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# taz.de -- Politologin über soziale Kipppunkte: „Nicht alle wollen Vorreite…
> Solaranlagen waren erst Öko-Schnickschnack, dann Statussymbol. Isabelle
> Stadelmann-Steffen forscht zu solchen sozialen Kipppunkten und ihrer
> Bedeutung fürs Klima.
Bild: Das Überschreiten eines Schwellenwertes kann unumkehrbare Veränderungen…
Vor fast fünf Jahren, am 20. August 2018, [1][trat ein 15-jähriges Mädchen
mit einem Plakat vor den Schwedischen Reichstag] in Stockholm. Darauf in
großen schwarzen Lettern: „Skolstrejk för Klimatet“. Ein Jahr später
schlossen sich diesem Aufruf weltweit über vier Millionen Menschen an und
gingen für das Klima auf die Straße. Drei Worte, die die Welt nachhaltig
veränderten. Ein Kipppunkt?
Eigentlich ist das ein Schlüsselkonzept in der Erforschung der Klimakrise:
Das Überschreiten eines Schwellenwertes kann unumkehrbare Veränderungen
anstoßen, wie ein Dominostein. Das System kippt und verliert seinen
stabilen Zustand: [2][Eine Erwärmung um wenige Zehntelgrad könnte die
Heimat von Milliarden von Menschen unbewohnbar machen], Millionen von Tier-
und Pflanzenarten könnten aussterben.
Aber auch sozialer Wandel lässt sich mit solchen Dynamiken beschreiben.
wochentaz: Frau Stadelmann-Steffen, können soziale Kipppunkte den Kampf
gegen die Klimakrise beschleunigen?
Stadelmann-Steffen: Mit den sozialen Kipppunkten haben wir ein Konzept, das
vielleicht so gut wie kein anderes die Art von Veränderung beschreibt, die
wir bei der Reduzierung von Treibhausgasen brauchen: Es muss extrem schnell
gehen, fundamental sein und deshalb etwas Nichtlineares beinhalten.
Das bedeutet, vereinfacht ausgedrückt, dass auch anfänglich langsame
Veränderungen Fahrt aufnehmen können.
Genau. Nicht alle wollen Vorreiter sein: Selbst wenn zunächst nur eine
Minderheit ihr Verhalten ändert, kann dies eine Eigendynamik auslösen.
Andere bemerken dann, dass sich allmählich eine Norm ändert, und möchten
nicht außen vor bleiben.
Eine Erderwärmung um 1,5 bis 2 Grad führt wahrscheinlich dazu, dass die
Eisschilde über Grönland oder der Antarktis unaufhaltsam tauen. Der
Meeresspiegel wird dadurch ansteigen und könnte die globalen
Wasserbewegungen verändern. Solche Kipppunkte sind vor allem aus der
Klimaforschung bekannt. Die Idee kommt aber ursprünglich woanders her.
Tatsächlich verwendeten Sozialwissenschaftler das Konzept bereits in den
1950er Jahren, um die Segregation in US-amerikanischen Nachbarschaften zu
erklären. In vielen Fällen begann die weiße Mehrheitsbevölkerung,
massenweise wegzuziehen, sobald eine Nachbarschaft zu etwa 20 bis 30
Prozent aus ethnischen Minderheiten bestand.
Braucht man für radikale Veränderungen also gar keine Mehrheiten, sondern
nur eine kritische Masse?
Die Beschleunigungseffekte, die für Kipppunkte wichtig sind, treten oft bei
deutlich weniger als 50 Prozent ein. In diesem Sinne könnte man
argumentieren, dass für das Auslösen eines Kipppunkts keine Mehrheiten
erforderlich sind. Für das eigentliche Kippen ist es aber anders: Radikale
Veränderungen sind schlussendlich ohne Mehrheiten nicht möglich.
Wie unterscheiden sich gesellschaftliche Kippelemente von jenen im
Erdklima?
Ein Hauptunterschied liegt in der wesentlich höheren Komplexität von
Gesellschaften. Sie unterliegen keinen physikalischen Gesetzen, sondern
bestehen aus verschiedenen Akteuren, die nach eigenen Interessen und Normen
handeln, oft ist das schwer voraussagbar. Je größer das betrachtete soziale
System ist, desto komplizierter wird es. Daher ist es fast unmöglich, ein
globales Modell für soziale Kipppunkte zu entwickeln.
Haben Sie deshalb vorgeschlagen, nicht von sozialen Kipppunkten zu
sprechen, sondern von Kippdynamiken?
Damit würden wir zumindest sprachlich anerkennen, dass es im Bezug auf
gesellschaftliche Veränderungen eben nicht diesen einen Tropfen gibt, der
das Fass zum Überlaufen bringt. Es sind immer verschiedene Dynamiken, die
zusammenwirken.
Welche sind das?
Laut unserem Ansatz müssen in den Bereichen Technologie, Politik und
Gesellschaft Veränderungen stattfinden, um einen sozialen Kipppunkt zu
erreichen. Erst wenn in allen drei Bereichen der Schalter umgelegt wird,
kommt es in den meisten Fällen zu den exponentiellen Veränderungen, die das
Kippen ausmachen.
Das bedeutet auch: Es geht nicht um eine Entweder-oder-Situation, bei der
wir uns entscheiden müssen, ob wir neue Technologien, politische Verbote
oder individuelles Verhalten ändern wollen. Um klimaneutral zu werden,
benötigen wir alle drei Bereiche.
Bedenkt man, wie lange Frauen für ihr Wahlrecht kämpfen mussten, oder wie
lange es dauerte, bis in den USA die Rassentrennung aufgehoben wurde, dann
zeigt sich, dass das Kippen zwar schnell gehen kann, es aber viel Zeit
braucht, bis die Gesellschaft überhaupt an diesen Punkt kommt. Ist sozialer
Wandel also zu träge?
Soziales Kippen ist derzeit recht selten. Aber genau deshalb ist es
wichtig, genauer hinzusehen und zu fragen: Wo und unter welchen Bedingungen
kann es plötzlich zu einer neuen Mehrheit kommen für drastische Maßnahmen
wie einen [3][Kohleausstieg], Nuklearausstieg oder Verbote gewisser
Technologien? Es ist schwer vorherzusagen, wann genau die richtige
Kombination in den verschiedenen Bereichen gegeben ist.
Ein Positivbeispiel ist die Solarwende in Deutschland. Anfang der
Nullerjahre haben oft ganz wenige Solaranlagen in einer Straße dazu
geführt, dass Nachbarn sich auch Module installierten. Unterschätzen wir
die Kraft lokaler Veränderung in der globalen Klimakrise?
Es ist entscheidend, auf welcher Ebene wir die Kippdynamiken betrachten:
Geht es um regionale Veränderungen oder weltweite Umbrüche? Vor allem für
Erstere können Nachbarschaftseffekte eine treibende Kraft sein. Schließlich
möchte niemand derjenige sein, der nicht mitmacht, und mit einer
Solaranlage auf dem Dach kann man das auch zeigen.
Jetzt steht die Wärmewende an. Glauben Sie, da können wir auf ähnliche
Effekte bauen?
Ich denke, dass die Solarwende in dieser Hinsicht einfacher war, denn
gerade durch die großzügigen Förderprogramme konnten
[4][Hausbesitzer:innen mit eigenen Anlagen auf dem Dach] über den
eigenen Bedarf hinaus Geld verdienen. Außerdem ist der gesellschaftliche
Nutzen offensichtlich: Ich produziere nicht nur für mich, sondern auch noch
für andere Strom.
Das erleichtert soziale Ansteckungseffekte. Heizungen hingegen sieht man
viel weniger und die finanziellen Anreize sind auch weniger offensichtlich;
gerade ein Heizungsersatz ist teuer. Deshalb ist die Wärmewende sicher ein
noch besseres Beispiel, dass es Veränderungen in allen drei Sphären
braucht, auch in der politischen.
Ist das neue Heizungsgesetz also ein richtiger Schritt?
Ja, das wäre mein Argument im Sinne des Kipppunkt-Ansatzes: Ohne Vorgaben
und Verbote geht die Veränderung wohl nicht schnell genug voran.
Sie forschen zur Energiewende in der Schweiz. Ist es dort leichter,
Kippdynamiken in Gang zu setzen?
In Deutschland ist es viel einfacher, großangelegte Subventionsprogramme
aufzuziehen, wie die Förderung von Wind- und Solarstrom. Auch die Änderung
der Rahmenbedingungen ist einfacher, wie eben der Atom- und Kohleausstieg,
weil die Regierung solche Entscheide im Wesentlichen selbstständig treffen
kann.
Diese großen Veränderungen sind in einer direkten Demokratie wie der
Schweiz viel schwieriger umzusetzen. Auf der anderen Seite gelingt die
Wärmewende in der Schweiz vielleicht [5][leichter als in Deutschland], weil
sie stärker auf das Individuum zielt und hier eine Kultur der
Selbstverantwortung verbreiteter ist.
Das Konzept der sozialen Kipppunkte wird auch kritisiert. Eine ihrer
Kolleginnen nannte es eine Rettungsleine, an die sich
Wissen-schaftler:innen aus Angst vor der Klimakrise klammern.
Ich teile die Ansicht, dass das Konzept zu einer bloßen Metapher verkommen
könnte. Dennoch finde ich es hilfreich. Wenn wir uns etwa Umfragen
anschauen zur Unterstützung politischer Maßnahmen, lernen wir, dass uns
eine leichte Zunahme in der Akzeptanz von 20 auf 25 Prozent vielleicht
nicht besonders interessiert. Anders ist das, wenn damit die Schwelle von
50 Prozent überschritten wird, also eine politische Mehrheit entsteht.
Daher sollten wir genau zu solchen Schwellenwerten forschen.
## Wo hat gesellschaftlicher Wandel schon funktioniert? Drei Beispiele
1. Der Schock: Kehrtwende in der Atompolitik
Am 11. März 2011 forderte ein Seebeben in Japan Zehntausende Menschenleben.
Und der Tsunami beschädigte das an der Küste errichtete Kernkraftwerk
Fukushima Daiichi. Es kam zur Kernschmelze. Nur wenige Tage nach dieser
Katastrophe beschloss die Koalition aus CDU und FDP den [6][Ausstieg aus
der Atomenergie]. Eine Kehrtwende: Denn noch wenige Monate zuvor hatte sich
dieselbe Regierung für Kernkraft als Stromquelle ausgesprochen.
Christina Eder vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim
und Isabelle Stadelmann-Steffen von der Universität Bern betonen, dass der
externe Schock zum Kippen in der damaligen politischen Regierung führte.
Doch warum hat Fukushima in Deutschland einen Atomausstieg bewirkt, in
anderen Ländern wie der Schweiz nicht?
Die beiden Forscherinnen erklären, dass Deutschland bereits zuvor in einem
„kritischen Zustand“ war, sich also bereits nahe an einem Kipppunkt in
Richtung Atomausstieg befand. Maßgeblich verantwortlich dafür waren die
jahrzehntelangen Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung. Mit [7][Winfried
Kretschmann] stellten die Grünen 2011 zudem ihren ersten
Ministerpräsidenten. Der Reaktorunfall in Japan erwies sich somit als der
entscheidende Auslöser in einer Entwicklung, die bereits länger in Gang
war. In der Schweiz hingegen war die Bevölkerung deutlich gespaltener:
zwischen 1984 und 2016 entschied sie sich in sechs Abstimmungen gegen einen
Atomausstieg.
2. Der Trend: Solarwende in Deutschland
Eigentlich ist Deutschland alles andere als sonnenverwöhnt. Dennoch war die
Bundesrepublik 2009 mit Abstand Spitzenreiter in Bezug auf die weltweit pro
Kopf installierte Photovoltaik-Leistung. Möglich machte das eine
[8][progressive Finanzierungspolitik] um die Jahrtausendwende: Der Staat
zahlte Geld für den produzierten Strom und vergab günstige Kredite.
Es gab aber noch einen weiteren Treiber. Fachleute bezeichnen ihn als
soziale Ansteckung. Wie Analysen des Volkswirts Johannes Rode von der TU
Darmstadt zeigen, erhöhte sich mit jeder Installation die
Wahrscheinlichkeit, dass in der Nachbarschaft weitere Anlagen auf Haus und
Garagendächer gebaut wurden. Diese Nacheifereffekte addierten sich so weit,
dass Hotspots entstanden, in denen besonders viele Solaranlagen installiert
wurden.
Ist eine kritische Masse erreicht, kippt möglicherweise eine
Verhaltensnorm: Anstatt sich als Außenseiter zu fühlen, wenn man sich
Solarmodule auf das Dach bauen lässt, empfindet man sich nun als
Sonderling, wenn man es nicht tut. So erklärt es der Soziologe Damon
Centola von der University of Pennsylvania. [9][Photovoltaik-Anlagen
verwandelten sich vom Spielzeug für Ökos und Nerds zum „Mercedes-Benz auf
dem Dach“], wie Forscher feststellten.
Trotz der hohen Ansteckungsgefahr brach die Infektionskette jäh ab: Ab 2010
wurden die Finanzierungshilfen für Photovoltaik von der Bundesregierung
gekürzt und für den eingespeisten Strom wurde weniger gezahlt. Der Ausbau
der Solarenergie wurde so stark verlangsamt.
3. Der Deal: Ein weltweites FCKW-Verbot
Viel Macht in wenigen Händen – normalerweise kein vielversprechender Beginn
einer Geschichte. Doch manchmal bietet sich so auch ein wirksamer Hebel für
tiefgreifende Veränderungen. So etwa beim Verbot der
Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW): Als der Weltmarktführer Dupont seine
Blockadehaltung aufgab, ging alles ganz schnell. Aber der Reihe nach.
In den 1970er Jahren wurde bekannt, dass das Kühlmittel die Ozonschicht
zerstörte. Zunächst übte sich die Industrie in Verharmlosung und
Ablenkmanövern. Verbraucher:innen begannen aber, auf FCKW-haltige
Produkte zu verzichten und übten Druck auf die Politik aus. Als Erstes
regte sich die US-Regierung: Sie machte Ernst und verbot die Verwendung der
Gase. Damit brockte sie dem Branchenriesen Dupont einen gewaltigen
Wettbewerbsnachteil gegenüber nicht dort ansässigen Unternehmen ein.
Mitte der 1980er Jahre entdeckten Wissenschaftler:innen das
[10][Ozonloch] über der Antarktis und damit auch das Ausmaß der Gefahr, die
von FCKW ausging. Dupont setzte sich von nun an für ein internationales
Verbot von ozonschädigenden Stoffen ein – nicht ganz uneigennützig, so
sollten auch wieder gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen geschaffen werden.
Kurz darauf, 1987 und 1988, unterzeichneten 46 Staaten das
Montreal-Protokoll. Zunächst einigten sie sich auf eine schrittweise
Reduktion und schließlich auf ein vollständiges Verbot von Substanzen, die
die Ozonschicht angreifen. Bis heute sammelten sich 198 Unterschriften
unter dem Montrealer Protokoll – das sind mehr, als die UN Mitglieder hat.
Einige Stimmen bezeichnen das Protokoll als bis dato erfolgreichstes
[11][Umweltabkommen]. Es zeigt, wie schnell globale Veränderungen
voranschreiten können. Natürlich waren die Voraussetzungen dafür günstig,
da es zügig Alternativen zu den FCKW gab. Der Erfolg des Montrealer
Protokolls verdeutlicht auch, warum es so viel herausfordernder ist, sich
auf eine gemeinsame Reduktion der Treibhausgase zu einigen. Denn ein Dupont
beim CO2-Ausstoß fehlt.
9 Jul 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Anton Benz
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