# taz.de -- Justizreform in Israel: Unter Hochdruck | |
> Das Oberste Gericht in Israel könnte den bereits verabschiedeten Teil der | |
> Justizreform wieder kippen. Wird es seine verbliebene Macht nutzen? | |
Bild: Tel Aviv, in der Nacht zum 25. Juli: Die Polizei richtet Wasserwerfer geg… | |
BERLIN taz | Eigentlich sollte sie am Dienstag in Karlsruhe, der deutschen | |
„Stadt des Rechts“, über die israelische Justiz sprechen. Doch kurzfristig | |
musste Esther Hayut, Präsidentin von Israels Oberstem Gerichtshof, absagen. | |
Zu dringlich sind die Aufgaben, die auf die Richterin und ihre Kolleg/innen | |
an dem Jerusalemer Gericht nun zukommen. Im Gezerre um die [1][von der | |
rechtsreligiösen Regierung vorangetriebene Justizreform] könnte dem Gericht | |
eine ganz entscheidende Rolle zukommen. | |
Nachdem das Parlament in Jerusalem am Montag einen ersten Teil der Reform | |
verabschiedet hatte, der das oberste Gericht in seinen Kompetenzen | |
beschneidet, gingen wieder Zehntausende Menschen auf die Straße, um | |
Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen. Die Ärztekammer rief am Dienstag | |
einen Streik aus, und der mächtige Gewerkschaftsverband Histadrut drohte | |
erneut mit einem Generalstreik. In Jerusalem und Tel Aviv war es in der | |
Nacht zu Straßenblockaden und mehreren Dutzend Festnahmen gekommen. | |
Inmitten der Turbulenzen sind die Augen nun auf das oberste Gericht | |
gerichtet: Nicht nur, weil dessen Richterinnen und Richter ein Stück Macht | |
abgeben sollen, sondern vor allem, weil sie ihre verbliebene Macht nutzen | |
könnten, um die Gesetzesänderung vom Montag wieder zu kippen. Das Parlament | |
hatte die sogenannte Angemessenheitsklausel abgeschafft, die dem Gericht | |
die Möglichkeit gab, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen | |
Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen, wenn sie nach Auffassung des | |
Gerichts nicht im Interesse der Allgemeinheit sind. | |
Noch am Montag reichten mehrere Zivilgesellschaftsorganisationen, darunter | |
das Movement for Quality Government (MQG), eine Petition beim obersten | |
Gericht ein und forderten es auf, sich der Sache anzunehmen. Eine weitere | |
Petition reichte am Dienstag die israelische Rechtsanwaltskammer ein. Auch | |
Oppositionsführer Jair Lapid will das Gericht auffordern, tätig zu werden. | |
Zunächst könnten Hayut und ihre Kolleg/innen die Gesetzesänderung nun | |
einfrieren und damit den ersten Teilerfolg der Regierungskoalition unter | |
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vorerst kassieren. | |
## Nochmal kippen wäre schwer vorstellbar | |
Die Argumentation der MQG-Petition zielt darauf ab, dass die Abschaffung | |
der Angemessenheitsklausel gegen die Verfasstheit des Staats verstößt, weil | |
der Schritt „grundlegend die Struktur der parlamentarischen Demokratie | |
verändert“. Die Neuregelung beschädige „das empfindliche Gefüge der | |
Gewaltenteilung und das System der gegenseitigen Kontrolle“ der Gewalten. | |
Eine zweite Argumentationslinie läuft darauf hinaus, dass die | |
Gesetzesänderung zu schnell durch das Parlament gebracht wurde. | |
Ob das oberste Gericht tatsächlich seinen eigenen Kompetenzbeschnitt | |
rückgängig machen wird, weiß indes niemand. Israelische Medien zitierten am | |
Dienstag Expert/innen mit unterschiedlichen Einschätzungen. Der | |
Verfassungsrechtler Amir Fuchs gab sich optimistisch aufgrund „der | |
Verletzung von drei entscheidenden Grundsätzen, die den Kern der | |
demokratischen Identität Israels bilden: Gewaltenteilung, | |
Rechtsstaatlichkeit, Reinheit von Wahlen“. | |
Der Rechtswissenschaftler Yoav Dotan von der Hebrew University in Jerusalem | |
dagegen ließ sich mit den Worten [2][zitieren], es sei „schwer | |
vorstellbar“, dass das Gericht die Gesetzesänderung noch einmal kippt, weil | |
die Hürden dafür sehr hoch seien. | |
## Noch nie funkte der Oberste Gerichtshof dazwischen | |
Denn bei der Abstimmung am Montag ging es nicht um ein einfaches Gesetz, | |
sondern um die Änderung eines von Israels Grundgesetzen, die eine Art | |
Verfassung des Staates darstellen. In der 75-jährigen Geschichte Israels | |
hat der sonst sehr aktive Oberste Gerichtshof noch nie bei der | |
Verabschiedung oder Änderung eines Grundgesetzes dazwischengefunkt. | |
Während die Gesetzesänderung vom Montag lediglich einen Teil der | |
Justizreform darstellt, ist ihre Bedeutung groß. Gleich mehrere israelische | |
Zeitungen erschienen am Dienstag mit einer schwarzen Titelseite und den | |
Worten „Ein schwarzer Tag für die israelische Demokratie“. Denn die | |
Abschaffung der Klausel war nur die erste von mehreren geplanten | |
Gesetzesänderungen, die alle darauf hinauslaufen, die Justiz zu schwächen | |
und staatliche Institutionen stärker nach den Interessen der jeweils | |
regierenden Kräfte auszurichten. | |
Kritiker/innen sorgen sich vor allem, dass der Wegfall der | |
Angemessenheitsklausel die Grundlage schafft, um kritische Stimmen in Bezug | |
auf weitere Reformen auszuschalten. Demnach könnte die Gesetzesänderung es | |
erleichtern, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu entlassen, | |
eine prominente Gegenspielerin Netanjahus und seiner rechten | |
Koalitionspartner. Oppositionspolitiker Lapid warnt: „Sie werden in der | |
Lage sein, alle Hüter der Rechtsstaatlichkeit zu entlassen und sie durch | |
gehorsame und unterwürfige Marionetten zu ersetzen, von der | |
Generalstaatsanwaltin an abwärts.“ | |
Das Parlament geht kommende Woche in die Sommerpause. Ab Oktober will die | |
Regierung weitere Teile der Justizreform vorantreiben, nachdem es zuletzt | |
mehrere Änderungen nicht weiter verfolgt hatte – auch, weil der | |
[3][Widerstand aus der Bevölkerung] zu groß war. | |
25 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Israel-billigt-Teil-der-Justizreform/!5946231 | |
[2] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-07-24/ty-article/.premium/can-the-… | |
[3] /Historiker-ueber-Proteste-in-Israel/!5946719 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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