| # taz.de -- Soziologe über die Unruhen in Frankreich: „Die Polizei will Furc… | |
| > Der Soziologe Sébastien Roché hält eine Gesetzesänderung von 2017 für | |
| > eine der Ursachen der Zunahme von Polizeigewalt. Er fordert eine Reform. | |
| Bild: Ein französischer Polizist in Straßburg am 30. Juni 2023 | |
| taz: Herr Roché, ich kann mich nicht erinnern, dass in Deutschland schon | |
| mal ein Streifenpolizist bei einer banalen Verkehrskontrolle seine | |
| Dienstwaffe gezückt, geschweige denn auf einen unbewaffneten und | |
| minderjährigen Autoinsassen geschossen hätte. | |
| Sébastien Roché: Da sind Sie nicht der Einzige. Selbst in Portugal und | |
| Spanien, die ja noch nicht so lange Demokratien sind, gibt es längst nicht | |
| so viele Tote bei polizeilichen Verkehrskontrollen wie in Frankreich. | |
| Verkürzt könnte man sagen, dass es in Deutschland einen Todesfall in zehn | |
| Jahren, in Frankreich aber im Jahr 2022 einen Toten pro Monat gab. | |
| Zusammen mit den Kollegen Paul de Derff und Simon Varaine habe ich dieses | |
| Phänomen im vergangenen Jahr untersucht. Dafür haben wir uns die amtlichen | |
| Angaben zu tödlichen Schüssen von Polizisten auf Personen und Fahrzeuge der | |
| vergangenen zehn Jahre in Deutschland, Belgien und Frankreich angeschaut. | |
| Wir haben dabei bemerkt, dass in Frankreich bis 2017 praktisch nie Schüsse | |
| auf fahrende Fahrzeuge abgegeben wurden. Das hat sich mit Einführung eines | |
| neuen Gesetzes zum Einsatz von Waffen sofort geändert. | |
| Was ist das für ein Gesetz? | |
| Bis Februar 2017 waren Polizisten nur bei Notwehr befugt, ihre Waffe | |
| einzusetzen, also wenn ihr Leben oder das einer dritten Person in Gefahr | |
| war. Die Reform von 2017 gibt ihnen die Möglichkeit, die Waffe auch dann | |
| einzusetzen, wenn ihr Leben oder das von Dritten nicht bedroht ist und der | |
| mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen hat. Das | |
| heißt, der Einsatz der Waffe wird über das Recht zur Selbstverteidigung | |
| hinaus erweitert. Das wurde den Beamten Anfang März sofort mitgeteilt, und | |
| sogleich folgten die ersten tödlichen Schüsse. | |
| Die plötzliche und starke Zunahme der Todesschüsse ist also nicht eine | |
| Frage der Ausbildung, der Herkunft oder des Alters der Polizisten, denn es | |
| waren ja dieselben Beamten wie vorher. | |
| Wie soll ein Polizist seitdem entscheiden, ob er schießen darf oder nicht? | |
| Auch wenn er nicht direkt bedroht ist, kann er für sich entscheiden, der | |
| Einsatz der Waffe sei erforderlich, beispielsweise, um ein Fahrzeug zu | |
| stoppen. Das Gesetz ist diesbezüglich missverständlich, weil es einerseits | |
| erlaubt zu schießen, um eine Flucht zu verhindern. Andererseits muss laut | |
| Gesetz das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ und der „absoluten | |
| Notwendigkeit“ respektiert werden. Für den Polizisten ist der gesetzliche | |
| Rahmen damit unklar geworden. | |
| Könnte diese Rechtsunsicherheit im Fall des Polizeibeamten geltend gemacht | |
| werden, der [1][in Nanterre den 17-jährigen Nahel erschossen] hat? | |
| Dort waren die Bedingungen sicher nicht erfüllt. Präsident Macron hat sich | |
| schließlich auch entsprechend geäußert. Natürlich kann der Beamte sagen, | |
| dass er die Situation so eingeschätzt habe, dass der Jugendliche mit seinem | |
| Fahrzeug eine Gefahr darstellen könnte. Und dass er sich dann zum Schießen | |
| berechtigt gefühlt habe. Das wird bestimmt von seinem Anwalt so | |
| vorgebracht. Für die Richter wird die Auslegung eine delikate | |
| Angelegenheit. | |
| Wie steht es um Rassismus in den Reihen der Polizei? | |
| Mehrere Studien haben gezeigt, dass es ein strukturelles Problem mit | |
| Rassismus gibt. Das streitet die Regierung stets ab. Für sie handelt es | |
| sich allenfalls um individuelle Fälle. | |
| Warum sind die Beziehungen der Bevölkerung in den Vorstadtquartieren zur | |
| Polizei so schlecht? | |
| Das Vorgehen der französischen Polizei ist auf Weisung von oben zusehends | |
| aggressiver geworden. Nach den Unruhen (2005 ausgehend von | |
| Clichy-sous-Bois, Anm. der Red.) wurden ab 2007 alle Einheiten [2][mit den | |
| Gummigeschosswerfern vom Typ LBD ausgerüstet]. Sie wurden zur | |
| Standardausrüstung beim Einsatz in den Quartieren. Bei der geringsten | |
| Konfrontation wird mit den LBD geschossen. | |
| Das ist auch ein Unterschied zu den anderen europäischen Ländern. Eine | |
| Befragung von Jugendlichen mehrerer europäischer Länder über ihre | |
| Erfahrungen bei Festnahmen hat ergeben, dass sie in Frankreich dreimal | |
| häufiger über Polizeigewalt klagen. | |
| Sprechen wir da von derselben Polizeigewalt wie bei den [3][Demonstrationen | |
| der Gelbwesten] und kürzlich [4][gegen die Rentenreform]? | |
| Ja, natürlich. Unter Präsident Sarkozy kamen die LBD ab 2007 in der | |
| Banlieue zum Einsatz, zehn Jahre später werden sie gegen Ansammlungen zur | |
| Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt, was auf Englisch „Crowd | |
| management“ heißt. Der systematische Gebrauch dieser Waffen hat die Polizei | |
| verändert. Sie wurde zu einer Polizei, die Angst macht. Stellvertretend | |
| dafür sind spezielle Einheiten wie die BRAV-M oder die CRS-8. Die stehen | |
| quasi synonym für Attacken. | |
| In Deutschland gibt es diesen Slogan „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, | |
| in Frankreich würden die Polizisten nicht wünschen, dass auf ihren | |
| Fahrzeugen so etwas steht. Sie gehen davon aus, dass die Polizei wirksam | |
| ist, wenn sie Furcht einflößt. | |
| Sind Sie überrascht von der aktuellen Welle der Gewalt? Und was könnten die | |
| Behörden tun, um die Lage zu beruhigen? | |
| Ja. Solche sozialen Phänomene lassen sich nicht vorauszusagen. Obschon wir | |
| den Mechanismus kennen, nicht nur in Frankreich. Die illegitime Gewalt von | |
| Polizisten provoziert Reaktionen der Wut, die aber nicht notwendigerweise | |
| eskaliert. Die staatlichen Behörden müssen es zulassen, dass die Leute in | |
| der Öffentlichkeit gewaltlos protestieren. Das ist ein Grundrecht. | |
| Stattdessen werden derzeit Demonstrationen untersagt. | |
| Außerdem müsste die Regierung die gesetzlichen Bestimmungen für den | |
| Waffeneinsatz ändern, eine Reform der Polizei ankündigen und versprechen, | |
| das Problem mit der Brutalität und mit dem Rassismus anzupacken. Das wäre | |
| das Minimum. | |
| 3 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
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