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# taz.de -- Unruhen in Frankreich: Kugel ins Herz
> Ein Todesschuss und seine Folgen: Jedes Lager in Frankreich pflegt seine
> eigene Erzählung zu den Ereignissen der vergangenen Tage. Ein Essay.
Bild: Bilder der Gewalt: Ausgebrannte Autos im Pariser Vorort Nanterre am 30. J…
Uns Friedenshüter, uns Motorradpolizisten, er nervte uns, dieser kleine
Idiot. Sein Lächeln, seine Augen, war doch klar. Nicht mal alt genug für
den Führerschein, und dann dieses Auto, ein Mercedes, sicher gestohlen.
Papiere bitte – und er gibt Gas mit quietschenden Reifen, wofür hält er
sich, wir haben Motorräder, wir sind dafür ausgebildet; eine Drehung oder
zwei, und wir haben ihn.
Er schämt sich nicht mal, der Kleine, er bereut es nicht mal, er lacht über
uns, beleidigt uns, kein Respekt. Es gibt Schimpfworte, es gibt Grenzen,
die Wut packt uns. Wir holen die Knarre raus, damit er Angst kriegt, damit
er seinen spöttischen Blick abstellt, damit er sein Grinsen verschluckt,
damit er versteht, damit er aufhört. Angst? Ach was! Er setzt eins
obendrauf, fordert uns heraus, Hass in den Augen, Beleidigungen auf den
Lippen.
„Du kriegst ’ne Kugel in den Kopf“, sagen wir ihm. Ist ihm egal. Erneut
brettert er los, der Motor heult. Gut, stimmt, wir haben Mist gebaut, auch
wir sind überspannt. Wir wollten das nicht, ich schwöre, wir wollten das
nicht, das löste sich einfach, ein Unfall, wir hatten ihn gewarnt.
Und nun? Scheiße. Sagen wir doch, dass er auf uns losgefahren ist, ein
Krimineller, ein Verrückter, eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Behaupten
wir doch, dass er polizeibekannt war, ein Strafregister so lang wie unser
Arm. Macht nichts, unsere Vorgesetzten haben uns gedeckt wie immer, Notwehr
also und eine Klage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Aber es gibt
ein Problem. Das Handy. [1][Heutzutage hat immer jemand eins]. Das ist das
Problem. [2][Das Video von einigen Sekunden], das zeigt, wie der Junge
starb, ist viral gegangen, alles fliegt in die Luft.
## * * *
Naël, das hätte ich sein können oder du oder jeder von uns. Wir sind alle
17. Wir wissen, wie die mit uns reden, schon immer, wie die uns
erniedrigen, [3][wie die uns zehnmal am Tag kontrollieren],
Leibesvisitation, sogar direkt vor unserer Hochhaustür. Wir sind damit
aufgewachsen. Als wären wir zu viel, als hätten wir kein Recht, da zu sein.
Wir sind hier zu Hause, aber wir sind hier nicht zu Hause. Nirgends.
Die Straße gehört denen. Die mögen nichts von uns, unsere Religion nicht,
unsere Fresse nicht, unsere Hautfarbe nicht. Die jagen uns für das, was wir
sind, nicht dafür, was wir tun. Deswegen laufen wir weg, sobald wir sie
sehen. Naël, der hat ihnen standgehalten, das mochten sie nicht – aber ihm
dann gleich eine Kugel ins Herz jagen … Genau das aber haben sie getan.
Und unser Blut begann zu kochen, die Wut, etwas Wildes stieg in uns auf.
Wir sind Kinder, und wir rasteten aus. Wir wollten alles kaputtmachen, also
los. Banken, Versicherungen, Präfekturen, Polizeiwachen, alle
Autoritätsgebäude. Aber auch Rathäuser, Mediatheken, Kulturhäuser, die
Autos der Nachbarn, die Lebensmitteltafeln … Wir haben unser eigenes
Viertel zerstört, unser eigenes Fleisch gegessen, unsere eigenen
Hilfsangebote verwüstet.
„Diese Gewalt wird nach hinten losgehen“, sagen sie, und sie haben recht.
„Chaoten prügeln und plündern und nutzen die Gewalt aus“, sagen sie, und
sie haben recht. „Es gibt auch friedliche junge Bürger, die
verständlicherweise in Aufruhr sind“, sagen sie, aber ganz so ist es nicht.
Auf der einen Seite stehen wir, auf der anderen ist die Abgrenzung
schwieriger, als sie denken.
Wir sehen sie, die Plünderer, die die Apple-Stores ausräumen. Aber auch wir
haben Feuer gelegt, Polizisten vermöbelt, Steine geschmissen, uns hatte ein
unstillbarer Rachedurst im Griff, Schnauze voll; nichts, wirklich nichts
konnte uns aufhalten. Und wenn wir gestohlen haben, war es Essen, Säcke mit
Reis; wir wissen, was Elend ist. Wir sind die, denen zu viel angetan wurde.
Klar, es war auch Party dabei in unserem Aufstand, Zerstörungslust, endlich
leben wir, endlich werden wir gehört. Und es funktioniert: In Eile haben
sie den Bullen wegen Totschlags angeklagt und hinter Gitter gesteckt, sein
Handeln verurteilt, Macron persönlich nannte es „unerklärlich“,
„unentschuldbar“. Einfach, um uns zu beruhigen. Sie mussten Busse und
Straßenbahnen abstellen, Konzerte und Feste absagen. Sie denken an die
Olympischen Spiele nächstes Jahr und scheißen sich die Hosen voll.
Um uns zu besänftigen, sagen sie, dass sie in 20 Jahren über 400 Millionen
Euro investiert haben, um unser Umfeld zu verbessern, die verdreckten
Hochhäuser abzureißen und menschliche Häuser zu bauen. Stimmt, haben sie,
aber zu spät.
Wir haben zu lange gewartet. Wir werden nicht deswegen glauben, dass die
Polizei zu unserem Schutz da ist, dass wir einen vollwertigen Platz in der
Gesellschaft haben. [4][Kylian Mbappé], die Filmstars und die Kulturwelt,
die Theaterdirektoren, die Imame, die Linken, alle Gutwilligen dieses
Landes rufen uns auf, uns zu beruhigen. Das wissen wir doch, dass wir das
müssen. Aber es fällt uns schwer. Wir sind wütend. Endgültig.
## * * *
[5][Wir sind die extreme Rechte]. Die denken, sie können den Leuten Angst
machen, indem sie auf uns mit dem Finger zeigen, die können viel reden, wir
stehen an der Schwelle zur Macht – und die Bilder von Bränden und Unruhen
helfen uns bloß.
Zwei kleine Polizeiverbände trauen sich und sprechen von „wilden Horden“
und „Schädlingen“, die die öffentliche Ordnung herausfordern. Sie erklär…
sich „empört“ über die Festnahme und Anklage ihres Kollegen. „Morgen“,
fügen sie an, „treten wir in den Widerstand, und die Regierung wird sich
dessen bewusst werden müssen.“ Da gerät das „demokratische Lager“ in
Aufwallung, und die Linke spricht von Staatsgefährdung.
Sie werden von allen Seiten kritisiert und müssen ihre Erklärung
zurückziehen. Aber ihr Ziel haben sie erreicht: Sie haben es geschafft, die
Empörung an der Polizeibasis auszudrücken.
Das ist gut für uns. Für die Familie des verhafteten Polizisten wurden
400.000 Euro gesammelt, für Naëls Mutter 50.000. Da sieht man’s doch. Wir
haben immer gesagt: Gegen einen Aufstand hilft nur, ihn niederzuschlagen.
Bei den nächsten Wahlen werden wir den Nutzen aus den Ereignissen ziehen.
## * * *
Ich, Naëls Mutter, ich hatte keine zehn Kinder, ich hatte nur eins. Der
Polizist, er hat ein Arabergesicht gesehen und geschossen. Aber ich habe
nichts gegen die Polizei. Ich habe nur gegen einen etwas, gegen den, der
meinen Sohn getötet hat.
Aus dem Französischen von Dominic Johnson
Der französische Originaltext erscheint unter [6][taz.de/une-balle]
2 Jul 2023
## LINKS
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[4] /Fussballstar-bleibt-bei-Paris-SG/!5856295
[5] /Rassismus-in-Frankreichs-Parlament/!5892910
[6] /Emeute-en-France/!5944519
## AUTOREN
Selim Nassib
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