Hände der antidemokratischen Hardliner seiner | |
Regierung gelegt. Es seien diese Kräfte, die den radikalen, unilateralen | |
Umbau Israels von einer liberalen, funktionierenden Demokratie mit einer | |
dynamischen Wirtschaft in eine Diktatur vorantreiben würden. | |
Die zunehmend fassungslosen Journalist:innen sprachen von der | |
„Verantwortungslosigkeit“ Netanjahus im Hinblick auf die nationale | |
Sicherheit sowie die finanzielle Stabilität des Landes. Er sei bereit, | |
Israel „in den Abgrund zu führen“ – trotz des Drucks der israelischen | |
Armeereservisten, trotz drohender Herabstufungen durch internationale | |
Ratingagenturen und vor allem trotz der [3][deutlichen Kritik der | |
US-Regierung]. | |
## Bauboom in den Siedlungen | |
Was in der gegenwärtigen liberalen Medienlandschaft (mit wenigen Ausnahmen) | |
in Israel zu wenig Beachtung findet: Die zentralen Akteure beim anvisierten | |
Abbau der demokratischen Schranken des israelischen Staates sind ebenfalls | |
treibende Kräfte der nationalreligiösen Siedler:innenbewegung. Sie | |
übertragen dabei ihre antidemokratischen Überlegenheitsvorstellungen aus | |
dem Westjordanland auf das israelische Kernland. | |
Gleichzeitig eskaliert die Gewalt von Siedler:innen gegenüber | |
Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten unter Duldung der | |
israelischen Armee, wie etwa beim Überfall auf das Dorf Huwara im Frühjahr | |
2023 oder in Umm Safa im vergangenen Juni. Als Finanzminister ist der | |
Siedler Smotrich zudem für die massive Umschichtung von Steuergeldern aus | |
dem israelischen Kernland in die völkerrechtswidrigen Siedlungen | |
verantwortlich, was dort unter anderem zu einem regelrechten Bauboom führt. | |
Es ist gleichzeitig wichtig zu betonen, dass es zahlreiche | |
Interessengruppen in dieser Regierung gibt (etwa die Ultraorthodoxen, die | |
Mizrachim), die aus unterschiedlichsten Gründen die radikale Schwächung des | |
Justizsystems unterstützen. Doch keine Gruppe benötigt die Abschaffung der | |
unabhängigen Gerichtsbarkeit für ihre Ziele so sehr wie die | |
Siedler:innen-Bewegung. | |
Wegen dieser Verknüpfungen sprechen Akteur:innen des „Blocks gegen die | |
Besatzung“, darunter „Breaking the Silence“ und „Standing Together“, … | |
Kontext der Antiregierungsproteste von der „Siedler-Revolution“. Ihr Ziel | |
ist es, die Mehrheit der Protestbewegung davon zu überzeugen, dass es keine | |
„Demokratiebewegung“ ohne die Auseinandersetzung mit der 56 Jahre | |
andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete geben könne. | |
## Die nächsten Monate entscheiden | |
Die nächsten Monate werden entscheidend sein für die politisch heterogene | |
Protestbewegung. Die zentrale Frage ist, ob es ihr gelingen wird, einen | |
programmatischen Gegenentwurf zu den rechtsautoritären Plänen der Regierung | |
zu entwickeln, der einerseits die Mehrheit der Bewegung hinter sich | |
versammelt, andererseits aber auch mutig genug ist, um den oben | |
beschriebenen ideologischen Ursprung dieser rechtsautoritären Agenda zu | |
benennen. | |
Bisher sieht es jedoch nicht danach aus: Erst am vergangenen | |
Demo-Wochenende hat eine der Anführerinnen der Protestbewegung, Shikma | |
Bressler, mit Verweis auf Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, der Türkei | |
oder auch Iran öffentlich einen kausalen Zusammenhang zwischen | |
Besatzungslogik und dem derzeit laufenden Umbau des Staates verneint. Dies | |
ist taktisch und auch emotional verständlich. | |
Nichtsdestotrotz ist es wichtig, [4][die Protestziele] in eine integrative | |
politische Botschaft auszuweiten, die neben der Solidarität mit den | |
Palästinenser:innen in Israel und in den besetzten Gebieten auch das | |
legitime Eigeninteresse der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels nach | |
einem Leben in Sicherheit aufnimmt. | |
Weiterhin braucht es eine Verbindung mit der im Land höchst virulenten | |
sozialen Frage (Israel ist eines der OECD-Länder mit den höchsten | |
Einkommensunterschieden) sowie mit dem strukturellen Rassismus innerhalb | |
der israelischen Gesellschaft (gegenüber den palästinensischen | |
Staatsbürger:innen des Landes, aber auch gegenüber marginalisierten | |
Teilen der jüdischen Bevölkerung, etwa den Mizrachim oder den äthiopischen | |
Jüdinnen und Juden), um diese Bevölkerungsgruppen für die Proteste zu | |
gewinnen. | |
Dies klingt in der jetzigen Situation zugegebenermaßen realitätsfern, doch | |
es ist genau diese Realität, die schon eine ganze Zeit lang für die meisten | |
Menschen hier vor Ort untragbar ist. | |
2 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Gil Shohat | |
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