| # taz.de -- Politologe über Unruhen in Frankreich: „Es wird einen Rechtsruck… | |
| > Die Mehrheit der Franzosen verurteilt die anhaltenden gewalttätigen | |
| > Proteste, sagt der Politologe Joseph de Weck. Den Protestierenden fehle | |
| > ein Forderungskatalog. | |
| Bild: Der Staat und seine Gewalt: Polizeiaufgebot im südfranzösischen Marseil… | |
| taz: Herr de Weck, warum eskalierten die Unruhen in Frankreich so? | |
| Joseph de Weck: Ausgangspunkt war der Mord an [1][einem 17-Jährigen durch | |
| einen Polizisten in der Pariser Banlieue]. Solche Vorstädte gibt es überall | |
| in Frankreich, sie wurden seit den 1950er Jahren hochgezogen, vor allem als | |
| Sozialwohnungen. Dort konzentriert sich die arme Bevölkerung Frankreichs – | |
| bis zu 40 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze, darunter viele | |
| Migranten und Franzosen mit Migrationshintergrund. | |
| Wie sieht die Lebensrealität dort aus? | |
| Die Menschen haben das Gefühl, von der Mehrheitsgesellschaft nicht vollends | |
| akzeptiert werden. Sie werden nicht als Franzosen gesehen, obwohl sie oft | |
| bereits in zweiter oder dritter Generation in Frankreich leben. Sie sind | |
| oft Diskriminierung im Alltagsleben ausgesetzt: etwa weil sie viel öfter | |
| kontrolliert werden von der Polizei oder weil sie geringere Chancen auf dem | |
| Arbeitsmarkt haben. | |
| Im Jahr [2][2005 starben in Clichy-sous-Bois] zwei Jugendliche mit | |
| Migrationshintergrund auf der Flucht vor Polizisten bei einem Unfall. Auch | |
| damals gab es Ausschreitungen. Hat sich seitdem nichts verändert? | |
| Im Vergleich zu 2005 ist heute die wirtschaftliche Situation deutlich | |
| besser. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute bei knapp 17 Prozent, damals | |
| lag sie bei über 23. Außerdem wurde massiv in Bildung investiert. Zum | |
| Beispiel wurde die Größe der Schulklassen in diesen Vierteln halbiert. Doch | |
| meist ist es so: Wer den sozialen Aufstieg schafft, zieht aus der Banlieue | |
| fort. Die Viertel bleiben homogen, es findet keine gesellschaftliche | |
| Durchmischung statt. | |
| Warum entzündeten sich die Proteste so intensiv, obwohl es Verbesserungen | |
| gab? | |
| Der Mord an Nahel ist kein Einzelfall. Immer wieder gibt es tödliche | |
| Polizeigewalt. In diesem Fall gibt es ein Video des Vorfalls, das in den | |
| sozialen Medien viral ging. Das wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Außerdem | |
| ist in Frankreich die Protestkultur im Allgemeinen gewalttätig. Auch bei | |
| den Protesten der Gelbwesten wurden ganze Straßenzüge verwüstet, alles kurz | |
| und klein geschlagen. Die Gelbwesten entsprachen vom äußeren Eindruck her | |
| eher der Mehrheitsgesellschaft, Staatspräsident Emmanuel Macron ging auf | |
| sie zu und nahm die Erhöhung der Benzinsteuer – Auslöser der Proteste – | |
| zurück. Auch gegen die jüngste Rentenreform gab es Proteste, die zum Teil | |
| extrem gewalttätig waren. | |
| Mit den Protesten der Gelbwesten und denen gegen die Rentenreform gab es | |
| teilweise große Solidarität in Frankreich. Ist das nun auch so? | |
| Wenn man sich aktuelle Umfragen ansieht, ist klar, dass die meisten | |
| Franzosen überhaupt kein Verständnis für diese Gewalt haben. Viele wünschen | |
| sich eine „Law and Order“-Politik, wie sie die Rechten gerade laut fordern. | |
| Das ist ein Unterschied zu den Protesten der Gelbwesten. Trotz Gewalt gab | |
| es damals ein gewisses Verständnis in der Bevölkerung. Es ist aber nicht | |
| nur die weiße Mehrheitsgesellschaft, die die Gewalt verurteilt. Gerade die | |
| Menschen in der Banlieue leiden am meisten, etwa wenn Supermärkte brennen, | |
| und Mitläufer versuchen, von der temporären Absenz des Staates zu | |
| profitieren. Die Gelbwesten plünderten und errichteten Barrikaden mit einem | |
| Forderungskatalog in der Hand. Diesmal wird auch geplündert, aber ohne ein | |
| solches Manifest. | |
| Stellen die Demonstrierenden keine Forderungen an Frankreichs Politik? | |
| Nein. Diese Debatte muss jetzt beginnen. Es gibt einzelne Bürgermeister, | |
| die das tun, etwa der von Trappes im Großraum Paris, der sagte: Wir | |
| brauchen nicht mehr Geld, sondern mehr soziale Durchmischung. Und | |
| Frankreich muss sich fragen: Wie können wir Rassismus besser begegnen? | |
| Die Rechten in Frankreich ziehen Kapital aus den Protesten, bezeichnen | |
| Migration als Quelle der Gewalt und fordern ein hartes Vorgehen. | |
| Die Ausschreitungen werden zu einem [3][größeren Rechtsrutsch in | |
| Frankreich] führen. Das ist ein sich wiederholendes Muster. Es werden aber | |
| nicht nur die Proteste immer gewalttätiger, sondern auch der sprachliche | |
| Diskurs. Die Rechten sprechen etwa von „Verwilderung“, Politiker wie Eric | |
| Zemmour befeuern das und fallen mit solchen sprachlichen | |
| Grenzüberschreitungen auf. Und zwischen dieser Eskalation und der auf den | |
| Straßen gibt es eine Verbindung. | |
| 5 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lisa Schneider | |
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