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# taz.de -- Kampf gegen Klimakatastrophe: Das Haus brennt
> Die Hitzerekorde und Waldbrände sind erst der Anfang. Doch die Politik
> tut noch immer so, als würde gegen die Klimakrise ein bisschen mehr Öko
> helfen.
Man stelle sich vor: Hinter den Bränden in der Mittelmeerregion steckt eine
klandestine russische Aktion. Und die apokalyptischen Waldbrände in Kanada
haben Brandstifter im Auftrag Chinas angefacht. Was wären die Folgen?
Man würde erregt über nationale Sicherheit reden und eine radikale
Umorientierung in Politik und Diplomatie fordern. Aufgeregte Debatten, mehr
Geld für die Bekämpfung des Problems – ja, vielleicht würde eine
„Zeitenwende“ ausgerufen. In Deutschland gäbe es angesichts der Bedrohung
einen innenpolitischen Burgfrieden und entschlossenes, schnelles Handeln.
Nichts davon geschieht derzeit in der eskalierenden Klimakrise. In der
deutschen Politik, im Europaparlament und im UN-Klimaprozess passiert
wenig. SPD, FDP und Grüne entschärfen und verzögern das Klimaschutzgesetz.
Die FDP feiert sich dafür, das Ende der fossilen Heizungen herauszuschieben
und Scheinlösungen wie Wasserstoffheizungen zu propagieren.
Der Kanzler mahnt, man dürfe beim Klimaschutz nichts überstürzen, und
Oppositionsführer Merz behauptet, es sei ja noch genug Zeit. Währenddessen
versuchen [1][seine Unionskollegen im Europaparlament mit dem „Nature
Restoration Law“ einen Eckpfeiler des Green Deal zu zerschießen]. Und
international setzen Öl- und Gasstaaten und ihre Konzerne darauf, die
Klimaziele des Pariser Abkommens in Rauch aufgehen zu lassen.
Um die von allen angemahnte 1,5-Grad-Grenze zu halten, müssen wir in
sechseinhalb Jahren die globalen Emissionen halbieren. Dafür müssen sie
jährlich um sieben Prozent sinken. Bislang sind sie fast nur gewachsen. Wie
kann man da davon sprechen, man dürfe nichts überstürzen? Das Haus brennt,
aber statt zu löschen, sollen wir erst mal abwarten?
Diese törichte Entspanntheit gelingt uns nur mit einer Fehlleistung: Wir
bilden uns ein, das gehe wieder weg. Das Gegenteil ist richtig. Was wir
jetzt erleben, ist das neue Normal. Die Extreme von Hitze, Dürren und
Wetter sind keine Ausreißer der Statistik, sondern der Anfang einer
Entwicklung, die schneller und brutaler passiert als KlimaexpertInnen
bisher vermuteten.
[2][Der Chef des Umweltbundesamtes mahnt]: „Wir sind erst bei 1,1/1,2 Grad
globaler Erwärmung. Jeder heiße Sommer, den wir jetzt erleben, wird – von
2030/40 aus betrachtet – ein kühler Sommer gewesen sein.“
Die Weigerung, nun endlich zu handeln, widerlegt auch eine geheime Hoffnung
der Klimabewegung. Wenn die Auswirkungen der Klimakrise vor allem in den
reichen Ländern direkt sichtbar und spürbar sind, so das Kalkül, dann würde
Klimaschutz zum Selbstläufer – schon aus purem Eigeninteresse. Ökoparteien
bekämen Zulauf, scharfe Gesetze würden akzeptiert, die Wirtschaft würde
Regulierung nachfragen und mit nachhaltigen Produkten Wohlstand schaffen.
Diese Rechnung geht nicht auf. Wer sich die aktuellen Hitzewellen im
Mittelmeerraum anschaut, die Waldbrände in Kanada, die New York City mit
Smog überziehen, die Überhitzung der Ozeane und die eskalierenden
Extremwetter in Indien und China, erkennt: Es gibt kein kollektives
Erwachen. Die bisher nur von Experten vorausgesagte Eskalation ist nicht
das Warnsignal, das alles ändert.
Im Gegenteil: Mit jedem neuen Hitzerekord werden die Bedrohungen für Alte
und Kranke „natürlicher“ und als normaler wahrgenommen. Wir ändern unser
Denken und Verhalten nicht – wir gewöhnen uns an die Gefahr und suchen nach
Angeboten für günstige Klimaanlagen. Am Mittelmeer ist es zu heiß für die
Ferien? Dann fahren wir eben an die Ostsee.
Die Unfähigkeit, angemessen auf die Klimakrise zu reagieren, liegt an dem
bekannten Dilemma, dass uns hier kein klar identifizierbarer Gegner
bedroht, sondern „wir alle“ das Problem schaffen. Etwas tiefer geblickt
erkennt man ein weiteres grundlegendes Problem: Die politischen Eliten
begreifen die Klimakrise nicht und versagen daher bei ihrer effektiven
Bekämpfung.
Die Erdüberhitzung ist anders als die meisten Krisen: Sie ist kumulativ.
Das Problem wird immer größer, je länger wir warten. Wir müssen daher
sofort handeln. Sie fordert jetzt Maßnahmen, die sich erst in der Zukunft
auszahlen. Sie ist global und erfordert Kooperation in einer Weltlage, die
derzeit auf Konfrontation setzt.
Und vor allem: Sie ist nur mit neuen Strukturen zu lösen, mit disruptiven
Entscheidungen. Schrittweise Lösungen, „weitermachen wie bisher, nur ein
bisschen grüner“ wären vor 20 Jahren möglich gewesen. Heute nicht mehr.
Heute kann es nicht mehr zu viel, sondern nur noch zu wenig Klimaschutz
geben.
Die Idee, dass nur noch disruptive Lösungen helfen, kommt nicht von
radikalen AktivistInnen, sondern vom Weltklimarat IPCC – einem Gremium, in
dem die Regierungen der UN-Staaten gemeinsam mit der Wissenschaft den Stand
der Dinge im Klimawandel festhalten.
Für Deutschland bedeutet dieses Disruptive ernst zu nehmen einen rasanten,
durchgreifenden Wandel des Bewusstseins von „Nicht so schlimm“ zu „Alarm�…
Ein erster kleiner Schritt dorthin wäre, dass die aktuelle
IPCC-„Zusammenfassung für Entscheidungsträger“ Pflichtlektüre für alle
politischen Mandatsträger, Aktionärsvertreter und Abiturklassen wird.
Der nächste Schritt ist: Der Bundestag beschließt, dass jedes staatliche
Handeln auf der Basis des 1,5-Grad-Pfads geschehen muss und den Klimaschutz
nicht bremsen darf. Wer das zu radikal findet, sei daran erinnert, dass
behördliches Handeln an das Recht gebunden ist. Demnach darf kein
staatliches Handeln gegen Gesetze verstoßen und kann nur auf der Grundlage
von Gesetzen geschehen. Analoges müsste für den Klimaschutz bei staatlichem
Handeln gelten. Diesen „Klima-Check“ für alle Gesetze hat die Ampel schon
[3][in ihrem Koalitionsvertrag fixiert.] Das war eine gute Idee, die
seitdem sanft vor sich hin schlummert.
Nötig wäre, dass der Kanzler eine „Zeitenwende“ in der Klimapolitik ausru…
und 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Klimasubventionen wie
Gebäudeisolierung, eine Solarpflicht für alle Dächer und Speicherforschung
lockermacht.
Weil Klimaschutzpolitik nur gemeinsam geht und jede Partei dafür
verantwortlich ist, müssten alle drei Regierungsparteien für sie
schwierige Kompromisse eingehen. Die FDP akzeptiert Tempolimit und
schuldenfinanzierte Klimahilfen, die Grünen den LNG-Ausbau und EU-Hilfen
für Atomkraft in der EU, die SPD den Kohleausstieg auch im Osten
Deutschlands 2030.
Damit endlich schnell und effizient gehandelt wird, müssen sich
Gesellschaft und Politik in Deutschland von ein paar liebgewonnenen
Erzählungen rund um Klimapolitik verabschieden. Dazu gehört das von fast
allen verbreitete bequeme Versprechen, Klimaschutz werde „nichts kosten“.
Das Gegenteil ist der Fall. Der CO2-Preis soll und muss das Verhalten von
Verbrauchern steuern und Einnahmen für Klimaschutz generieren. Es gibt kein
Menschenrecht auf Kreuzfahrten, Langstreckenflüge und Billigfleisch. Der
Staat muss umweltschädliches Verhalten besteuern, nicht subventionieren –
und über ein Klimageld diese Einnahmen sozial gerecht zurückverteilen.
Die dringend nötige disruptive Klimapolitik muss fossile Strukturen schnell
abbauen. Dabei wird es Verlierer geben. Für die muss es sozialpolitischen
Ausgleich und Weiterbildung geben. Aber die Formel, man dürfe niemand
überfordern, ist oft nur der rhetorische Kniff, um nichts zu tun oder das
Nötige zu verschleppen. Tatsächlich sind viele Menschen nach Corona,
Ukraine-Krieg und Inflation müde, immer neue Zumutungen zu hören. Aber wo
Zumutungen nötig sind, muss man sie immer wieder erklären. Und „die
Menschen“ sind beim Klima oft weiter, als „die Politik“ es ihnen zutraut.
[4][Das zeigen Bürgerräte, Umfragen und Studien.]
Auch die Ausrede, dass Klimaschutz die Wirtschaft zu sehr belaste, muss
Geschichte sein. In Deutschland ist noch keine Industrie wegen strenger
Umweltregeln pleite gegangen. Im Zweifel gab es immer mit Milliarden an
Steuergeldern vergoldete Auswege – so war es beim Atomausstieg, beim
Kohleausstieg und bei Ausnahmen vom Emissionshandel.
Wir müssen uns zudem auf das Wesen einer selbstbewussten Demokratie
zurückbesinnen. Dort bestimmt die Mehrheit, innerhalb der durch Verfassung
und Gewaltenteilung gesetzten Grenzen. Wenn eine Minderheit von 20 Prozent
gegen eine Maßnahme protestiert, darf das nicht dazu führen, dass 80
Prozent ihr Vorhaben aufgeben. Solcher Minderheitsschutz führt zur
Blockade. In anderen Bereichen werden Gesetze mit knapper Mehrheit durchs
Parlament gebracht. Nur beim Klimaschutz kommen vielen plötzlich
radikaldemokratische Skrupel.
Alle diese skizzierten Maßnahmen sind möglich. Effektive Klimapolitik ist
kein Hexenwerk, nichts Utopisches, sondern das Konkrete, das man gegen zähe
Widerstände durchsetzen muss.
Sie erfordert von Regierung und Opposition, Unternehmen und
Zivilgesellschaft die Courage, das gemütliche „Weiter so“ zu beenden. Das
Verharren im Vertrauten wird in der Klimakrise dazu führen, dass wir vieles
Vertraute schneller, brutaler und unkontrollierter verlieren, als wir es
uns vorstellen können. Brennende Urlaubsorte und Hitzewellen sind erst der
Anfang. Die jetzt nötigen Veränderungen brauchen Mut – und sei es den Mut
der Verzweiflung.
5 Aug 2023
## LINKS
[1] https://www.riffreporter.de/de/umwelt/naturschutz-biodiversitaet-restoratio…
[2] https://twitter.com/DirkMessner/status/1679891286906777606
[3] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_…
[4] https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-08/umweltbundesamt-studie-klimaschutz-u…
## AUTOREN
Bernhard Pötter
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