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# taz.de -- Baerbock und Habeck im Osten: Grüne reisen nach Sachsen
> Die Lage der Grünen im Osten ist prekär. Bei der Sachsen-Tour von Habeck
> und Baerbock bleiben aber direkte Konflikte aus, trotz protestierender
> Nazis.
Bild: Berührungsängste: Grüne Minister*innen Habeck (links) und Baerbock bes…
Dresden/Ottendorf-Okrilla/Chemnitz taz | Annalena Baerbock wird persönlich,
wie oft bei ihren Auftritten. Sie erzählt, wie kurz nach dem russischen
Überfall junge Leute aus Russland, Belarus und der Ukraine bei einem
Treffen gemeinsam geweint und sich in den Armen gelegen hätten, „ich auch“.
Wie ein ukrainisches Flüchtlingskind sie gebeten habe, dem ukrainischen
Präsidenten Wolodimir Selenski zu sagen: „Ich will meinen Papa
wiederhaben.“ Der Vater kämpfe im Krieg. Und wie der Leiter eines
ukrainischen Waisenhauses ihr berichtete, dass russische Soldaten Kinder
verschleppt hätten: „Sie nahmen neun Kinder einfach mit.“
Konkrete Beispiele mit persönlichem Bezug helfen, das Publikum für sich
einzunehmen, das gehört zum Einmaleins der politischen Kommunikation. Und
dass dieser Freitagabend für sie kein Heimspiel wird, davon dürfte Baerbock
fest ausgegangen sein. Im weißen Kleid sitzt die grüne Außenministerin auf
der Bühne im „Kraftverkehr“, einem Veranstaltungszentrum in Chemnitz. In
jener Stadt in Sachsen also, in der [1][2018 nach rechtsextremen
Ausschreitungen ein „Schweigemarsch“ der AfD durch die Stadt zog], bei der
von harten Neonazis bis zum vermeintlich braven Bürger alles
mitmarschierte.
Neben Baerbock hat Ex-Boxprofi Wladimir Klitschko Platz genommen,
[2][dessen Bruder Vitali Bürgermeister von Kiew ist]. Die Regionalzeitung
Freie Presse hat zur „Leser-Debatte“ geladen. Das Interesse war riesig, die
Zeitung hat die 280 Plätze nach eigenen Angaben verlost.
Erste Frage an Baerbock: Wie gehe sie damit um, dass die Skepsis wegen des
Ukrainekriegs im Osten deutlich größer als im Westen ist? Ein emotionales
Thema sei der Krieg für alle, sagt die Ministerin. Vor ein paar Stunden, an
der deutsch-tschechischen Grenze, sei sie als „Kriegstreiberin“ beschimpft
worden. Aber: „Niemand wollte diesen Krieg. Einer hat ihn vom Zaun
gebrochen und wir tun jeden Tag alles dafür, dass die Menschen in der
Ukraine wieder in Frieden leben können.“ Der große Teil des Publikums
klatscht.
So geht es weiter. Anderthalb Stunden lang keine aufgebrachten
Zwischenrufe, kein Pfeifen, keine Pöbelei. Stattdessen Applaus. Zwar gibt
es einige Zuschauer, die demonstrativ kopfschüttelnd die Arme vor der Brust
verschränken. Aber sie schweigen. Die wenigen Fragen, die die
Moderator*innen aus dem Publikum zulassen, bleiben sachlich. Der erste
Leser sagt gar: „Verzeihen Sie uns, dass es so viele Irre gibt in dieser
Stadt, die mit Russlandfahnen rumlaufen.“ Da applaudieren sehr viele im
Saal.
Diese „Irren“ allerdings stehen auch vor der Tür. Zur Demonstration der
rechtsextremen [3][Freien Sachsen] sind laut Polizei 400 Leute gekommen.
Auch „Kriegstreiberin“ wurde aus einer kleinen Gruppe Freier Sachsen
gerufen.
Baerbock ist für zwei Tage auf Sommertour in Sachsen, Wirtschaftsminister
Robert Habeck gleichzeitig auch, abgesprochen war das anfangs nicht. Im
ehemaligen Dreamteam der Grünen kämpft jeder für sich. Nach einem
gemeinsamen Besuch beim Chiphersteller Infineon in Dresden, dem ersten
gemeinsamen Termin dieser Art, seitdem die Grünen an der Regierung
beteiligt sind, trennen sich die Wege. Doch die Erfolgsstory von Infineon,
die nehmen beide mit.
Das Werk in Dresden wird deutlich erweitert, von 2026 an sollen hier
Leistungshalbleiter produziert werden, die vor allem der Dekarbonisierung
und Digitalisierung dienen. Tausend neue Arbeitsplätze soll das bringen,
der Bund hat 1 Milliarde Euro Förderung zugesagt.
Die grüne Spitze will im Osten mehr Präsenz zeigen. [4][Als die Partei im
Mai den Zusammenschluss von Bündnis 90 mit den Grünen vor 30 Jahren in
Leipzig festlich beging], forderte die Basis Unterstützung vor Ort. Nicht
nur Habeck und Baerbock reisen derzeit durch Sachsen, auch
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ist unterwegs, ein Besuch
von Fraktionschefin Katharina Dröge ist angekündigt. Die Zustimmungswerte
der Grünen sind nach dem [5][Streit über das Heizungsgesetz] bundesweit
abgesackt, Habeck hat enorm an Beliebtheit eingebüßt. In Ostdeutschland
aber, wo die Grünen schon immer zu kämpfen haben, ist die Lage besonders
prekär.
Das Heizungsgesetz hat nach Baerbock nun auch Habeck hier mancherorts zu
einer Hassfigur gemacht, die AfD hat die Grünen schon lange als Feind
markiert, von den Freien Sachsen ganz zu schweigen. [6][Dass CDU-Chef
Friedrich Merz die Partei zum Hauptgegner erklärte] und Sachsens
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ihm beipflichtete, obwohl er mit
den Grünen regiert, dürfte die Sache nicht besser machen.
Doch der Streit über das Heizungsgesetz hat nicht nur die Grünen in
Umfragen Prozente gekostet, er hat auch zum neuen [7][Auftrieb für die AfD]
beigetragen. Bundesweit steht die extrem rechte Partei bei 20 Prozent, bei
der Landtagswahl im kommenden Jahr könnte sie in Sachsen, aber auch in
[8][Thüringen] und Brandenburg, stärkste Kraft werden. Die sächsischen
Grünen holten bei der Landtagswahl 2019 gerade 8,6 Prozent, das sind zwölf
Sitze.
„Die Debatte um Klimaschutz ist zu einem Thema der Spaltung geworden, das
wurde auch so gespielt“, sagt Habeck. „Aber das war mal anders.“ Es habe
einen breiten Konsens in der Mitte der demokratischen Parteien gegeben,
dahin müsse man zurück.
Habeck will Unternehmen besuchen, die für die Transformation wichtig sind.
Hier in Sachsen, dem wirtschaftlich stärksten der ostdeutschen Länder, sind
das neben Infineon ein Dachdeckerbetrieb und ein Maschinenbauer,
Weltmarktführer für Windrad- und Getriebeteile. Als Habecks Tross dort
ankommt, geht es zu einem Nebeneingang. Vor dem Haupttor stehen knapp 20
Demonstrant*innen und brüllen, auch hier hin haben die Freien Sachsen
mobilisiert. Ein Gespräch mit Unternehmer*innen bei der Industrie- und
Handelskammer steht ebenfalls auf Habecks Programm, dahin darf die Presse
aber nicht mit. Ein anvisierter Bürgerdialog fällt wegen Zeitmangels flach.
In den Unternehmen geht es um das Heizungsgesetz und hohe Energiepreise, um
fehlende Azubis und zu viel Bürokratie. Die hohen Zustimmungswerte für die
AfD sind dabei der Elefant im Raum, den niemand anspricht. Jochen Hanebeck,
der Vorstandschef von Infineon, betont den großen Bedarf an
[9][Fachkräften] für sein Unternehmen. Als Habeck den Maschinenbauer
Flender in Penig besucht, werden ihm flugs zwei Mitarbeiter aus der Ukraine
vorgestellt. Und beim Dachdeckerbetrieb Dittrich in Ottendorf-Okrilla
betont der Juniorchef, dass die Firma für „Freiheit, Demokratie und offenen
Meinungsaustausch“ stehe. Der Familienbetrieb sei 1905 gegründet worden und
habe die „DDR-Diktatur“ überlebt. Jetzt führe ihn die Familie in der
fünften Generation. Das alles darf man wohl auch als Statements verstehen.
## Lob für Habeck
Wenig später steht Habeck in der Lehrlingswerkstatt vor einem
Übungsdachstuhl mit ein paar Tonziegeln dran, an denen er sich später
versuchen darf. Daneben: Jörg Dittrich, der Chef. Der Dachdeckermeister ist
zudem Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Was er sagt,
ist also auch jenseits seines Betriebs von Bedeutung. Dittrich fordert mehr
Wertschätzung für die berufliche Bildung und dass der Bund da nicht kürze:
„Dachdecker, einer von 30 klimarelevanten Berufen, in diesen Berufen
arbeiten 3,1 Millionen Beschäftigte in ungefähr 490.000 Betrieben. All
diese Betriebe brauchen Leute.“
Die Stimmung sei negativ, die Gesellschaft durch die vielen Krisen
erschöpft. Dazu kämen starke Veränderungen wie durch das Heizungsgesetz.
„Die Zeit der Diskussion war zu kurz“, fährt der Handwerkspräsident fort.
Er sagt aber auch, dass er nicht einer Partei die Schuld gebe, und: „Das
Ergebnis ist für das Handwerk tragbar.“ Die Kunden seien noch verunsichert,
aber er hoffe, diese Phase sei bald durch. Dann ist der Minister dran, er
bedankt sich überschwänglich. Die Ausführungen zur Familiengeschichte des
Unternehmens seien, und „das meine ich von ganzem Herzen“, ergreifend und
auch politisch gewesen, sagt Habeck ganz habecklike. So hätten sie
miterklärt, warum eine gesellschaftliche Unruhe und Skepsis auch aus einer
geschichtlichen Erfahrung entstehe. Er betont, die Politik habe den
Stellenwert des Handwerks begriffen, und verspricht, sich für pragmatische
Lösungen einzusetzen.
Am Rande in der Werkstatt steht [10][Kassem Taher Saleh], Bauingenieur und
Bundestagsabgeordneter der Grünen aus Dresden. „Der Besuch von Robert ist
gigantisch“, sagt er. Auch dass die anderen aus der grünen Spitze nach
Sachsen kommen, sei sehr wichtig. „Wir haben Probleme beim Mobilisieren der
Mitglieder.“ 3.500 Sächs*innen sind bei den Grünen. Das ist gut im
Vergleich zu den anderen ostdeutschen Landesverbänden und liegt auch an
Dresden und Leipzig, den großen Städten. Doch angesichts der
gesellschaftlichen Stimmung ist es besonders auf dem Land schwer, Leute zu
finden, die sich engagieren. Und wer kandidiert schon gern, wenn sich am
Laternenpfahl Plakate finden, auf denen [11][„Hängt die Grünen“] steht?
„Dass Robert sich auf Erfahrungen aus Ostdeutschland bezogen hat, nehmen
die Leute hier wahr“, meint Taher Saleh. Er ist im Irak geboren und in
Plauen aufgewachsen, im Bundestagswahlkampf ist er bedroht und mit Eiern
beworfen worden, zweimal wurde er fast geschlagen. Abhalten lässt er sich
davon nicht. „Wir müssen da volle Kanne raus, knallhart unsere Standpunkte
verteidigen“, sagt er. Natürlich gebe es Vorurteile, aber wenn man auf die
Leute zugehe und mit ihnen rede, ende es oft positiv. „Zwei Punkte sind
wichtig: Identifikation und Stolz. Ich bin von hier und ich stelle einen
positiven Bezug dazu her. Wenn das geklärt ist, kann man inhaltlich
debattieren. Manchmal jedenfalls.“
Die gesamte Führungsspitze der Grünen, Göring-Eckardt und die
Umweltministerin Steffi Lemke einmal ausgenommen, stammt aus dem Westen.
16 Jul 2023
## LINKS
[1] /Nach-rechten-Demos-in-Chemnitz/!5533023
[2] /Druck-auf-Kyjiws-Buergermeister-Klitschko/!5936095
[3] /Protest-gegen-Gefluechtete-in-Sachsen/!5913083
[4] /30-Jahre-Buendnis-90/Die-Gruenen/!5932563
[5] /Bundesverfassungsgericht-greift-ein/!5945688
[6] /Friedrich-Merz-im-Kulturkampf/!5941492
[7] /AfD-Experte-Hillje-ueber-Umfragehoch/!5939597
[8] /AfD-Landrat-in-Sonneberg/!5943596
[9] /Studie-zu-Einwanderung-nach-Deutschland/!5945834
[10] /Gruene-Politik-im-Alltag/!5893462
[11] /Plakate-der-Nazi-Partei-III-Weg/!5797791
## AUTOREN
Sabine am Orde
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