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# taz.de -- Krawalle in Frankreich: Der Zorn aus den Vorstädten
> Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu
> Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?
Bild: Clichy-sous-Bois: Hier eskalierte die Gewalt, als 2005 zwei Teenager auf …
Paris/Île-de-France taz | Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer
der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er
im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um
sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt
von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter
schreien hört“, rappt Mari in dem Video.
Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune
Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte,
kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste
[1][Opfer von Polizeigewalt in Frankreich]: Nahel Merzouk, Sohn algerischer
Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle
in Nanterre erschossen.
Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist
der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie
wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod
Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café
Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi
kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem
Mindestlohn einhalten.
## Sie wusste, dass es ihr Kind war
Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch
immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks
auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi.
„Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag
integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt:
„Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann
verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen
Netzwerken.
Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben.
Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem
Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie
vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm.
Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts
mehr.“
Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.
Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten
Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.
Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi.
„Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“
Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die
kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“
seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald
Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen
Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die
Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.
„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.
Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen
die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu
finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als
einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese
ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.
## Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen
Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag
kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit
Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit
nicht.“
Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la
defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der
Banlieue-Bewohner.
Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das
zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen
für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben
schlechte Eltern und Delinquenten.“
In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener
zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von
drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das,
allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in
Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum
Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen
Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in
der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“
Der rechtsextreme [2][Rassemblement National von Marine Le Pen] sage „schon
die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“
seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.
Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben
bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen
begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie
zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“
Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie
gegen eine fremde Armee.“
## Gefährliche Entwicklung
Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt:
Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression
wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes
„geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.
Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr
Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die
seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser
wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung
müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und
bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die
ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi
überzeugt.
Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um
die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel
Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen
Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in
Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese
Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten.
Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“
Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das
Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe
deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.
Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen
Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten
von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.
## Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem
Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder [3][Théo Luhaka von vier Polizisten der
Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken] angegriffen.
Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die
Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner
Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr
bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren
die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten
hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.
Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre
– auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.
Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans
Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.
Sonst gab es nichts.
Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder
verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat
zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend
gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe
er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht
werden.
Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine
Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach
Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.
Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem
Haus vorbei. Wenn sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem
Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“
Eine Drohung?
„Spott.“
Wie oft kommt das vor?
„Dauernd.“
Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher
will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers
Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein
Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.
## Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen
Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen
verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange
Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er
sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm
schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land.
Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“
Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von
Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle.
Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen
Labssi und Luhaka.
Als Nahel Merzouk erschossen wurde, war Bakhtiari in Rom: „Die einzige
Woche Urlaub im Jahr.“ In der zweiten Nacht bekam er eine SMS des Präfekten
des Departement Seine-Saint-Denis. „Euer Rathaus und eure Lokalpolizeiwache
könnten gleich in Flammen aufgehen“, sagte der Präfekt. Um 1.40 Uhr in der
Frühe war das.
Seither hat Bakhtiari keine Ruhe mehr. „Die Tage fließen ineinander, ich
schlafe immer nur zwei Stunden pro Nacht. Meine Augenringe müssen ganz
schlimm sein.“
Er ist Anfang 30, im blauen Slimfit-Anzug sieht er aus wie ein
aufstrebender Banker, er redet schnell, dabei fehlt ihm jede Kühle,
vielmehr verströmt er eine weiche Freundlichkeit. Sein Rathaus ist seit den
Krawallen geschlossen. Wer ihn sprechen will, muss ihm eine SMS schicken,
dann kommt eine Mitarbeiterin und schließt die Tür von innen auf.
In der ersten Nacht schickten Ratsleute ihm Videos: „Wir wurden an allen
möglichen Stellen angegriffen.“ Sieben Polizeiwagen verbrannten, das
Wohngeldamt, das Gebäude der Jugendsozialhilfe, ein Teil der Bibliothek,
eine Grundschule wurden demoliert. Im Stadtteil Fauvette brannten auch ein
Bistro ab, ein Optiker, das einzige Lebensmittelgeschäft, die Post, die
Bank mit dem einzigen Geldautomaten. „Die Randalierer leben dort und haben
all diese Dinge, die sie selbst brauchen, jetzt nicht mehr“, sagt
Bakthiari. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“
In der zweiten Nacht verhängte Bakthiari eine Ausgangssperre. Außer ihm tat
das nur ein weiterer Bürgermeister in ganz Frankreich. „Das hat geholfen“,
sagt Bakthiari. „In der Nacht davor waren Gruppen von 30 bis 40 Menschen
unterwegs, nach der Ausgangssperre waren die Gruppen viel kleiner, die
Polizei konnte sie leichter in ihre Häuser zurückschicken. „Natürlich ist
das gegen die Freiheit, aber die Situation erforderte das.“
Die vergangenen Tage brachte Bakthiari damit zu, mit Gutachtern zu
sprechen. Die Mediathek könne frühestens in vier Monaten wieder öffnen, das
Wohngeldamt nicht vor September. „Dabei sind 2.300 Menschen auf dessen
Leistungen angewiesen. Die Randalierer haben da ihre eigenen Akten
verbrannt.“
Vor allem für die privaten Geschädigten sehe es schlecht aus. Vielleicht
zahle eine Versicherung, vielleicht auch nicht. „Aber die psychischen
Schäden sind da.“
## Gründe, woher die Wut kommt
Für viele Menschen in Frankreich ist klar, wo die hinter der Zerstörung
stehende Wut herkommt: Stigmatisierung, Diskriminierung, sozialer
Ausschluss, Polizeigewalt. Bakthiari glaubt das nicht. Am Vortag war er bei
einem Treffen mit anderen Bürgermeistern im Élyséepalast. Dort sei auch der
Bürgermeister von Nanterre gewesen, ein Kommunist, der habe auch diese
Erklärungen für die Ausschreitungen parat gehabt. „Ich habe ihm direkt
widersprochen“, sagt Bakthiari.
Er selbst sei im Stadtteil Fauvette aufgewachsen, bis er 14 Jahre alt war.
„Ich kann diese Erklärungen keine Sekunde akzeptieren.“ Es gebe dort die
meisten Bushaltestellen, die meisten sozialen Einrichtungen, die meisten
Schulen, Parks, Sportanlagen. Es gebe Ärzte, die Gemeinde habe dort die
meisten Grünanlagen angelegt: „Es ist alles da. Man muss aufhören, nach
diesen Entschuldigungen zu suchen.“
Seine Eltern seien 1979 aus dem Iran nach Frankreich gezogen, auch er habe
einen nichtfranzösischen Namen. „Das entschuldigt gar nichts.“ Er,
Bakthiari, habe sich trotzdem integriert. „Das hier ist mein Land.“
Bakthiari glaubt an andere Ursachen für die Krawalle. Ein Grund sind aus
seiner Sicht die sozialen Medien. Eine andere Ursache, sagt er, sei die
Erziehung. „Der jüngste hier Festgenommene war 13 Jahre alt. Er wurde um
4.30 Uhr mit einem Molotowcocktail vor der Polizeiwache festgenommen. Was
macht man in dem Alter um diese Zeit auf der Straße?“
Man müsse die Eltern verantwortlich machen, und wenn sie nicht in der Lage
seien, Verantwortung zu übernehmen, müsse man die Kinder vorübergehend zur
Erziehung in staatliche Einrichtungen bringen, sagt Bakthiari.
Dort solle es zugehen „wie in einer militärischen Einrichtung“, findet er:
Um 5 Uhr aufstehen, putzen, Disziplin, Respekt vor Autoritäten lernen; so
stellt er sich das vor.
Am Dienstag hatte Präsident Emmanuel Macron die Bürgermeister von 200
Kommunen eingeladen, in denen es Ausschreitungen gegeben hatte. Nach drei
Stunden, noch bevor das Treffen endete, war Bakhtiari aus dem Élyséepalast
herausmarschiert und hatte in die Fernsehkameras gesagt, wie enttäuscht er
sei. „Macron hat bis zu dem Zeitpunkt, wo ich gegangen bin, nichts gesagt“,
sagt Bakhtiari. Nur die Bürgermeister hätten untereinander gesprochen. „Es
war wie bei einer Gruppentherapie. Alle haben sich gegenseitig erzählt,
dass sie übermüdet und wütend sind. Aber die Regierung hatte absolut nichts
vorbereitet.“
Den Ausschreitungen müsse mit mehr Härte begegnet werden, glaubt er. „Das
waren hier nur 40 Leute, das sind 0,1 Prozent der Einwohner. Das kann doch
nicht sein, dass die die anderen 99,9 Prozent terrorisieren und denen Angst
machen.“ Und so müsse die Polizei sich mehr Respekt verschaffen, findet der
Bürgermeister. „Ich sage nicht, dass sie den Menschen Angst machen soll.
Aber es ist besser, wenn 40 Delinquenten Angst vor der Polizei haben, als
dass die Handvoll Straftäter 40.000 Einwohnern Angst machen.“
## Urteile müssen schneller gesprochen werden
Gruppen hätten sich immer wieder mit Molotowcocktails dem Rathaus und der
Polizeiwache genähert. Für solche Fälle brauche auch die lokale Polizei
Drohnen. „Es heißt, die verstießen gegen das Recht auf Privatsphäre der
Menschen. Aber die sollen ja nicht in die Wohnungen gucken“, sagt
Bakhtiari.
Die Urteile, sagt er außerdem, müssten viel schneller gesprochen werden.
„Ich bin selbst Anwalt“, sagt er und zeigt hinter seinen Schreibtisch, wo
seine Robe hängt. „Alles muss korrekt sein. Aber schnell.“ Sonst gebe es
keinen Respekt vor der Justiz.
Das einige Kilometer nördlich gelegene Clichy-sous-Bois war lange der
Inbegriff explodierender Gewalt in den Pariser Banlieues. Die bis heute
schwersten Krawalle nahmen hier ihren Anfang, als zwei Jugendliche am 27.
Oktober 2005 auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen in einem
Trafohäuschen tödlich getroffen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas
Sarkozy beschuldigte sie zu Unrecht des Diebstahls. Er sprach davon, wegen
der über Wochen andauernden Krawalle das „Gesindel“ und den „Abschaum“
(„racaille“) „wegkärchern“ zu wollen.
Bis heute ist das vielen unvergessen.
Im Zentrum von Clichy-sous-Bois stehen auch heute ausgebrannte Autowracks
um ein verfallenes, verbarrikadiertes Einkaufszentrum im Stadtkern. Wie
Kadaver liegen sie da, rostige Gerippe, Monumente der Wut. Wohnblöcke ragen
in den Himmel, nicht sehr hoch, grau, rostrote Fensterläden. In den 1960er
Jahren waren diese Gebäude ein Versprechen auf Zukunft und Wohlstand –
moderner Wohnraum für die Massen, die vom Land, aus den verfallenden und
überbevölkerten Kernstädten und aus den einstigen Kolonien in den
hochindustrialisierten Pariser Umlandgürtel strömten.
Heute sind nur wenige Menschen auf den Straßen zu sehen. Fast alle diese
Menschen sind Schwarz oder arabischstämmig.
Nach dem Tod Merzouks blieb es in Clichy-sous-Bois vergleichsweise ruhig.
Viele glauben, das sei das Verdienst von Mohamed Mechmache. Der Sohn
algerischer Einwanderer ist in Clichy-sous-Bois aufgewachsen. Am siebten
Tag nach Nahel Merzouks Tod steht er vor einem kleinen Kulturzentum der NGO
ACLEFEU, die er 2005 gründete. Im Hof parken zwei Kleinbusse, Freiwillige
beladen sie, am Nachmittag soll eine Familienfreizeit beginnen. Mechmache
steht dazwischen und telefoniert.
Von mehr Härte, so wie der Bürgermeister Bakhtiari sie will, hält er
nichts. „Die Polizeigewerkschaften wollten 2005 auch mehr Repression. Hat
das was geändert? Nein“, beantwortet er seine Frage sogleich selbst. Er
selbst habe keine Probleme mit der Polizei, sagt er – er sei, im Gegenteil,
im Austausch mit ihnen. „Aber viele junge Menschen sind für den Dialog
nicht mehr offen.“
Er habe nach 2005 das Zentrum aufgebaut, weil es „eine soziale Revolte
gab“, sagt er. „Die Menschen wollten „soziale Gerechtigkeit und die
Behandlung nach gleichem Recht“. Doch bis heute gebe es Diskriminierung und
Stigmatisierung. „Weil man hier wohnt, wegen des Namens, der Hautfarbe. Das
ist schlecht für eine Anstellung oder eine Wohnung anderswo, es zerstört
Zukunftsperspektiven.“
Seit 2005 habe seine Organisation auf diese Zustände aufmerksam gemacht.
„Wir haben gesagt, dass eine Zeit kommen wird, in der die Jugendlichen
nicht mehr diskutieren wollen, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihre Wut
zu artikulieren.“ Das entschuldige nichts. „Ich verurteile das, was
geschieht.“ Aber es gebe auch eine Verantwortung der Politik.
## Die Bemühungen sind nicht genug
ACLEFEU bietet Antigewalttrainings, eine Lebensmitteltafel, ein
„Antischulabbruchprojekt“. 300 Freiwillige hat Mechmache rekrutiert, er ist
in ganz Frankreich für seine Arbeit anerkannt.
Natürlich gebe es Dinge, die seit 2005 vorangekommen seien, sagt er. Die
Renovierung der Architektur etwa. „Das war zwingend. Die Wohnungen der
Menschen waren 30, 40 Jahre lang verfallen, das sind dann keine Orte mehr
für ein würdiges Leben.“ Zum Teil seien sie instandgesetzt worden. „Aber
das reicht nicht, wenn man die soziale Frage nicht beantwortet“, meint
Mechmache.
Es gebe heute mehr Infrastruktur, Schulen, ÖPNV, Kultur- und Sportanlagen
in der Stadt. Die Größe von Schulklassen sei teils verringert worden, um
bessere Förderung zu ermöglichen.
Aber es sei eben „nicht genug, damit auch andere Menschen hier wohnen
wollen“. Und solange niemand von außerhalb der Banlieues hier hin kommen
wolle, gebe es keine soziale Mischung. Das, ist Mechmache überzeugt, sei
das zugrundeliegende Problem.
7 Jul 2023
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## AUTOREN
Christian Jakob
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