# taz.de -- Krawalle in Frankreich: Der Zorn aus den Vorstädten | |
> Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu | |
> Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend? | |
Bild: Clichy-sous-Bois: Hier eskalierte die Gewalt, als 2005 zwei Teenager auf … | |
PARIS/ÎLE-DE-FRANCE taz | Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer | |
der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er | |
im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um | |
sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt | |
von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter | |
schreien hört“, rappt Mari in dem Video. | |
Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune | |
Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, | |
kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste | |
[1][Opfer von Polizeigewalt in Frankreich]: Nahel Merzouk, Sohn algerischer | |
Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle | |
in Nanterre erschossen. | |
Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist | |
der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie | |
wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod | |
Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café | |
Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi | |
kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem | |
Mindestlohn einhalten. | |
## Sie wusste, dass es ihr Kind war | |
Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch | |
immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks | |
auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. | |
„Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag | |
integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: | |
„Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann | |
verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen | |
Netzwerken. | |
Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. | |
Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem | |
Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie | |
vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. | |
Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts | |
mehr.“ | |
Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen. | |
Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten | |
Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da. | |
Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. | |
„Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“ | |
Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die | |
kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ | |
seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald | |
Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen | |
Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die | |
Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben. | |
„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi. | |
Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen | |
die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu | |
finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als | |
einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese | |
ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht. | |
## Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen | |
Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag | |
kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit | |
Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit | |
nicht.“ | |
Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la | |
defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der | |
Banlieue-Bewohner. | |
Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das | |
zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen | |
für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben | |
schlechte Eltern und Delinquenten.“ | |
In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener | |
zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von | |
drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, | |
allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in | |
Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum | |
Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen | |
Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in | |
der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“ | |
Der rechtsextreme [2][Rassemblement National von Marine Le Pen] sage „schon | |
die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ | |
seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi. | |
Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben | |
bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen | |
begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie | |
zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ | |
Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie | |
gegen eine fremde Armee.“ | |
## Gefährliche Entwicklung | |
Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: | |
Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression | |
wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes | |
„geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi. | |
Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr | |
Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die | |
seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser | |
wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung | |
müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und | |
bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die | |
ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi | |
überzeugt. | |
Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um | |
die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel | |
Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen | |
Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in | |
Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese | |
Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. | |
Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“ | |
Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das | |
Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe | |
deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen. | |
Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen | |
Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten | |
von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle. | |
## Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem | |
Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder [3][Théo Luhaka von vier Polizisten der | |
Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken] angegriffen. | |
Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die | |
Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner | |
Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr | |
bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren | |
die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten | |
hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt. | |
Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre | |
– auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will. | |
Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans | |
Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht. | |
Sonst gab es nichts. | |
Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder | |
verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat | |
zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend | |
gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe | |
er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht | |
werden. | |
Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine | |
Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach | |
Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht. | |
Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem | |
Haus vorbei. Wenn sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem | |
Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“ | |
Eine Drohung? | |
„Spott.“ | |
Wie oft kommt das vor? | |
„Dauernd.“ | |
Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher | |
will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers | |
Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein | |
Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten. | |
## Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen | |
Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen | |
verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange | |
Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er | |
sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm | |
schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. | |
Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“ | |
Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von | |
Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. | |
Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen | |
Labssi und Luhaka. | |
Als Nahel Merzouk erschossen wurde, war Bakhtiari in Rom: „Die einzige | |
Woche Urlaub im Jahr.“ In der zweiten Nacht bekam er eine SMS des Präfekten | |
des Departement Seine-Saint-Denis. „Euer Rathaus und eure Lokalpolizeiwache | |
könnten gleich in Flammen aufgehen“, sagte der Präfekt. Um 1.40 Uhr in der | |
Frühe war das. | |
Seither hat Bakhtiari keine Ruhe mehr. „Die Tage fließen ineinander, ich | |
schlafe immer nur zwei Stunden pro Nacht. Meine Augenringe müssen ganz | |
schlimm sein.“ | |
Er ist Anfang 30, im blauen Slimfit-Anzug sieht er aus wie ein | |
aufstrebender Banker, er redet schnell, dabei fehlt ihm jede Kühle, | |
vielmehr verströmt er eine weiche Freundlichkeit. Sein Rathaus ist seit den | |
Krawallen geschlossen. Wer ihn sprechen will, muss ihm eine SMS schicken, | |
dann kommt eine Mitarbeiterin und schließt die Tür von innen auf. | |
In der ersten Nacht schickten Ratsleute ihm Videos: „Wir wurden an allen | |
möglichen Stellen angegriffen.“ Sieben Polizeiwagen verbrannten, das | |
Wohngeldamt, das Gebäude der Jugendsozialhilfe, ein Teil der Bibliothek, | |
eine Grundschule wurden demoliert. Im Stadtteil Fauvette brannten auch ein | |
Bistro ab, ein Optiker, das einzige Lebensmittelgeschäft, die Post, die | |
Bank mit dem einzigen Geldautomaten. „Die Randalierer leben dort und haben | |
all diese Dinge, die sie selbst brauchen, jetzt nicht mehr“, sagt | |
Bakthiari. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“ | |
In der zweiten Nacht verhängte Bakthiari eine Ausgangssperre. Außer ihm tat | |
das nur ein weiterer Bürgermeister in ganz Frankreich. „Das hat geholfen“, | |
sagt Bakthiari. „In der Nacht davor waren Gruppen von 30 bis 40 Menschen | |
unterwegs, nach der Ausgangssperre waren die Gruppen viel kleiner, die | |
Polizei konnte sie leichter in ihre Häuser zurückschicken. „Natürlich ist | |
das gegen die Freiheit, aber die Situation erforderte das.“ | |
Die vergangenen Tage brachte Bakthiari damit zu, mit Gutachtern zu | |
sprechen. Die Mediathek könne frühestens in vier Monaten wieder öffnen, das | |
Wohngeldamt nicht vor September. „Dabei sind 2.300 Menschen auf dessen | |
Leistungen angewiesen. Die Randalierer haben da ihre eigenen Akten | |
verbrannt.“ | |
Vor allem für die privaten Geschädigten sehe es schlecht aus. Vielleicht | |
zahle eine Versicherung, vielleicht auch nicht. „Aber die psychischen | |
Schäden sind da.“ | |
## Gründe, woher die Wut kommt | |
Für viele Menschen in Frankreich ist klar, wo die hinter der Zerstörung | |
stehende Wut herkommt: Stigmatisierung, Diskriminierung, sozialer | |
Ausschluss, Polizeigewalt. Bakthiari glaubt das nicht. Am Vortag war er bei | |
einem Treffen mit anderen Bürgermeistern im Élyséepalast. Dort sei auch der | |
Bürgermeister von Nanterre gewesen, ein Kommunist, der habe auch diese | |
Erklärungen für die Ausschreitungen parat gehabt. „Ich habe ihm direkt | |
widersprochen“, sagt Bakthiari. | |
Er selbst sei im Stadtteil Fauvette aufgewachsen, bis er 14 Jahre alt war. | |
„Ich kann diese Erklärungen keine Sekunde akzeptieren.“ Es gebe dort die | |
meisten Bushaltestellen, die meisten sozialen Einrichtungen, die meisten | |
Schulen, Parks, Sportanlagen. Es gebe Ärzte, die Gemeinde habe dort die | |
meisten Grünanlagen angelegt: „Es ist alles da. Man muss aufhören, nach | |
diesen Entschuldigungen zu suchen.“ | |
Seine Eltern seien 1979 aus dem Iran nach Frankreich gezogen, auch er habe | |
einen nichtfranzösischen Namen. „Das entschuldigt gar nichts.“ Er, | |
Bakthiari, habe sich trotzdem integriert. „Das hier ist mein Land.“ | |
Bakthiari glaubt an andere Ursachen für die Krawalle. Ein Grund sind aus | |
seiner Sicht die sozialen Medien. Eine andere Ursache, sagt er, sei die | |
Erziehung. „Der jüngste hier Festgenommene war 13 Jahre alt. Er wurde um | |
4.30 Uhr mit einem Molotowcocktail vor der Polizeiwache festgenommen. Was | |
macht man in dem Alter um diese Zeit auf der Straße?“ | |
Man müsse die Eltern verantwortlich machen, und wenn sie nicht in der Lage | |
seien, Verantwortung zu übernehmen, müsse man die Kinder vorübergehend zur | |
Erziehung in staatliche Einrichtungen bringen, sagt Bakthiari. | |
Dort solle es zugehen „wie in einer militärischen Einrichtung“, findet er: | |
Um 5 Uhr aufstehen, putzen, Disziplin, Respekt vor Autoritäten lernen; so | |
stellt er sich das vor. | |
Am Dienstag hatte Präsident Emmanuel Macron die Bürgermeister von 200 | |
Kommunen eingeladen, in denen es Ausschreitungen gegeben hatte. Nach drei | |
Stunden, noch bevor das Treffen endete, war Bakhtiari aus dem Élyséepalast | |
herausmarschiert und hatte in die Fernsehkameras gesagt, wie enttäuscht er | |
sei. „Macron hat bis zu dem Zeitpunkt, wo ich gegangen bin, nichts gesagt“, | |
sagt Bakhtiari. Nur die Bürgermeister hätten untereinander gesprochen. „Es | |
war wie bei einer Gruppentherapie. Alle haben sich gegenseitig erzählt, | |
dass sie übermüdet und wütend sind. Aber die Regierung hatte absolut nichts | |
vorbereitet.“ | |
Den Ausschreitungen müsse mit mehr Härte begegnet werden, glaubt er. „Das | |
waren hier nur 40 Leute, das sind 0,1 Prozent der Einwohner. Das kann doch | |
nicht sein, dass die die anderen 99,9 Prozent terrorisieren und denen Angst | |
machen.“ Und so müsse die Polizei sich mehr Respekt verschaffen, findet der | |
Bürgermeister. „Ich sage nicht, dass sie den Menschen Angst machen soll. | |
Aber es ist besser, wenn 40 Delinquenten Angst vor der Polizei haben, als | |
dass die Handvoll Straftäter 40.000 Einwohnern Angst machen.“ | |
## Urteile müssen schneller gesprochen werden | |
Gruppen hätten sich immer wieder mit Molotowcocktails dem Rathaus und der | |
Polizeiwache genähert. Für solche Fälle brauche auch die lokale Polizei | |
Drohnen. „Es heißt, die verstießen gegen das Recht auf Privatsphäre der | |
Menschen. Aber die sollen ja nicht in die Wohnungen gucken“, sagt | |
Bakhtiari. | |
Die Urteile, sagt er außerdem, müssten viel schneller gesprochen werden. | |
„Ich bin selbst Anwalt“, sagt er und zeigt hinter seinen Schreibtisch, wo | |
seine Robe hängt. „Alles muss korrekt sein. Aber schnell.“ Sonst gebe es | |
keinen Respekt vor der Justiz. | |
Das einige Kilometer nördlich gelegene Clichy-sous-Bois war lange der | |
Inbegriff explodierender Gewalt in den Pariser Banlieues. Die bis heute | |
schwersten Krawalle nahmen hier ihren Anfang, als zwei Jugendliche am 27. | |
Oktober 2005 auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen in einem | |
Trafohäuschen tödlich getroffen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas | |
Sarkozy beschuldigte sie zu Unrecht des Diebstahls. Er sprach davon, wegen | |
der über Wochen andauernden Krawalle das „Gesindel“ und den „Abschaum“ | |
(„racaille“) „wegkärchern“ zu wollen. | |
Bis heute ist das vielen unvergessen. | |
Im Zentrum von Clichy-sous-Bois stehen auch heute ausgebrannte Autowracks | |
um ein verfallenes, verbarrikadiertes Einkaufszentrum im Stadtkern. Wie | |
Kadaver liegen sie da, rostige Gerippe, Monumente der Wut. Wohnblöcke ragen | |
in den Himmel, nicht sehr hoch, grau, rostrote Fensterläden. In den 1960er | |
Jahren waren diese Gebäude ein Versprechen auf Zukunft und Wohlstand – | |
moderner Wohnraum für die Massen, die vom Land, aus den verfallenden und | |
überbevölkerten Kernstädten und aus den einstigen Kolonien in den | |
hochindustrialisierten Pariser Umlandgürtel strömten. | |
Heute sind nur wenige Menschen auf den Straßen zu sehen. Fast alle diese | |
Menschen sind Schwarz oder arabischstämmig. | |
Nach dem Tod Merzouks blieb es in Clichy-sous-Bois vergleichsweise ruhig. | |
Viele glauben, das sei das Verdienst von Mohamed Mechmache. Der Sohn | |
algerischer Einwanderer ist in Clichy-sous-Bois aufgewachsen. Am siebten | |
Tag nach Nahel Merzouks Tod steht er vor einem kleinen Kulturzentum der NGO | |
ACLEFEU, die er 2005 gründete. Im Hof parken zwei Kleinbusse, Freiwillige | |
beladen sie, am Nachmittag soll eine Familienfreizeit beginnen. Mechmache | |
steht dazwischen und telefoniert. | |
Von mehr Härte, so wie der Bürgermeister Bakhtiari sie will, hält er | |
nichts. „Die Polizeigewerkschaften wollten 2005 auch mehr Repression. Hat | |
das was geändert? Nein“, beantwortet er seine Frage sogleich selbst. Er | |
selbst habe keine Probleme mit der Polizei, sagt er – er sei, im Gegenteil, | |
im Austausch mit ihnen. „Aber viele junge Menschen sind für den Dialog | |
nicht mehr offen.“ | |
Er habe nach 2005 das Zentrum aufgebaut, weil es „eine soziale Revolte | |
gab“, sagt er. „Die Menschen wollten „soziale Gerechtigkeit und die | |
Behandlung nach gleichem Recht“. Doch bis heute gebe es Diskriminierung und | |
Stigmatisierung. „Weil man hier wohnt, wegen des Namens, der Hautfarbe. Das | |
ist schlecht für eine Anstellung oder eine Wohnung anderswo, es zerstört | |
Zukunftsperspektiven.“ | |
Seit 2005 habe seine Organisation auf diese Zustände aufmerksam gemacht. | |
„Wir haben gesagt, dass eine Zeit kommen wird, in der die Jugendlichen | |
nicht mehr diskutieren wollen, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihre Wut | |
zu artikulieren.“ Das entschuldige nichts. „Ich verurteile das, was | |
geschieht.“ Aber es gebe auch eine Verantwortung der Politik. | |
## Die Bemühungen sind nicht genug | |
ACLEFEU bietet Antigewalttrainings, eine Lebensmitteltafel, ein | |
„Antischulabbruchprojekt“. 300 Freiwillige hat Mechmache rekrutiert, er ist | |
in ganz Frankreich für seine Arbeit anerkannt. | |
Natürlich gebe es Dinge, die seit 2005 vorangekommen seien, sagt er. Die | |
Renovierung der Architektur etwa. „Das war zwingend. Die Wohnungen der | |
Menschen waren 30, 40 Jahre lang verfallen, das sind dann keine Orte mehr | |
für ein würdiges Leben.“ Zum Teil seien sie instandgesetzt worden. „Aber | |
das reicht nicht, wenn man die soziale Frage nicht beantwortet“, meint | |
Mechmache. | |
Es gebe heute mehr Infrastruktur, Schulen, ÖPNV, Kultur- und Sportanlagen | |
in der Stadt. Die Größe von Schulklassen sei teils verringert worden, um | |
bessere Förderung zu ermöglichen. | |
Aber es sei eben „nicht genug, damit auch andere Menschen hier wohnen | |
wollen“. Und solange niemand von außerhalb der Banlieues hier hin kommen | |
wolle, gebe es keine soziale Mischung. Das, ist Mechmache überzeugt, sei | |
das zugrundeliegende Problem. | |
7 Jul 2023 | |
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